Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen

Grundriss Schopenhauer - Peter Welsen


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Funktionen jedoch sammt und sonders des Stoffs von außen bedürfen, um materielle Erkenntnisse zu liefern« (G 131; vgl. a. W I 525, W II 42 u. 211 sowie P I 95 ff. u. 106 ff.). Handelt es sich beim Apriorischen um formale Erkenntnisse bzw. formale Strukturen der Erkenntnis, die nicht in Erfahrung gründen, sondern diese ermöglichen, so bedeutet dies für Schopenhauer, daß es nicht etwa auf irgendwelche kontingenten, sondern auf die allgemeinen Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis hinausläuft. Mehr noch, Schopenhauer versichert, die apriorische Erkenntnis zeichne sich durch »absolute Allgemeingültigkeit« (W II 141), »unbedingte Gewißheit« (G 59) und »größte Notwendigkeit« (W I 106) aus, die sich grundlegend von der »approximativen« und »komparativen Allgemeinheit« (W II 103 u. 141) der empirischen Erkenntnis unterscheide. Um die entsprechenden Einsichten zu charakterisieren, gebraucht er sogar den Ausdruck »aeternae veritates« (W I 524 u. P I 57). Freilich ist diese Einschätzung nicht ganz wörtlich zu nehmen. In diesem Zusammenhang macht Schopenhauer geltend, daß die apriorische Erkenntnis in gewisser Hinsicht »aus der Erfahrung geschöpft« (P I 59) ist, und stellt fest: »Ja sogar die Apriorität eines Theils der menschlichen Erkenntniß wird von ihr [der Metaphysik] als eine gegebene Thatsache aufgefaßt, aus der sie auf den subjektiven Ursprung desselben schließt.« (W II 211 f.) Gemeint ist damit, daß die apriorischen Bedingungen der Erfahrung im Ausgang von einem kontingenten Faktum, der Tatsache der Erfahrung, erschlossen werden, so daß sie nicht absolut, sondern allenfalls relativ – d. h. im Verhältnis zu diesem Faktum – notwendig wären. Daher kann man Schopenhauer durchaus folgen, wenn er erklärt, daß bereits Kant bei seiner Untersuchung der apriorischen Strukturen der Erkenntnis auf ein empirisches Fundament rekurrierte: »Kant gieng, bei seiner Nachweisung des Unzulänglichen der vernünftigen Erkenntniß zur Ergründung des Wesens der Welt, von der Erkenntniß, als einer Thatsache, die unser Bewußtseyn liefert, aus, verfuhr also, in diesem Sinne, a posteriori.« (W II 339)

      Vergegenwärtigt man sich, daß Erkenntnis nach Schopenhauer ein erkennendes Subjekt voraussetzt, so erstaunt es nicht weiter, daß er den Ursprung der apriorischen Erkenntnis ebenfalls im Subjekt ansiedelt. Nun geht Schopenhauer jedoch einen Schritt weiter und behauptet mit Kant, daß »gerade die Apriorität dieser Erkenntnißformen […] nur auf dem subjektiven Ursprung derselben beruhen kann« (W I 525; vgl. a. P I 96 f.). Das ist so zu verstehen, daß Apriorität – nach Auffassung beider Philosophen – strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit bedeutet, diese aber nicht im Bereich der äußeren Wirklichkeit, sondern lediglich im Bereich der inneren Wirklichkeit – also des erkennenden Subjekts – angetroffen werden kann. Schopenhauer gibt dieses – von Descartes beeinflußte – Argument wie folgt wieder: »Apodiktische Gewißheit kann einer Erkenntniß freilich nur ihr Ursprung a priori geben: eben dieser aber beschränkt sie auf das bloß Formelle der Erfahrung überhaupt, indem er anzeigt, daß sie durch die subjektive Beschaffenheit des Intellekts bedingt sei.« (W II 211; vgl. a. W I 537 u. 556) Ob aber der subjektive Ursprung einer Erkenntnis ausreicht, um ihre Allgemeinheit und Notwendigkeit zu sichern, und ob diese Merkmale nicht auch Entitäten zukommen können, die keine Subjekte sind, wird weder von Kant noch von Schopenhauer eingehender diskutiert.

      Eine weitere, nicht zu unterschätzende Schwierigkeit liegt darin, daß Schopenhauer im Zuge seiner Erläuterung der apriorischen Erkenntnis immer wieder auf das Gehirn zu sprechen kommt. Dabei drückt er sich recht deutlich aus: »Transscendental ist die Philosophie, welche sich zum Bewußtseyn bringt, daß die ersten und wesentlichsten Gesetze dieser sich uns darstellenden Welt in unserm Gehirn wurzeln und dieserhalb a priori erkannt werden.« (P I 97) Anscheinend gelangt Schopenhauer deshalb zu dieser Einschätzung, weil er die Subjektivität der apriorischen Erkenntnis an deren Abhängigkeit vom Gehirn festmacht (vgl. W I 58, W II 29, 43, 60 u. 99 sowie P II 49 ff.). Nun ist das Gehirn sicherlich eine Bedingung der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis und bietet sich – im Verhältnis zu dieser – durchaus als vorgängig dar, doch kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich beim Gehirn nicht um eine formale, sondern um eine materiale – der empirischen Wirklichkeit angehörende – Entität handelt. Beinhalten die Begriffe des Apriorischen und des Transzendentalen die Unabhängigkeit von der empirischen Wirklichkeit, so fällt das Gehirn wohl kaum darunter. Ferner wird man den Funktionen des Gehirns auch keine strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit zuschreiben können.

      Es drängt sich die Frage auf, wie Schopenhauer solch eine Verwechslung unterlaufen konnte. Auf den ersten Blick scheint es tatsächlich, als setze er menschliche Subjektivität mit dem »Erkenntnißapparat[] und seiner Einrichtung (Gehirnfunktion)« (P I 59) gleich, doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß er das Problem der Erkenntnis im Ausgang von zwei unterschiedlichen, sich ergänzenden Methoden untersucht: einer transzendentalen, idealistischen und einer physiologischen, realistischen. Je nachdem, welche Perspektive er wählt, fördert er andere Aspekte des Problems zutage. Das gilt natürlich auch für die apriorische Erkenntnis, deren Grundsätze er im zweiten Band seines Hauptwerks tabellarisch darstellt: »Nun kann man diese Tafel nach Belieben betrachten entweder als eine Zusammenstellung der ewigen Grundgesetze der Welt, mithin als die Basis einer Ontologie; oder aber als ein Kapitel aus der Physiologie des Gehirns; je nachdem, ob man den realistischen, oder den idealistischen Gesichtspunkt faßt; wiewohl der zweite in letzter Instanz Recht behält.« (W II 59)3

      Vor dem Hintergrund seiner Lehre vom transzendentalen Idealismus vertritt Schopenhauer – ähnlich wie Kant – die Auffassung, die apriorische Erkenntnis habe nicht einfach nur ihren Ursprung im Subjekt, sondern gelte auch nur für das, was das Subjekt erkennen könne, also für den Bereich der Erfahrung bzw. der Erscheinung: »Denn gerade die Apriorität dieser Erkenntnißformen, da sie nur auf dem subjektiven Ursprung derselben beruhen kann, schneidet uns die Erkenntniß des Wesens an sich der Dinge auf immer ab und beschränkt uns auf eine Welt von bloßen Erscheinungen, so daß wir nicht ein Mal a posteriori, geschweige a priori, die Dinge erkennen können, wie sie an sich selbst seyn mögen.« (W I 525; vgl. a. W II 214 f. u. P I 95) Dies aber bedeutet, daß die Metaphysik nicht als apriorische Wissenschaft auftreten kann. Angesichts dieses Befundes gelangt Schopenhauer zu dem Ergebnis, sie müsse »empirische Erkenntißquellen haben« (W II 211) und nehme insofern den Rang einer »Erfahrungswissenschaft« (W II 214) ein.

      Wie bieten sich nun die apriorischen Erkenntnisse im einzelnen dar? Schopenhauer ist überzeugt, daß »der Satz vom Grunde der gemeinschaftliche Ausdruck für alle diese uns a priori bewußten Formen des Objekts ist, und daß daher Alles, was wir rein a priori wissen, nichts ist, als eben der Inhalt jenes Satzes und was aus diesem folgt, in ihm also eigentlich unsre ganze a priori gewisse Erkenntniß ausgesprochen ist« (W I 32; vgl. a. W I 112 u. 588). Dieser Satz beinhaltet zum einen, daß sich im Bewußtsein stets Subjekt und Objekt gegenüberstehen, und zum anderen, daß jedes Objekt gesetzmäßig mit einem anderen Objekt verbunden ist.4 Mit anderen Worten: Schopenhauer geht von einer apriorischen Korrelation von Subjekt und Objekt sowie von apriorischen Verbindungen der Objekte untereinander aus. Was letztere betrifft, so teilt er sie in mehrere Klassen ein, denen er unterschiedliche Formen des Satzes vom Grunde zuordnet. Es handelt sich um den Satz des zureichenden Grundes des Werdens, des Erkennens, des Seins und des Wollens. Die entsprechenden apriorischen Strukturen sind die Kategorie bzw. das Gesetz der Kausalität (vgl. G 124 u. 131, W I 32, W II 46 ff. sowie P I 106 u. 108), der »formelle Theil der Erkenntniß« (G 131), die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit (vgl. G 124 u. 131, W I 32, W II 44 ff. sowie P I 106 u. 108) sowie das Gesetz der Motivation, das lediglich eine besondere Form des Satzes vom zureichenden Grunde des Werdens darstellt (vgl. G 162). Dazu kommen die Erkenntnisse, die sich daraus ableiten lassen: die »allerersten Elemente der Naturlehre« (W II 212; vgl. a. G 60, W I 38, 86 f., 106 u. 588 sowie W II 58 ff.) sowie die Einsichten der Logik (vgl. W I 75, N 282 sowie W II 107, 141 u. 212) und Mathematik (vgl. N 282, sowie W II 107, 141 u. 212).

      Ferner glaubt Schopenhauer, daß es eine – allerdings nicht formale, sondern inhaltliche – Erkenntnis des Schönen gibt, die in gewisser Hinsicht als apriorisch zu betrachten sei: »Rein a posteriori und aus bloßer Erfahrung ist gar keine Erkenntniß des Schönen möglich: sie ist immer, wenigstens zum Theil, a priori, wiewohl von ganz anderer Art, als die uns a priori bewußten Gestaltungen des Satzes vom Grunde. Diese betreffen die allgemeine Form der Erscheinung als solcher, wie sie die Möglichkeit


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