Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen
Schopenhauer in Erwägung zieht, sind die Bosheit sowie das Mitleid. So stellt er fest: »Es giebt überhaupt nur drei Grund-Triebfedern der menschlichen Handlungen: und allein durch Erregung derselben wirken alle irgend möglichen Motive. Sie sind: a) Egoismus; der das eigene Wohl will (ist gränzenlos). b) Bosheit; die das fremde Wehe will (geht bis zur äußersten Grausamkeit). c) Mitleid; welches das fremde Wohl will (geht bis zum Edelmuth und zur Großmuth).« (E 249) Es liegt auf der Hand, daß Schopenhauer nur Handlungen, die aus dem Mitleid entspringen, als moralisch gut betrachten kann. Sie entsprechen folgender Maxime: »Neminem laede; imo omnes, quantum potes, juva.« (E 251) Die beiden Teile der Maxime verweisen – nach Schopenhauer – auf die beiden Kardinaltugenden der Gerechtigkeit und der Menschenliebe.
Die Gerechtigkeit bietet sich insofern als die »erste und recht eigentliche Kardinaltugend« (E 238) dar, als jemand, der gerecht handelt, die Bejahung des eigenen Willens angesichts des Andern auf einer ersten Stufe zurücknimmt. Dies geschieht dadurch, daß man darauf verzichtet, »dem Andern ein Leiden zu verursachen, also […] selbst Ursache fremder Schmerzen zu werden« (E 252). Damit entspricht die Gerechtigkeit dem Grundsatz neminem laede (vgl. E 253 u. 270). Schopenhauer betrachtet die Gerechtigkeit insofern als negativ, als sie lediglich darin besteht, daß man einem anderen Individuum keinen Schaden zufügt, nicht aber darin, daß man ihm darüber hinaus noch Hilfe zukommen läßt. Er spricht gelegentlich von »freier« oder »freiwilliger Gerechtigkeit« (E 231, 242 u. 248), um zu betonen, daß eine Handlung nur dann wirklich gerecht ist, wenn ihr kein egoistisches Motiv zugrunde liegt.
Während sich die Gerechtigkeit auf die Vermeidung fremden Leides beschränkt und sich in dieser Hinsicht lediglich als negativ erweist, geht die Menschenliebe einen Schritt weiter. Sie besteht darin, daß dem Anderen darüber hinaus Hilfe geleistet wird: »Der zweite Grad, in welchem […] das fremde Leiden an sich selbst und als solches unmittelbar mein Motiv wird, sondert sich von dem ersten deutlich ab, durch den positiven Charakter der daraus hervorgehenden Handlungen; indem alsdann das Mitleid nicht bloß mich abhält, den Andern zu verletzen, sondern sogar mich antreibt, ihm zu helfen.« (E 266)
Beide Kardinaltugenden setzen eine »Durchschauung des principii individuationis« (W I 492; vgl. a. W I 461 u. 468 f.) voraus, wie sie im Mitleid vorliegt. Dieses bildet nach Schopenhauer das Fundament bzw. die Grundlage der Moral. Im Gegensatz zu Kants kategorischem Imperativ handelt es sich dabei um kein formales, sondern um ein materiales Prinzip, dem eine metaphysische Einsicht zugrunde liegt. Angesichts der Tatsache, daß diese Einsicht intuitiv und nicht etwa diskursiv gewonnen wird, kann Schopenhauer das Mitleid als Gefühl einstufen. Freilich liegt im Mitleid keineswegs nur eine affektive oder emotionale Regung vor. Entscheidend ist, daß es darüber hinaus eine kognitive Komponente aufweist. Diese besteht im »Durchschauen des principii individuationis« (W I 469), mit anderen Worten, im Mitleid wird dem Menschen klar, daß er vom Anderen nicht durch eine radikale Kluft getrennt ist, sondern daß er – ebenso wie dieser – Erscheinung eines und desselben Willens als Ding an sich bzw. metaphysischen Willens ist. Daher kann sich der Mensch mit dem Anderen identifizieren, und zwar insbesondere, wenn dieser leidet. Schopenhauer betont, daß die Identifikation mit dem Anderen den Unterschied zwischen beiden Individuen nicht etwa aufhebt, sondern daß er lediglich »auf irgend eine Weise« oder »in einem gewissen Grade« (E 248) in den Hintergrund tritt: »[E]s bleibt uns gerade jeden Augenblick klar und gegenwärtig, daß Er der Leidende ist, nicht wir: und geradezu in seiner Person, nicht in unserer, fühlen wir das Leiden, zu unserer Betrübniß. Wir leiden mit ihm, also in ihm: wir fühlen seinen Schmerz als den seinen und haben nicht die Einbildung, daß es der unserige sei« (E 251).
Schopenhauer ist der Auffassung, daß die Identifizierung mit dem Anderen als einem Leidenden die einzige Triebfeder moralisch guten Handelns darstellt. Genauer gesagt motiviert das Mitleid den Handelnden dazu, die Bejahung seines eigenen Willens zurückzunehmen, um entweder dem Anderen kein Unrecht anzutun oder ihm sogar Hilfe zuteil werden zu lassen. Damit erweist sich das Mitleid als die »wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe« (E 248), ja als die »alleinige Quelle uneigennütziger Handlungen und deshalb als die wahre Basis der Moralität« (E 285).
Das Mitleid bietet sich nach Schopenhauer insofern als das »große Mysterium der Ethik, ihr Urphänomen« (E 248) dar, als es sich als Fundament bzw. Grundlage der Ethik erweist, das »zwar Alles unter ihm Begriffene und aus ihm Folgende erklärt, selbst aber unerklärt bleibt und als ein Räthsel vorliegt.« (E 301) Eine Aufklärung dieses Urphänomens kann nach Schopenhauer allein die Metaphysik leisten. Die entscheidende metaphysische Voraussetzung des Mitleids erblickt er im Gegensatz zwischen der empirischen Wirklichkeit in ihrer Vielheit und dem Willen als Ding an sich in seiner Einheit.
Zwar erklärt Schopenhauer auch im vierten Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung, er wolle keine präskriptive Ethik errichten, doch tritt dort eine Tendenz, die sich auch in den Preisschriften bemerkbar macht, besonders deutlich zutage. Es handelt sich darum, daß sich Schopenhauer über den Wert bestimmter Handlungen und Zustände äußert bzw. ihnen einen positiven oder negativen Wert zuschreibt und auf diese Weise einen Ansatz vertritt, der sich keineswegs als rein deskriptiv, sondern vielmehr als axiologisch darbietet.43 Besonders deutlich wird diese Tendenz dadurch, daß Schopenhauer nicht einfach nur die genuin moralische Qualität menschlichen Handelns untersucht, sondern dieses unter dem Aspekt der Emanzipation des Menschen von der Negativität der empirischen Wirklichkeit betrachtet und in diesem Zusammenhang geradezu vom »Heil« (W I 491 u. 495) bzw. der »Erlösung« (ebd.) des Menschen spricht. Ob der Mensch diesen Zustand erreicht oder verfehlt, hängt ganz entscheidend davon ab, wie er sich zu seinem Willen verhält. Dabei steht er vor zwei Möglichkeiten, die Schopenhauer in der Überschrift des vierten Buches seines Hauptwerkes nennt: »Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben« (W I 341).
Daß sich Schopenhauer mit der Frage der Erlösung beschäftigt, hat nicht zuletzt damit zu tun, daß er die empirische Wirklichkeit im Rahmen seiner pessimistischen Weltanschauung äußerst negativ bewertet. Nach seiner Auffassung »läßt die Welt sich nicht aus sich selbst rechtfertigen« (W II 678). Sie bietet sich vielmehr als etwas dar, was nicht sein sollte (vgl. W II 198 u. 677 f.) bzw. dessen Nichtsein seinem Dasein vorzuziehen wäre (vgl. W II 675). Mehr noch, Schopenhauer ist überzeugt, daß die Welt – und damit auch der Mensch – aus einer Schuld resultiert (vgl. W II 198). Dabei argumentiert er, daß die Wirklichkeit unter dieser Voraussetzung das Werk eines Willens sein müsse, der nicht mit Erkenntnis begabt sei: »[D]enn nur ein blinder, kein sehender Wille konnte sich selbst in die Lage versetzen, in der wir uns erblicken. Ein sehender Wille würde vielmehr bald den Ueberschlag gemacht haben, daß das Geschäft die Kosten nicht deckt« (W II 678; vgl. a. W II 667). Um den Pessimismus zu begründen, ist es – laut Schopenhauer – nicht etwa erforderlich, die positiven und die negativen Aspekte der Wirklichkeit gegeneinander aufzurechnen. Allein schon der Umstand, daß es überhaupt Übel gebe, lasse den Pessimismus angemessen erscheinen: »Im Grunde aber ist es ganz überflüssig, zu streiten, ob des Guten oder des Uebeln mehr auf der Welt sei: denn schon das bloße Daseyn des Uebels entscheidet die Sache; da dasselbe nie durch das daneben oder danach vorhandene Gute getilgt, mithin auch nicht ausgeglichen werden kann« (W II 674).
Abgesehen davon, daß Schopenhauer den Willen als erkenntnislos, mit sich selbst widerstreitend und ziellos beschreibt, hebt er hervor, daß sich das menschliche Leben insofern als negativ erweist, als es vom Leiden und der Langeweile bewegt wird, die beide zusammen dessen »letzte Bestandtheile sind« (W I 390). Den Grund des Leidens erblickt Schopenhauer in einem Mangel, der – aufgrund eines entsprechenden Wollens – als Bedürfnis erfahren wird. So stellt er fest: »Man sah ein, daß die Entbehrung, das Leiden, nicht unmittelbar und nothwendig hervorgieng aus dem Nicht-haben; sondern erst aus dem Haben-wollen und doch nicht haben; daß also dieses Haben-wollen die nothwendige Bedingung ist, unter der allein das Nicht-haben zur Entbehrung wird, und den Schmerz erzeugt.« (W I 129) Während das Leiden demnach einer Hemmung des Willens gleichkommt, bringt ihre Aufhebung den entgegengesetzten, angenehmen Zustand mit sich: »Wir nennen dann seine Hemmung durch ein Hindernis, welches sich zwischen ihn und sein einstweiliges Ziel stellt, Leiden; hingegen sein Erreichen des Ziels Befriedigung, Wohlseyn, Glück.« (W I 387) Dabei betont Schopenhauer, daß das Leiden – als der ursprüngliche,