Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen

Grundriss Schopenhauer - Peter Welsen


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in der Musik. Er weist ihr insofern eine Sonderstellung innerhalb der Künste zu, als er ihre Aufgabe nicht in der Darstellung von Ideen, sondern des Willens selbst erblickt. Diesen drückt sie unmittelbar – das heißt, ohne Vermittlung durch Ideen – aus: »Die Musik ist nämlich eine so unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens, wie die Welt selbst es ist, ja wie die Ideen es sind, deren vervielfältigte Erscheinung die Welt der einzelnen Dinge ausmacht. Die Musik ist also keineswegs, gleich den andern Künsten, das Abbild der Ideen, sondern Abbild des Willens selbst, dessen Objektität auch die Ideen sind« (W I 324). Damit kommt der Musik ein höherer Grad an Allgemeinheit zu als den anderen Künsten, die auf einzelne Ideen beschränkt sind. Sie ist, wie Schopenhauer erklärt, die »ausgedehntest[e]« (W II 534) unter den Künsten. Da die Musik mit dem Willen diejenige Instanz zum Ausdruck bringt, welche das Wesen des Menschen ausmacht und ihn letztlich bestimmt, spricht sie ihn mit einer besonderen Intensität an. Ihre Wirkung ist deshalb »sehr viel mächtiger und eindringlicher, als die der andern Künste« (W I 324).

      Freilich ist sich Schopenhauer darüber im klaren, daß der Wille als Ding an sich nicht unmittelbar zugänglich ist und daß er seine Konzeption der Musik nicht im Sinne eines strengen Beweises einsichtig machen kann. So stellt er fest: »[W]elchen Aufschluß jedoch zu beweisen, ich als wesentlich unmöglich erkenne; da er ein Verhältniß der Musik, als einer Vorstellung, zu Dem, was wesentlich nie Vorstellung seyn kann, annimmt und festsetzt, und die Musik als Nachbild eines Vorbildes, welches selbst nie unmittelbar vorgestellt werden kann, angesehn haben will.« (W I 323) Vergegenwärtigt man sich, daß auch die Philosophie das Ding an sich als das Wesen der Welt zum Gegenstand hat, so kann man nachvollziehen, daß Schopenhauer der Musik geradezu einen philosophischen Rang zuerkennt: »Musica est exercitium metaphysices occultum nescientis se philosophari animi.« (W I 332)38

      Schopenhauer beschreibt das Verhältnis der Musik zur empirischen Wirklichkeit sowie zu den Ideen, die ihr zugrunde liegen, als »Analogie« (W I 323 f., 328 f. u. 331) bzw. »Parallelismus« (W I 324 u. W II 526).39 So legt er dar, daß die einzelnen Stimmen des vierstimmigen Satzes der Stufenfolge der Ideen entsprechen (vgl. W I 324 ff. u. W II 526), und ordnet der obersten, die Melodie artikulierenden Stimme die Idee des Menschen zu (vgl. W I 326 u. W II 526). Darüber hinaus erblickt Schopenhauer in der Entwicklung von Melodie, Harmonie und Rhythmus einen Ausdruck der Bewegung des Willens zwischen Wunsch und Befriedigung bzw. Entzweiung und Versöhnung (vgl. W I 326 f. sowie W II 530, 532 u. 534). Ähnlich interpretiert er den Gegensatz von Dur und Moll: »Aber wie wundervoll ist die Wirkung von Moll und Dur! Wie erstaunlich, daß der Wechsel eines halben Tones, der Eintritt der kleinen Terz, statt der großen, uns sogleich und unausbleiblich ein banges, peinliches Gefühl aufdringt, von welchem uns das Dur wieder eben so augenblicklich erlöst.« (W I 328)

      Hält man sich vor Augen, daß die Musik auf eine Darstellung des Willens hinausläuft, so ist es nicht weiter erstaunlich, daß sich ihre Wirkung insbesondere auf die emotionale und voluntative Seite des Menschen erstreckt. So erklärt Schopenhauer: »Weil die Musik nicht, gleich allen andern Künsten, die Ideen, oder Stufen der Objektivation des Willens, sondern unmittelbar den Willen selbst darstellt; so ist hieraus auch erklärlich, daß sie auf den Willen, d. i. die Gefühle, Leidenschaften und Affekte des Hörers, unmittelbar einwirkt, so daß sie dieselben schnell erhöht, oder auch umstimmt.« (W II 527) Freilich erblickt Schopenhauer in der Musik kein Stimulans, das sich damit begnügte, den Willen zu erregen, sondern er stellt sie insofern mit den anderen Künsten auf eine Stufe, als auch sie eine Haltung des reinen Erkennens hervorrufe. Diese habe zwar die Affektionen des Willens zum Gegenstand, doch sie würden nicht unmittelbar als solche, sondern mittelbar erlebt: »Wir sehn also hier die Willensbewegungen auf das Gebiet der bloßen Vorstellung hinübergespielt, als welche der ausschließliche Schauplatz der Leistungen aller schönen Künste ist; da diese durchaus verlangen, daß der Wille selbst aus dem Spiel bleibe und wir durchweg uns als rein Erkennende verhalten. Daher dürfen die Affektionen des Willens selbst, also wirklicher Schmerz und wirkliches Behagen, nicht erregt werden, sondern nur ihre Substitute, das dem Intellekt Angemessene, als Bild der Befriedigung des Willens, und das jenem mehr oder weniger Widerstrebende, als Bild des größern oder geringern Schmerzes.« (W II 531)

       Metaphysik der Sitten

      Ähnlich wie im dritten Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung geht es Schopenhauer auch im vierten darum, auf welche Weise sich die nach seiner Auffassung als negativ zu bewertende empirische Wirklichkeit überwinden läßt. Allerdings ist der Weg, den er nun beschreibt, kein ästhetischer, sondern ein ethischer – und damit das menschliche Handeln betreffender. Aus diesem Grund stuft der Philosoph das vierte Buch des Werks als das entscheidende ein: »Der letzte Theil unserer Betrachtung kündigt sich als der ernsteste an, da er die Handlungen der Menschen betrifft, den Gegenstand, der Jeden unmittelbar angeht, Niemanden fremd oder gleichgültig seyn kann« (W I 343).

      Während im ersten und dritten Buch die Vorstellung im Vordergrund steht, ist es im zweiten und vierten der Wille. Soll dieser in ethischer Hinsicht, also in seiner Beziehung auf das menschliche Handeln, untersucht werden, so stellt sich für Schopenhauer die naheliegende Frage, wie sich der Mensch in seinem Handeln zum Willen verhält. Dabei bestehen zwei Möglichkeiten: Er kann den Willen bejahen, oder er kann ihn verneinen, und zwar im Lichte der Erkenntnis, die er von ihm gewonnen hat. Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer den Menschen als eine Objektivation des Willens betrachtet, so daß seine Erkenntnis des Willens einer Selbsterkenntnis des letzteren gleichkommt, so läßt sich nachvollziehen, warum in der Überschrift des vierten Buchs geschrieben steht: »Bei erreichter Selbsterkenntniß Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben.« (W I 341)

      Freilich äußert sich Schopenhauer nicht allein in seinem Hauptwerk zur Ethik bzw. Metaphysik der Sitten, sondern er geht auch in seinen beiden Preisschriften Ueber die Freiheit des menschlichen Willens sowie Ueber die Grundlage der Moral auf wesentliche Aspekte seiner Ethik ein. Dabei fällt auf, daß er dort den metaphysischen Kontext des Hauptwerks ebenso wie das soteriologische Grundanliegen seines Ansatzes weitgehend ausklammert. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß er sich in den Preisschriften an ein Publikum wendet, das nicht mit Die Welt als Wille und Vorstellung vertraut ist.

      Inhaltlich geht es Schopenhauer in der ersten Preisschrift darum, in welcher Hinsicht der Mensch als frei gelten kann. Er unterscheidet in diesem Zusammenhang im wesentlichen zwischen drei Arten von Freiheit: der physischen Freiheit (Handlungsfreiheit), der intellektuellen Freiheit sowie der moralischen Freiheit (Willensfreiheit). Die physische Freiheit besteht – nach seiner Auffassung – lediglich darin, daß einer Handlung kein äußeres Hindernis entgegensteht. Sie ist gegeben, wenn ein Lebewesen »nur aus seinem Willen handelt, […] wobei keine Rücksicht darauf genommen wird, was etwan auf seinen Willen selbst Einfluß haben mag.« (E 44) Schopenhauer stellt zu Recht fest, daß dieser Begriff der Freiheit »keinem Zweifel oder Kontrovers unterworfen ist« (ebd.).

      Die intellektuelle Freiheit läuft nach Schopenhauer auf eine angemessene Kenntnis der Umstände hinaus, unter denen eine Handlung ausgeführt wird. Erst wenn ein Mensch über diese Kenntnis verfügt, kann er »sich seiner Natur, d. h. dem individuellen Charakter des Menschen gemäß, entscheiden, also ungehindert, nach seinem selbsteigenen Wesen sich äußern: dann ist der Mensch intellektuell frei, d. h. seine Handlungen sind das reine Resultat der Reaktion seines Willens auf Motive« (E 139). Sind hingegen die Umstände einer Handlung nicht oder nicht hinreichend bekannt, so kann der Mangel an Wissen den Handelnden daran hindern, das zu tun, was er eigentlich tun will. Darüber hinaus legt Schopenhauer dar, daß die intellektuelle Freiheit – etwa durch Affekte oder Rausch – vermindert werden kann. Dabei führe eine Beeinträchtigung der intellektuellen Freiheit zu einer entsprechenden Modifikation der juridischen und moralischen Zurechenbarkeit.

      Die moralische Freiheit wäre laut Schopenhauer genau dann gegeben, wenn jemand in der Lage wäre, eine beliebige von mehreren möglichen Handlungen durchzuführen. Damit entspricht der Begriff der moralischen Freiheit jenem des liberum arbitrium indifferentiae: »Dieser Begriff ist übrigens der einzige deutlich bestimmte, feste und entschiedene


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