Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen
»Würde dennoch schlechterdings darauf bestanden, von Dem, was die Philosophie nur negativ, als Verneinung des Willens, ausdrücken kann, irgendwie eine positive Erkenntniß zu erlangen; so bliebe uns nichts übrig, als auf den Zustand zu verweisen, den alle Die, welche zur vollkommenen Verneinung des Willens gelangt sind, erfahren haben, und den man mit den Namen Ekstase, Entrückung, Erleuchtung, Vereinigung mit Gott u. s. w. bezeichnet hat; welcher Zustand aber nicht eigentlich Erkenntniß zu nennen ist, weil er nicht mehr die Form von Subjekt und Objekt hat, und auch übrigens nur der eigenen, nicht weiter mittheilbaren Erfahrung zugänglich ist.« (W I 506) Mit dieser Wendung erweist sich die Erlösung als Überwindung der empirischen Wirklichkeit bzw. als das Eingehen in das Nichts. Für jemanden, der diesen Schritt getan hat, sei freilich die empirische Wirklichkeit ebenfalls nichts. Dies wird durch die Worte, mit denen Schopenhauer den ersten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung beendet, besonders deutlich: »[W]as nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle Die, welche noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – Nichts.« (W I 508)
1 Daher erstaunt es nicht weiter, daß Ueber das Sehn und die Farben nicht in die Zürcher Ausgabe aufgenommen wurde. Alle drei Fassungen sind freilich in den Sämtlichen Werken abgedruckt.
2 In gewissem Sinne überschreitet Schopenhauer den Bereich der empirischen Wirklichkeit allerdings dadurch, daß er – inspiriert von Kant – dem empirischen Charakter des Menschen einen intelligiblen zur Seite stellt, den er aber nicht mit dem Ding an sich gleichsetzt.
3 Über die einzelnen Schritte der Ausarbeitung der Metaphysik des Willens in den Jahren 1813 bis 1818 berichtet Kamata. Vgl. Yasuo Kamata. Der junge Schopenhauer. Genese des Grundgedankens der Welt als Wille und Vorstellung. Freiburg / München 1988, 177 ff. – Ebenso legt Kamata in seinem Buch die Entwicklung dar, die Schopenhauer von den ersten Anfängen seines Philosophierens zur Abhandlung Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde durchläuft.
4 Diese Tendenz verstärkt sich später in der Abhandlung Ueber den Willen in der Natur (1836) sowie im zweiten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung (1844).
5 Die hinzugefügten und weggelassenen Stellen sind in den von A. Hübscher edierten Sämtlichen Werken dokumentiert. Freilich stellen diese insofern keine Ausgabe letzter Hand dar, als der Herausgeber zahlreiche Entwürfe, die Schopenhauer auf zwischen den Seiten der Handexemplare seiner Werke eingeschossenen Blättern notiert hatte, in diese integrierte, ohne zu wissen, wie ernst sie dieser letztlich gemeint hatte. Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich verdienstvoll, daß Ludger Lütkehaus bei Haffmanns eine Ausgabe letzter Hand veröffentlicht hat: Arthur Schopenhauer. Werke in fünf Bänden. Hg. v. Ludger Lütkehaus. Zürich 1988. – Besonders deutlich wird das Ausmaß von Hübschers editorischen Eingriffen bei den Parerga und Paralipomena, die in der Haffmanns-Ausgabe erheblich kürzer als in den Sämtlichen Werken ausfallen.
6 Die ab 1830 entstandenen Texte wurden, wie Hübscher in der Einleitung zum vierten Band feststellt, aufgrund knapper Finanzen nicht mehr vollständig, sondern lediglich selektiv veröffentlicht. Vgl. HN IV/1, VII.
7 Vgl. a. Urs App. Schopenhauers Kompass. Die Geburt seiner Philosophie. Rorschach / Kyoto, 2011, 59 f.
8 Vgl. a. App (2011), 58 ff.
9 Rudolf Malter. Der eine Gedanke. Hinführung zur Philosophie Arthur Schopenhauers. Darmstadt 1988, 13.
10 Die entgegengesetzte Position ließe sich – mit Kant – als »empirischer Idealismus« bezeichnen. Sie beinhaltet, daß sich innerhalb des Bereichs der Erscheinung keine Unterscheidung zwischen bloß Subjektivem einerseits und Objektivem anderseits treffen läßt, so daß alle empirische Realität bloß subjektiv wäre. Vgl. Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft. In: Werkausgabe III / IV. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1968 (im folgenden: KrV), A 376 f. u. A 491 / B 520.
11 Vgl. W I 44 f.
12 In seinen erkenntnistheoretischen Vorlesungen lehnt sich Schopenhauer hingegen eng an Kants transzendentale Ästhetik an. Vgl. Vo I, 132 ff., 141 ff. und 150 ff.
13 Zwar steht Schopenhauer dem Gedanken einer Evolution ablehnend gegenüber, aber immerhin lehrt er, daß der Erkenntnisapparat eines Lebewesens der Umwelt angepaßt ist, um das Überleben der Spezies zu gewährleisten. Vgl. W I 201 ff., N 246 ff. sowie W II 326 f., 333 u. 336.
14 Vgl. a. David W. Hamlyn. Schopenhauer. London 1980, 71: »[D]ependence on brain functions is not the same as being solely determined by brain functions.«
15 Dabei vertritt er folgende – wenig überzeugende – Auffassung: »Der Realismus führt […] nothwendig zum Materialismus.« (W II 21)
16 Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer Subjekt und Objekt als Glieder einer apriorischen Korrelation betrachtet, weist er auch die Art von Idealismus bzw. Realismus zurück, die versucht, die gesamte Wirklichkeit einseitig vom Subjekt bzw. vom Objekt her verständlich zu machen. Vgl. W I 55 f.
17 Letztlich löst Schopenhauer diese »Antinomie in unserm Erkenntnißvermögen« (W I 61) im Sinne des transzendentalen Idealismus auf. – Zeller hingegen wirft Schopenhauer vor, sich mit dieser Konstellation in einen Zirkel zu begeben. Vgl. Eduard Zeller. »Schopenhauer.« In: Volker Spierling (Hg.). Materialien zu Schopenhauers ›Die Welt als Wille und Vorstellung‹. Frankfurt a. M. 1984, 185.
18 Schopenhauer bewertet dieses Verhältnis gelegentlich als parasitär. Aus seiner Sicht ist das Gehirn »insofern ein Parasit des übrigen Organismus […], als es nicht direkt eingreift in dessen inneres Getriebe, sondern dem Zweck der Selbsterhaltung bloß dadurch dient, daß es die Verhältnisse desselben zur Außenwelt regulirt.« (W II 234; vgl. a. W II 252, 288, 302 u. 464 sowie P II 85)
19 Zeller (1984), 185.
20 Natürlich stellt sich die Frage, ob Schopenhauer damit nicht den Rahmen seines transzendentalphilosophischen Ansatzes in Richtung auf eine – empirisch argumentierende – anthropologische Erkenntnistheorie überschreitet und ob beide Betrachtungsweisen miteinander kompatibel sind.
21 Gegen diese Auffassung könnte man geltend machen, daß ein Urteil auch dann wahr sein kann, wenn es nicht oder nicht richtig begründet ist. Eine Begründung kann zu einem wahren Urteil hinzutreten, muß es aber nicht. Sie würde ihm allenfalls zu einer höheren Dignität, nicht jedoch zur Wahrheit verhelfen. Bei anderer Gelegenheit scheint Schopenhauer durchaus dem Umstand gerecht zu werden, daß die Wahrheit eines Urteils in seiner Korrespondenz zum beurteilten Sachverhalt besteht: »Folglich besteht in der Uebereinstimmung der Begriffe, also der abstrakten Vorstellung, mit dem in der anschaulichen Vorstellung Gegebenen […] die Wahrheit, und nach der Seite des Subjekts, das Wissen.« (W II 124)
22 Hinsichtlich der prinzipiellen Revidierbarkeit einer jeden Interpretation stimmen so unterschiedliche Autoren wie Schleiermacher, Dilthey und Gadamer überein. Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Hermeneutik und Kritik. Hg. und eingeleitet von Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1977, 168 u. 328, Wilhelm Dilthey. »Die Entstehung der Hermeneutik.« In: Gesammelte Schriften. Bd. V. Göttingen 1968, 336 sowie Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode. Tübingen 1960, 285.
23 Hallich spricht in diesem Zusammenhang von einem »Kohärenzkriterium« und einem »Erklärungskriterium«. Oliver Hallich. »Die Entzifferung der Welt. Schopenhauer und die mittelalterliche Allegorese.« In: Dieter Birnbacher / Andreas Lorenz / Leon Miodonski (Hg.). Schopenhauer im Kontext. Würzburg 2002, 182. Nach seiner Auffassung reichen die beiden Kriterien allerdings nicht aus, um Schopenhauers metaphysische Überlegungen zu begründen: »Da das Problem des Fehlens überzeugender Verifikationskriterien für interpretative Hypothesen in Schopenhauers Philosophie ungelöst bleibt, können willensmetaphysische Aussagen nicht als überprüfbar,