Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen

Grundriss Schopenhauer - Peter Welsen


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Schelling oder Hegel anzutreffen ist. So muß Schopenhauer trotz seines Versuchs, den Willen als Ding an sich zu erdeuten und ihm auf diese Weise kognitiv gerecht zu werden, letzten Endes einräumen: »Ein ›Erkennen der Dinge an sich‹, im strengsten Sinne des Worts, wäre demnach schon darum unmöglich, weil wo das Wesen an sich der Dinge anfängt, das Erkennen wegfällt, und alle Erkenntniß schon grundwesentlich bloß auf Erscheinungen geht.« (W II 322)

      Es kann resümiert werden, daß sich Schopenhauer insofern einer hermeneutischen Methode bedient, als er in seiner Metaphysik des Willens den Versuch unternimmt, im Zuge einer Interpretation der Welt als Vorstellung deren »Bedeutung« zu ergründen und sie mit dem Willen als dem Ding an sich gleichzusetzen. Stellt man in Rechnung, daß er diesen als blinde, irrationale Kraft betrachtet, welche dem Menschen, ohne ihm bewußt zu sein, voraus liegt und ihn eher beherrscht, als daß er sie beherrschen würde, so könnte man sagen, daß seine Hermeneutik des Willens jener Art des entlarvenden Denkens ähnelt, wie es z. B. bei Marx, Nietzsche und Freud auftritt.

       Metaphysik des Schönen

      Während Schopenhauer im ersten und zweiten Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung die Realität so beschreibt, wie sie nach seiner Auffassung ist, erläutert er im dritten und vierten, wie sie überwunden werden kann. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß er von der »moralischen Bedeutung« der Wirklichkeit überzeugt ist. So stellt er fest: »Daß die Welt bloß eine physische, keine moralische, Bedeutung habe, ist der größte, der verderblichste, der fundamentale Irrthum, die eigentliche Perversität der Gesinnung, und ist wohl im Grunde auch Das, was der Glaube als den Antichrist personificirt hat.« (P II 219) Mit anderen Worten, es geht Schopenhauer nicht einfach nur darum, wie die Welt ist, sondern auch darum, ob und wie sie sein sollte. Bliebe man bei einer bloßen Deskription stehen, wie sie die Metaphysik der Natur liefert, so käme das, wie er meint, einem »trostlosen und unmoralischen Spinozismus« (Vo I 89) gleich. Nach allem, was bisher dargelegt wurde, wäre die Welt nicht zuletzt deshalb negativ zu bewerten, weil der Wille als blinde, erkenntnislose Kraft mit sich selbst entzweit ist und weder für das individuell Seiende noch für die Wirklichkeit als Ganzes ein letztes Ziel hat: »In der That gehört Abwesenheit alles Zieles, aller Gränzen, zum Wesen des Willens an sich, der ein endloses Streben ist.« (W I 217) Unter dieser Voraussetzung ist es keineswegs erstaunlich, daß Schopenhauer zur pessimistischen Auffassung neigt, die Welt sei etwas, das letzten Endes nicht sein sollte. In diesem Sinne erklärt Schopenhauer, daß »wir über das Daseyn der Welt uns nicht zu freuen, vielmehr zu betrüben haben; – daß ihr Nichtseyn ihrem Daseyn vorzuziehn wäre; – daß sie etwas ist, das im Grunde nicht seyn sollte« (W II 674 f.). Nun ist es – nach Schopenhauer – ein legitimes Anliegen der Philosophie, dem Menschen angesichts der Negativität der Wirklichkeit einen Weg zu weisen, mit ihr fertig zu werden, und zwar dadurch, daß er sie überwindet. Damit bietet sich sein Ansatz als Erlösungslehre bzw. Soteriologie dar. Nach seiner Auffassung bestehen zwei Möglichkeiten der Weltüberwindung: eine ästhetische, die Gegenstand der Metaphysik des Schönen ist, und eine ethische, die in der Metaphysik der Sitten zu erörtern ist. Obgleich Schopenhauer dem Schönen durchaus ein hohes Maß an Bedeutung zuerkennt, bekennt er, daß ihm an der Metaphysik der Sitten weitaus mehr als an der Metaphysik des Schönen gelegen ist: »Wenn nun also die Metaphysik der Sitten zu den früher vorzunehmenden Betrachtungen nothwendig hinzukommen muß, um das Mißverstehn derselben zu verhüten, um solche ins gehörige Licht zu stellen, und um überhaupt das Wichtigste und Jedem am meisten Angelegene nicht wegzulassen: so ist hingegen mit der Metaphysik des Schönen dieses nicht in gleichem Grade der Fall, und sie könnte allenfalls, ohne großen Nachtheil, aus dem Ganzen unserer Betrachtungen wegfallen.« (Vo I 90)28

      So wie Schopenhauer in einer »ersten Betrachtung« die Welt als Vorstellung (erstes Buch) und die Welt als Wille (zweites Buch) thematisiert, geht er – in einer »zweiten Betrachtung« – erneut auf die Welt als Vorstellung (drittes Buch) und die Welt als Wille (viertes Buch) ein. Dabei besteht der Unterschied zwischen den beiden »Betrachtungen« darin, daß sich die erste beschreibend, die zweite hingegen soteriologisch darbietet. Was nun die Welt als Vorstellung anbelangt, so wird sie im ersten Buch als »dem Satze vom Grunde unterworfen« (W I 27) betrachtet, im dritten aber als »unabhängig vom Satze vom Grunde« (W I 219). Vergegenwärtigt man sich, daß die im ersten Buch behandelten, unter den Satz vom zureichenden Grunde fallenden Vorstellungen die reine und die empirische Anschauung sowie der Begriff sind, so leuchtet ein, daß im dritten Buch von einer anderen Art von Vorstellung die Rede ist, die sich den Anschauungsformen des Raumes und der Zeit sowie der Kategorie der Kausalität entzieht. Schopenhauer bezeichnet diese – mit einem von Platon entlehnten Ausdruck – als Idee oder auch als »Platonische Idee« (W I 219), der er auf seiten des Subjekts eine besondere Weise des Erkennens, die – im Sinne der Ästhetik zu verstehende – Kontemplation zuordnet.29

      Da er die Ideen jenseits von Raum und Zeit ansiedelt, ist es nur konsequent, daß Schopenhauer sie als »bleibend« (W I 237) oder »ewig« (W I 222 u. 224) einstuft. Sie gehören damit einem metaphysischen Bereich an, dem er – im Vergleich zur empirischen Wirklichkeit – ein höheres Maß an Dignität zuerkennt (vgl. W I 235). Das zeigt sich an zwei Eigentümlichkeiten der Ideen. Zunächst einmal charakterisiert sie Schopenhauer – an Platon anknüpfend – als Urbilder der empirischen Dinge: »Diese Ideen also insgesammt stellen sich in unzähligen Individuen und Einzelheiten dar, als deren Vorbild sie sich zu diesen ihren Nachbildern verhalten.« (W I 221; vgl. a. W I 224 u. 235) Darüber hinaus ist Schopenhauer überzeugt, daß in den Ideen das Wesen der empirischen Dinge liegt: »Aber nur das Wesentliche aller jener Stufen seiner Objektivation macht die Idee aus: hingegen die Entfaltung dieser, indem sie in den Gestaltungen des Satzes vom Grunde auseinandergezogen wird zu mannigfaltigen und vielseitigen Erscheinungen; dieses ist der Idee unwesentlich, liegt bloß in der Erkenntnißweise des Individuums und hat auch nur für dieses Realität.« (W I 236)30 Da nun unter dem Wesen einer Sache diejenigen Eigenschaften zu verstehen sind, die entscheidend dafür sind, daß sie einer bestimmten Art bzw. Gattung angehört, ist es nicht weiter erstaunlich, daß Schopenhauer erklärt, die Idee enthalte die einer Art bzw. Gattung wesentlichen Eigenschaften (vgl. W II 341, 432 f. u. 566). Sieht man genauer hin, so bemerkt man, daß Schopenhauer die Ideen nicht etwa als gegenständlich betrachtet, sondern das Wesen, das sie zum Ausdruck bringen, mit den in der Metaphysik der Natur eingeführten Objektivationsstufen des Willens gleichsetzt, also den Naturkräften, dem artspezifischen Charakter der Pflanzen und Tiere sowie dem individuellen Charakter des Menschen.31

      Als auf das gemeinsame Wesen mehrerer Dinge bezogene Vorstellung ist die Idee – ähnlich wie der Begriff – allgemein (vgl. W II 557), doch sie unterscheidet sich darin von ihm, daß sie nicht abstrakt, sondern anschaulich und nicht unbestimmt, sondern bestimmt ist: »Der Begriff ist abstrakt, diskursiv, innerhalb seiner Sphäre völlig unbestimmt, nur ihrer Gränze nach bestimmt […]. Die Idee dagegen, allenfalls als adäquater Repräsentant des Begriffs zu definiren, ist durchaus anschaulich und, obwohl eine unendliche Menge einzelner Dinge vertretend, dennoch durchgängig bestimmt« (W I 296). Da die Idee den Dingen ontologisch vorgeordnet ist, der Begriff hingegen im Ausgang von bereits gegebenen Dingen durch Abstraktion gewonnen wird, also den Dingen ontologisch nachgeordnet ist, stuft Schopenhauer erstere als »unitas ante rem« und letzteren als »unitas post rem« ein (W I 297 u. W II 434).

      In Hinblick auf den Willen als Ding an sich gilt Schopenhauer die Idee als »Objektivation« (W I 178 ff.) oder »Objektität« (W I 179 u. 207) desselben. Damit meint er, daß sich der Wille nicht unmittelbar in der empirischen Wirklichkeit manifestiert, sondern daß er zunächst in den Ideen erscheint. Damit nehmen die Ideen eine mittlere Stellung zwischen dem Ding an sich auf der einen und der empirischen Wirklichkeit auf der anderen Seite ein. Stellt man in Rechnung, daß die Idee dem Willen damit näher steht als die empirische Wirklichkeit, so ist nachvollziehbar, daß Schopenhauer sie als »unmittelbare Objektität« des Willens charakterisiert: »Das einzelne, in Gemäßheit des Satzes vom Grunde erscheinende Ding ist also nur eine mittelbare Objektivation des Dinges an sich (welches der Wille ist), zwischen welchem und ihm noch die Idee steht, als die alleinige unmittelbare Objektität des Willens, indem sie keine andere dem Erkennen


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