Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen
u. 158) und steht damit außerhalb des Kausalitätsprinzips. Dies aber bedeutet darüber hinaus, daß der Wille als Ding an sich frei ist: »Daß der Wille als solcher frei sei, folgt schon daraus, daß er, nach unserer Ansicht, das Ding an sich […] ist.« (W I 361) Da überdies die Erkenntnis an den Bereich der Vorstellung gebunden ist, läßt sich nachvollziehen, daß Schopenhauer den Willen als »bewußtlos« (W II 234), »erkenntnißlos« (W II 546 u. P II 55) oder gar »blind[]« (W I 201 u. 234) charakterisiert.
Darüber hinaus beschreitet Schopenhauer noch einen anderen Weg, um den Willen mit Eigenschaften auszustatten. Es handelt sich darum, daß er im Zuge einer Interpretation der empirischen Wirklichkeit bestimmtes darin auftretendes Verhalten als Ausdruck von Dispositionen deutet, die er mit dem Willen in Verbindung bringt. Freilich wird dabei nicht immer klar, ob er den Willen als Disposition oder Träger einer solchen auffaßt und ob diese empirisch oder metaphysisch ist. Von dieser Unschärfe sind auch die zuletzt angeführten Eigenschaften betroffen. Schopenhauer schreibt sie einem als »Drang« oder »Trieb« charakterisierten Willen zu. So stellt er fest: »Allein bei genauerer Betrachtung werden wir auch hier finden, daß [der Wille] vielmehr ein blinder Drang, ein völlig grundloser, unmotivirter Trieb ist.« (W II 418) Dieser besitzt, wie Schopenhauer darlegt, kein letztes Ziel, sondern sei eine »Bewegung« oder ein »Streben vorwärts in den unendlichen Raum, ohne Rast und Ziel« (W I 199; vgl. a. W I 217 u. 386). Angesichts der Tatsache, daß sich – laut Schopenhauer – das Leben als die höchste Stufe der Objektivationen des Willens darbietet, beschreibt er diesen gelegentlich als »Willen zum Leben«: »[D]a was der Wille will immer das Leben ist, eben weil dasselbe nichts weiter, als die Darstellung jenes Wollens für die Vorstellung ist; so ist es einerlei und nur ein Pleonasmus, wenn wir statt schlechthin zu sagen, ›der Wille‹, sagen ›der Wille zum Leben‹.« (W I 347; vgl. a. W II 410 u. 419) Mit dieser Wendung distanziert sich Schopenhauer entschieden von der Tradition der abendländischen Metaphysik des Geistes. In diesem Sinne bekennt er, daß er »das nicht weiter Erklärliche, sondern jeder Erklärung zum Grunde zu Legende, den Willen zum Leben gesetzt habe, und daß dieser, weit entfernt, wie das Absolutum, das Unendliche, die Idee und ähnliche Ausdrücke mehr, ein leerer Wortschall zu seyn, das Allerrealste ist, was wir kennen, ja, der Kern der Realität selbst.« (W II 411)
Schopenhauer begnügt sich nicht damit, das Ding an sich als Willen zu deuten, sondern macht sich diese Einsicht zunutze, um die empirische Wirklichkeit bzw. die Welt als Vorstellung als Objektivation desselben zu verstehen. Dabei schiebt er zwischen Wille und Vorstellung eine zusätzliche Instanz ein: »Das einzelne, in Gemäßheit des Satzes vom Grunde erscheinende Ding ist also nur eine mittelbare Objektivation des Dinges an sich (welches der Wille ist), zwischen welchem und ihm noch die Idee steht, als die alleinige unmittelbare Objektität des Willens« (W I 228). Im Verhältnis zum Ding an sich bieten sich die Ideen als – angeblich zeitlose – »Akte« (W I 208 f. u. 211) dar, im Verhältnis zur Vorstellung hingegen als die verschiedenen »Grade« oder »Stufen« (W I 177 u. 182 f.), in denen der Wille erscheint. Als solche nennt Schopenhauer die als qualitates occultae auftretenden Naturkräfte (vgl. W I 171 ff., 178 f.), den artspezifischen Charakter der Pflanzen und Tiere sowie den individuellen Charakter der Menschen, wobei er die Ideen nicht mit dem empirischen, sondern dem intelligiblen Charakter gleichsetzt (vgl. W I 187, 208 u. 211). Wie Schopenhauer betont, liegt ein Gegensatz zwischen den »verschiedenen Ideen« auf der einen und dem »einen Willen[]« (W I 212) auf der anderen Seite vor. Mehr noch, die Ideen zeichneten sich nicht allein durch ihre Diversität aus, sondern stünden »unter einander in Konflikt« (W I 195). Schopenhauer deutet diesen »Streit« (W I 196) als eine »dem Willen wesentliche Entzweiung mit sich selbst« (W I 197; vgl. a. W I 318 u. 387), die er freilich nicht in einem geschichtsphilosophischen oder -theologischen Telos zur Aufhebung bringt, sondern bestehen bleiben läßt. So erklärt er: »In der That gehört Abwesenheit alles Zieles, aller Gränzen, zum Wesen des Willens an sich, der ein endloses Streben ist.« (W I 217)
Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer den Willen als »Wille[n] zum Leben« (W I 347) interpretiert, erstaunt es nicht weiter, daß er die belebte Natur als eine auf den Zweck des Lebens ausgerichtete charakterisiert. Nach seiner Auffassung zeigt sich das sowohl an der organischen Ausstattung der Lebewesen als auch an ihrem Verhalten. Nicht zuletzt gelte das für die Erkenntnis, die auf ebendiesen Zweck ausgerichtet sei: »Die Erkenntniß […] geht also ursprünglich aus dem Willen selbst hervor, gehört zum Wesen der höhern Stufen seiner Objektivation, als eine bloße μηχανη, ein Mittel zur Erhaltung des Individuums und der Art, so gut wie jedes Organ des Leibes.« (W I 204)
Daher überrascht es auch nicht, daß Schopenhauer – insbesondere im Kapitel 19 des zweiten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung – darauf insistiert, daß der Wille im Verhältnis zur Erkenntnis den Primat innehat. Erblickt man in der Erkenntnis ein Phänomen, in dem sich der Wille manifestiert bzw. dem er zugrunde liegt, so kann man – mit Schopenhauer – dann, wenn die Erkenntnis den Willen selbst zum Gegenstand hat, geradezu von einer Erkenntnis des Willens durch den Willen bzw. von einer »Selbsterkenntniß« (W I 218, 238, 362 u. 506 sowie W II 754) des Willens sprechen. Daß sich der Wille tatsächlich selbst erkennt, gilt nun Schopenhauer als der »eine[] und einzige[] Gedanke[]« (W I 360), in dem seine Philosophie kulminiert: »Meine ganze Ph[ilosophie] läßt sich zusammenfassen in dem einen Ausdruck: die Welt ist die Selbsterkenntniß des Willens.« (HN I 462)
Auch wenn sich Schopenhauer in seiner Metaphysik der Natur weder auf bloße Begriffe noch gar auf eine intellektuelle Anschauung beruft, sondern in einer Reihe interpretatorischer Schritte von der empirischen Wirklichkeit zum Willen als dem Ding an sich voranschreitet, erhebt sich die Frage, ob sein Vorgehen sowie die Resultate, die es liefert, tatsächlich überzeugen. Dazu ist zunächst festzustellen, daß es durchaus legitim erscheint, bestimmte affektive und volitionale Regungen von Lebewesen auf eine entsprechende Disposition zurückzuführen, und ähnliches gilt sicher auch für den Vorschlag, den Leib mit seinen Funktionen als Ausdruck eines Willens zum Leben zu betrachten, der bald bewußt, bald unbewußt wirken mag. Freilich wird man in diesen Fällen – sowie bei allem, was Schopenhauer zur Zweckmäßigkeit in der belebten Natur ausführt – keineswegs zwingend zu einer stärkeren Annahme als zu jener einer empirischen Disposition gelangen, die man als Willen oder Willen zum Leben bezeichnen mag. Was hingegen die unbelebte Natur anbelangt, so scheint es keineswegs klar zu sein, ob sie durchgängig zweckmäßig ist und welchen Status die Kräfte besitzen, die Schopenhauer darin anzutreffen glaubt. Selbst unter der Voraussetzung, daß sich in beiderlei Hinsicht eine befriedigende Antwort finden ließe, spräche kaum etwas dafür, über die Annahme einer empirischen Disposition hinauszugehen.
Dies ist allerdings nicht der Weg, den Schopenhauer beschreitet, indem er von empirischen Dispositionen bzw. dem empirischen Charakter zu intelligiblen Dispositionen bzw. zum intelligiblen Charakter der Dinge gelangt und den Bereich des Intelligiblen mit den Ideen identifiziert, die er wiederum als Objektivationen des Willens als eines Dinges an sich hinstellt. Der damit vollzogene Übergang von der empirischen zur intelligiblen bzw. metaphysischen Wirklichkeit erscheint in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zunächst leuchtet nicht ein, wie das Ding an sich – als Ding – mit einer Disposition, dem Willen, in eins fallen soll. Die Fähigkeit, etwas zu wollen bzw. sich teleologisch oder final zu verhalten, ist nichts, was an sich selbst bestünde, sondern tritt vielmehr an – sei es belebten oder unbelebten – Dingen auf. Man könnte allenfalls sagen, das Ding an sich sei ein wollendes. Dies aber erscheint insofern bedenklich, als Schopenhauer dem Ding an sich die Zeitlichkeit abspricht und kaum verständlich ist, daß ein nicht-zeitliches Ding etwas will oder daß es eine nicht-zeitliche Disposition gibt, etwas zu wollen. Nicht minder schwierig ist vor diesem Hintergrund die von Schopenhauer vertretene These, der Wille als Ding an sich sei ein »Agens« oder ein »Thätiges« (N 220 u. 288).
Es scheint, als sei Schopenhauer in folgende Aporie geraten: Einerseits betrachtet er das Ding an sich als von der Vorstellung toto genere verschieden, so daß er – streng genommen – nichts darüber aussagen dürfte; anderseits versucht er, angetrieben vom metaphysischen Bedürfnis, sich dennoch darüber zu äußern, und ist dabei auf eine Sprache angewiesen, die allenfalls der empirischen, nicht aber der metaphysischen Wirklichkeit angemessen ist. Daß er sich bei alledem einer hermeneutischen Methode bedient, ändert wenig an den Widersprüchen, in die er gerät,