Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen
wie jemand handelt. Trifft ein bestimmtes Motiv auf einen bestimmten Charakter, so tritt die entsprechende Handlung – nach Schopenhauer – notwendig ein, das heißt, es ist nicht möglich, daß eine andere Handlung geschieht: »Wie jede Wirkung in der unbelebten Natur ein nothwendiges Produkt zweier Faktoren ist, nämlich der hier sich äußernden allgemeinen Naturkraft und der diese Aeußerung hier hervorrufenden einzelnen Ursache; gerade so ist jede That eines Menschen das nothwendige Produkt seines Charakters und des eingetretenen Motivs. Sind diese Beiden gegeben, so erfolgt sie unausbleiblich. Damit eine andere entstände, müßte entweder ein anderes Motiv oder ein anderer Charakter gesetzt werden.« (E 95; vgl. a. W I 158 u. 362 ff. sowie E 87, 122 u. 135) Ähnlich wie Kant folgert Schopenhauer daraus, daß man eine Handlung, sofern man den Charakter und das Motiv kennen würde, mit der gleichen Sicherheit wie ein Ereignis in der unbelebten Natur voraussagen könnte: »[E]s ließe sich auch, wie Kant sagt, wenn nur der empirische Charakter und die Motive vollständig gegeben wären, des Menschen Verhalten, auf die Zukunft, wie eine Sonnen- oder Mondfinsterniß ausrechnen.« (W I 367; vgl. a. N 274 sowie E 95 u. 122 f.)36 Scheitert dieses Unterfangen in der Praxis, so liegt das nach Schopenhauer allein daran, daß in der Regel keine ausreichende Kenntnis des Charakters sowie der Motive zur Verfügung steht (vgl. E 95).
Obgleich Schopenhauer davon überzeugt ist, daß Handlungen determiniert sind und der Charakter angeboren und unveränderlich ist, vertritt er die Auffassung, daß es Freiheit gibt. Dabei geht er von der Beobachtung aus, daß sich der Mensch für seine Handlungen verantwortlich fühlt. Verantwortung aber setzt, wie Schopenhauer zu Recht betont, Freiheit voraus: »Soll […] ein Wesen für sein Thun verantwortlich, also soll es zurechnungsfähig seyn; so muß es frei seyn.« (P I 77) Da sich die Freiheit nicht auf Handlungen erstrecken kann, ist Schopenhauer gezwungen, sie in einem anderen Bereich anzusiedeln. Auf den ersten Blick mag es überraschend erscheinen, wenn er den Charakter ins Spiel bringt: »Da, wo die Schuld liegt, muß auch die Verantwortlichkeit liegen: und da diese das alleinige Datum ist, welches auf moralische Freiheit zu schließen berechtigt; so muß auch die Freiheit eben daselbst liegen, also im Charakter des Menschen; um so mehr, als wir uns hinlänglich überzeugt haben, daß sie unmittelbar in den einzelnen Handlungen nicht anzutreffen ist, als welche, unter Voraussetzung des Charakters, streng necessitirt eintreten.« (E 135)
Nach allem, was bislang erläutert wurde, erscheint der Charakter aus zwei Gründen nicht als Ort der Freiheit geeignet. Zum einen gehört er der empirischen Wirklichkeit an, die unter dem Satz vom zureichenden Grunde des Werdens bzw. dem Kausalitätsprinzip steht, also determiniert ist, und zum anderen wurde er als angeboren und unveränderlich beschrieben. Um den Charakter dennoch mit der Freiheit vereinbaren zu können, macht sich Schopenhauer eine Distinktion zunutze, die er von Kant übernimmt. Es handelt sich um die Unterscheidung zwischen dem empirischen und dem intelligiblen Charakter, die er dem Königsberger Denker als »unsterbliches Verdienst« (W I 208) anrechnet, ja sogar für die »größte aller Leistungen des menschlichen Tiefsinns« (E 216) hält.37 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, daß Schopenhauer den empirischen Charakter dem Bereich der Erscheinung bzw. des mundus sensibilis und den intelligiblen Charakter dem Bereich des Dinges an sich bzw. des mundus intelligibilis zuordnet. Dies aber bedeutet, daß lediglich der empirische Charakter, nicht aber der intelligible der Notwendigkeit unterworfen ist. Letzterer hingegen ist frei: »Jenes von Kant dargelegte Verhältniß des empirischen zum intelligiblen Charakter beruht ganz und gar auf dem, was den Grundzug seiner gesammten Philosophie ausmacht, nämlich auf der Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich: und wie bei ihm die vollkommene empirische Realität der Erfahrungswelt zusammenbesteht mit ihrer transscendentalen Idealität; eben so die strenge empirische Nothwendigkeit des Handelns mit dessen transscendentaler Freiheit. Der empirische Charakter nämlich ist, wie der ganze Mensch, als Gegenstand der Erfahrung eine bloße Erscheinung, daher an die Formen aller Erscheinung, Zeit, Raum und Kausalität gebunden und deren Gesetzen unterworfen: hingegen ist die als Ding an sich von diesen Formen unabhängige und deshalb keinem Zeitunterschied unterworfene, mithin beharrende und unveränderliche Bedingung und Grundlage dieser ganzen Erscheinung sein intelligibler Charakter, d. h. sein Wille als Ding an sich, welchem, in solcher Eigenschaft, allerdings auch absolute Freiheit, d. h. Unabhängigkeit vom Gesetze der Kausalität (als einer bloßen Form der Erscheinungen) zukommt.« (E 136 f.)
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, daß Schopenhauer bei der Bestimmung des Verhältnisses des intelligiblen Charakters zum Ding an sich zwischen mehreren Alternativen schwankt. Bald setzt er ihn mit dem »Wille[n] als Ding an sich« (E 137) gleich, bald mit der »Beschaffenheit an sich« (E 216) oder dem »Wesen an sich« (E 217) desselben, aber er beschreibt ihn auch als »meine[n] Willen im Ganzen« (W I 151) oder als »Wille[n] als Ding an sich, sofern er in einem bestimmten Individuo, in bestimmtem Grade erscheint« (W I 364). Dabei stellt sich die Frage, auf welche Weise sich der empirische Charakter am ehesten als »Erscheinung« (W I 151), »Abbild« (W I 211), »Aeußerung« (W I 365) oder »Entfaltung« (W I 378) des intelligiblen begreifen läßt. Vergegenwärtigt man sich, daß der empirische Charakter individuell ist, und versucht man, seiner Individualität gerecht zu werden, so liegt es nahe, den intelligiblen Charakter als dasjenige, was den empirischen bestimmt, ebenfalls mit Individualität auszustatten. Genau diesen Weg beschreitet Schopenhauer letztlich auch. Deshalb ist es irreführend, den intelligiblen Charakter im Sinne der ersten Alternative einfach mit dem Ding an sich gleichzusetzen. Was hingegen die anderen Alternativen betrifft, so unterscheiden sie im Bereich dessen, was dem empirischen Charakter zugrunde liegt, zwischen dem einen Willen als Ding an sich und seiner Ausdifferenzierung zu einer Vielzahl individueller »Beschaffenheiten« oder »Wesen«, die mit dem jeweiligen intelligiblen Charakter in eins fallen.
Schopenhauer führt diese Ausdifferenzierung im Rahmen seiner Ideenlehre durch. Dabei identifiziert er den intelligiblen Charakter mit einer Idee, die ihrerseits einem Akt des Willens als Ding an sich entspricht: »Der Charakter jedes einzelnen Menschen kann, sofern er durchaus individuell und nicht ganz in dem der Species begriffen ist, als eine besondere Idee, entsprechend einem eigenthümlichen Objektivationsakt des Willens, angesehn werden. Dieser Akt selbst wäre dann sein intelligibler Charakter, sein empirischer aber die Erscheinung desselben. Der empirische Charakter ist ganz und gar durch den intelligiblen, welcher grundloser, d. h. als Ding an sich dem Satz vom Grund (der Form der Erscheinung) nicht unterworfener Wille ist, bestimmt.« (W I 211)38
Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer den empirischen Charakter als eine Erscheinung des intelligiblen und diesen als zeitlose, unveränderliche Idee deutet, so fragt sich, in welcher Hinsicht er den intelligiblen Charakter noch als frei betrachten kann. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man, daß es Schopenhauer weniger darum geht, daß der Charakter frei ist, sondern daß er das Ergebnis einer freien Wahl ist. In diesem Zusammenhang vergleicht Schopenhauer – auf einen Mythos anspielend, den Platon in der Politeia (613e–621d) ausbreitet – den intelligiblen Charakter mit einem »Dämon, der [den Menschen] leitet und der nicht ihn, sondern den er selbst gewählt hat« (W I 343; vgl. a. E 218 ff.). Freilich scheint es, als könne diese Wahl nicht vom Menschen, der ja als empirisches Wesen determiniert ist, sondern allenfalls vom Willen als Ding an sich durchgeführt werden. Allein dieser trüge dann die Verantwortung für den Charakter des Menschen, aber auch für die Handlungen, die sich daraus ergeben.
Was schließlich den erworbenen Charakter anbelangt, so ist dieser innerhalb des Bereichs des empirischen Charakters angesiedelt. Er besteht darin, daß jemand seinen empirischen Charakter im Laufe der Zeit kennengelernt hat und diesem gemäß handelt: »Haben wir nun erforscht, wo unsere Stärken und wo unsere Schwächen liegen; so werden wir unsere hervorstechenden natürlichen Anlagen ausbilden, gebrauchen, auf alle Weise zu nutzen suchen und immer uns dahin wenden, wo diese taugen und gelten, aber durchaus und mit Selbstüberwindung die Bestrebungen vermeiden, zu denen wir von Natur geringe Anlagen haben; werden uns hüten, Das zu versuchen, was uns doch nicht gelingt.« (W I 383; vgl. a. E 88 f.) Mit anderen Worten, im erworbenen Charakter treten die Züge, die im empirischen angelegt sind, aufgrund der entsprechenden Kenntnis besonders deutlich zutage. Der empirische Charakter befähigt den Menschen, im Einklang mit sich selbst zu leben und auf diese Weise »zur möglichsten Zufriedenheit mit sich selbst zu gelangen« (W I 384).