Vernehmungen. Heiko Artkämper

Vernehmungen - Heiko Artkämper


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Verhältnisse •Zuordnung von Verhalten zu Personen •(Tat-)Gegenstände •kleine Personengruppen •bekannte Stimmen •Neuheiten

       Übersicht: Abhängigkeit von Wahrnehmung und Erinnerung von sachbezogenen Faktoren

       1.4Lüge und Irrtum

      39Wenn Lügen ebenso wie Irrtümer dazu führen, dass dem Vernehmenden ein „falscher Sachverhalt“ vorgetragen und möglicherweise den weiteren Ermittlungen zugrunde gelegt wird, muss das Phänomen des Irrtums13 und der Lüge vom Vernehmenden einkalkuliert und beide gedanklich voneinander getrennt werden.

      40Ohne hier nochmals auf die in der Vernehmungs- und Aussagepsychologie anerkannten Verfälschungs- und Verzerrungsmöglichkeiten näher eingehen zu wollen, dürfte jedenfalls bei Zeugenaussagen – entgegen anderslautenden Pressemitteilungen – nicht die Lüge dominieren. Trotzdem kann allenfalls in knapp der Hälfte der Zeugenaussagen diesen (wie die nachfolgende Übersicht dokumentiert)14 eine Zuverlässigkeit zugesprochen werden.

       Übersicht: Zuverlässigkeit von Zeugenaussagen

      Die „Lügenquote“ bei Beschuldigtenvernehmungen dürfte demgegenüber allerdings deutlich höher liegen.

       1.5Unglaubhaftigkeits- bzw. Nullhypothese, Realkennzeichen und Warnhinweise

      41Die Bewertung einer Aussage und die Beurteilung ihres Wahrheitsgehaltes bereitet regelmäßig Schwierigkeiten, die ihre Grundlage auch darin haben, dass gedanklich ein falscher Ansatz gewählt wird.15

       Beispiele:

      42Die Äußerung, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, an der Aussage zu zweifeln, verdeutlicht den unzutreffenden Gedankengang ebenso wie die Frage, wie man die Lüge enttarnen kann.

       Aus der jüngeren Rechtsprechung sei der Haftrichter im sog. Kachelmannverfahren zitiert, der – so eine Veröffentlichung16 – im Hinblick auf die Angaben der geschädigten Zeugin gesagt haben soll, dass er davon ausgehe, „dass jemand der einen anderen einer Straftat bezichtigt, wahrheitsgemäße Angaben macht.“

       1.5.1Nullhypothese

      43Die höchstrichterliche Rechtsprechung vertritt entgegen den gerade genannten Beispielen die sog. Nullhypothese.

Praxistipp:
44 Der BGH hat in seiner grundlegenden Entscheidung zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage aus dem Jahre 1999 eindeutig und überzeugend dargelegt, dass bei jeder Aussage davon ausgegangen werden muss, dass sie falsch ist und ausgehend von dieser Prämisse positive Realkennzeichen vorliegen müssen.17

      45Zustimmung verdient daher im Grundsatz eine Entscheidung des OLG Nürnberg: „Dabei musste die Kammer davon ausgehen, dass nach der so genannten Nullhypothese des BGH … jede Aussage so lange als unwahr gilt, bis diese Vermutung sich angesichts der Zahl und der Qualität der Realitätskriterien in der Aussage nicht mehr aufrecht erhalten lässt. Auch wenn sie – ebenso vertretbar – als gleich wahrscheinlich unterstellt haben sollte, dass die Zeugin lügt oder die Wahrheit sagt …, brauchte sie eindeutige und qualitativ belastbare Realitätskriterien, um diese Hypothese der neutralen Anfangswahrscheinlichkeit zu widerlegen. Denn nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG zur „Aussage-gegen-Aussage-Konstellation“ hat das Tatgericht die Gründe, die für und gegen eine mögliche Täterschaft sprechen, aufzuklären, wahrzunehmen und zu erwägen, damit die Entscheidung einen rationalen Charakter und eine tragfähige Grundlage für den Schuldspruch vorweisen kann ….“18

       Übersicht: Bewertung von Aussagen

      46Die vom OLG auch genannte Hypothese der neutralen Anfangswahrscheinlichkeit geht im Wesentlichen auf Bender/Nack/Treuer19 zurück; sie ist in der Tat gedanklich ebenso gut vertretbar, lässt allerdings die Konsequenz und gedankliche Eindeutigkeit der Nullhypothese des BGH vermissen.

      47In der berühmten und gefürchteten Aussage-gegen-Aussage-Konstellation, bei der die Überzeugung von der Richtigkeit von der Aussage eines einzigen Tatzeugen abhängt, gilt die Nullhypothese ebenfalls für beide Seiten. Grundsätzlich kann eine (richterliche) Überzeugungsbildung im Einzelfall auf die Aussage eines einzigen Zeugen gestützt werden, wenn

      –selbst bei neutralen Zeugen – wie etwa Polizeibeamten – nicht davon ausgegangen wird, dass der von ihnen bekundete Sachverhalt mit der Realität übereinstimmen muss,

      –die Sicherheit der Aussageperson nicht als Indikator für die objektive Richtigkeit gedeutet wird und

      –jede Aussage solange als unzuverlässig angesehen wird, wie nicht die Nullhypothese eindeutig und zuverlässig widerlegt ist.20

       1.5.2Realkennzeichen und Warnsignale

      48Im Folgenden sollen die Realkennzeichen und Warnsignale kurz dargestellt werden.21

      Für den Wahrheitsgehalt einer Aussage sprechen als Real- oder Realitätskenn-zeichen

      –Details, Verflechtungen und Individualität im Inhalt,

      –Erweiterungen und Konstanz bei Wiederholung und

      –Widerspruchsfreiheit, Nichtsteuerung und Gleichheit in der Struktur

      der Bekundungen.

      49Warnhinweise und Lügensignale sind demgegenüber

      –Verlegenheit, die sich in Zurückhaltung, der Sprache und/oder einer Unterwürfigkeit äußert,

      –Kargheit und Strukturbrüche als Zeichen fehlender Kompetenz und

      –Übertreibungen in Form von Dreistigkeiten, Bestimmtheit und nicht erforderlichen Begründungen.

       1.6Analyse einer Aussage

      50Bei der Beurteilung von Zeugenaussagen nehmen Lüge und Irrtum etwa einen identischen Raum ein; die Gründe für Irrtümer wurden bereits dargestellt. Im Folgenden geht es nun um die Enttarnung der Unwahrheit anhand signifikanter Merkmale.22

      51Die zuvor beschriebenen Unwägbarkeiten einer Aussage machen die Aussageanalyse zu einem wichtigen Teil der Überprüfung der Glaubhaftigkeit einer Aussage: Grundlegend hierfür sind die Feststellungen des BGH aus dem Jahr 1999, mit denen er die Voraussetzungen an brauchbare

      52Glaubhaftigkeitsgutachten – einer 14-jährigen Zeugin


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