Vernehmungen. Heiko Artkämper

Vernehmungen - Heiko Artkämper


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      69Eine Frage, die beim Thema „Vernehmung“ immer wieder auftaucht, ist die, wer lügen darf und wer nicht. Weihmann tritt beispielsweise der Auffassung, Beschuldigte dürften straflos die Unwahrheit sagen, zu Recht entgegen.27 Grundsätzlich ist festzustellen: Lügen erfüllt – für sich betrachtet – keinen Straftatbestand. Ausdrücklich erlaubt ist es natürlich nicht, und aus Sicht des Ermittlers auch unerwünscht! Nach eingehendem Studium von Straf- und Bußgeldvorschriften steht aber eindeutig fest: Lügen ist nicht grundsätzlich verboten.

       1.7.1.1Zeugen

      70Die zeugenschaftliche Belehrung beinhaltet regelmäßig den Hinweis auf mögliche Zeugnisverweigerungsrechte,28 die die Möglichkeit, zu schweigen gemeinsam haben. Ebenso regelmäßig kommt der Hinweis hinzu, was eventuelle Falschaussagen (Lügen) zur Folge haben können, etwa so formuliert: „Sie dürfen niemanden wissentlich falsch anschuldigen“ (Hinweis auf die Strafbarkeit nach § 164 StGB), – „Sie dürfen keine Straftat vortäuschen“ (Hinweis auf die Strafbarkeit nach § 145d StGB). Darin erschöpft sich in den allermeisten Fällen der Hinweis auf die möglichen Folgen. Im konkreten Einzelfall kann es notwendig werden, auf andere Straftatbestände wie Strafvereitelung oder Beihilfe hierzu hinzuweisen. Auch das sind konkret formulierte Straftatbestände, die (nur) mögliche Folgen von Falschaussagen aufzeigen.

      71„Bürger, sagen Sie nunmehr die Wahrheit!“, hieß es in einer vorformulierten Aussagevorbereitung und -formel am Ende der („vorgeschriebenen“) Belehrung in den 50er Jahren. Damals wurde – im Gegensatz zur heutigen Prozessauffassung – die Belehrung als notwendiges Übel angesehen, wie eine „Formvorschrift“, deren Weglassung ein Manko war, nicht aber den Inhalt der Vernehmung und deren Verwertbarkeit in Frage stellte. Genau das hat sich geändert. Nichtverwertbarkeiten wurden höchstrichterlich festgestellt, was sich in der Praxis auf die Notwendigkeit von klar formulierten Belehrungen niederschlagen sollte; das geschah auch, aber eines hat sich bis heute fortgesetzt:

      72Der Hinweis auf eine „Wahrheitspflicht“, die – bei genauer Betrachtungsweise – gar nicht existiert. Allein die Falschaussage vor Gericht, speziell unter Eid, stellt einen eigenständigen Straftatbestand dar. Im (vorgelagerten) Ermittlungsverfahren spielt die „Lüge“ zwar eine gewichtige und konkrete Rolle, verboten und sanktioniert ist sie allerdings nicht. Trotzdem ermahnt jeder „Ermittler“ zu Recht zur Wahrheit.

      73Auch wenn keine – auch nicht aus der nur für richterliche Vernehmung geltenden Norm des § 57 Abs. 1 StPO ableitbare – Verpflichtung zur Wahrheit besteht, hat der Ermittler im Sinne der Sachverhaltsaufklärung allerdings ein eigenes Interesse daran, dass der Vernommene die Wahrheit sagt. Genau so sollte er es auch darstellen:

       Beispiel:

      74„Ich möchte von Ihnen die Wahrheit hören.“ Mit dieser Feststellung stellt der Vernehmende den Selbstbezug und damit einen deutlichen Rahmen her. Alles andere – wie etwa der Hinweis auf andere Instanzen oder eine „allgemeine Wahrheitspflicht“ – entbehrt notwendiger Grundlagen.

       1.7.1.2Beschuldigte

      75Für den Beschuldigten gilt dasselbe. Auch er darf lügen, aber niemanden wissentlich falsch anschuldigen oder eine Straftat vortäuschen. Zudem bilden die Ehrdelike der §§ 185 ff. StGB eine Grenze des „Rechts zur Lüge“. Genau wie einem Zeugen muss ihm klar gemacht werden, dass die Folgen einer falschen Aussage unter Umständen eine Straftatbestandsverwirklichung darstellen.

Praxistipp:
76 „Sie dürfen hier lügen“ wäre – wenn auch denkbar – die falsche, jedenfalls aber unglückliche Formulierung. Notwendig und angemessen ist der Hinweis auf Schweigerechte. Wenn darauf verzichtet wird und der Vernommene aussagt, sollte der Vernehmende selbst in personam auf Wahrheitsgehalte pochen.

       1.7.1.3Selbstbelastungsfreiheit versus Auskunftspflichten

      77Der fundamentale rechtsstaatliche Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit kollidiert in vielen Bereichen mit außerstrafrechtlichen Auskunfts- und Mitwirkungspflichten. Diese Thematik war Anstoß für den sog. Gemeinschuldnerbeschluss des BVerfG 198129. Hintergrund der Entscheidung war, dass ein Gemeinschuldner gegenüber dem Konkursgericht die von diesem nach § 75 KO a. F.30 geforderten Informationen unter Hinweis darauf, dass er sich durch seine Angaben eventuell selbst einer Straftat bezichtige, verweigerte. Die Erzwingbarkeit der Auskünfte wurde vor dem Hintergrund der schützenswerten Vermögensinteressen der Gläubiger verfassungsrechtlich nicht in Frage gestellt – allerdings schuf das BVerfG im Wege ergänzender Auslegung der Konkursordnung ein strafrechtliches Verwertungsverbot.

       1.7.1.3.1Insolvenzordnung

      78Das aktuelle Pendant für das Insolvenzverfahren findet sich in § 97 InsO. Absatz 1 Satz 3 der Vorschrift regelt ein Verwendungsverbot, das heißt, dass die durch Auskunft des Insolvenzschuldners, zu der dieser nach § 97 Abs. 1 Satz 1 und 2 InsO in umfassender Form verpflichtet ist, erlangten Informationen in einem Straf- oder Bußgeldverfahren nur mit dessen Zustimmung verwendet werden dürfen.31

       1.7.1.3.2Asylgesetz

      79Dem Asylverfahrensrecht ist diese Problematik ebenfalls nicht fremd – allerdings mit einem entscheidenden Unterschied zu den vorgenannten Rechtsbereichen: Die im Rahmen des Asylverfahrens nach §§ 15, 25 Asylgesetz bestehende Mitwirkungspflicht des Antragstellers kann mit staatlichen Mitteln nicht erzwungen werden. Der Interessenkonflikt beschränkt sich auf die Person des Antragstellers, der vor die Alternative gestellt ist, sich entweder durch vollständigen und wahrheitsgemäßen Tatsachenvortrag der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung auszusetzen oder durch Verweigerung von (zureichenden) Angaben die Ablehnung seines Asylbegehrens zu riskieren. Aus diesem Konflikt kann in aller Regel kein Beweisverwertungsverbot folgen.32 § 8 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 Asylgesetz, der die Übermittlung und Verwertung der Angaben des Asylsuchenden auch für Maßnahmen der Strafverfolgung legitimiert, ist daher verfassungsrechtlich unbedenklich.

      80Etwas anderes kann sich dann ergeben, wenn die Anhörung im Asylverfahren an der Begründung und Erhärtung eines Anfangsverdachts ausgerichtet ist, z. B., indem die Anhörung unterbrochen wird, die Strafverfolgungsbehörden über die (strafrechtliche) Selbstbelastung des Asylbegehrenden informiert werden und sodann das weitere Vorgehen abgesprochen wird. Bei derartigen „verdeckten Beschuldigtenvernehmungen“, die den nemo-tenetur-Grundsatz33, das allgemeine Persönlichkeitsrecht und das dem Rechtsstaatsprinzip inhärente Verdikt des fairen Verfahrens tangieren, entscheidet die im Einzelfall vorzunehmende Abwägung dieser Verfassungsrechte gegenüber dem Interesse der Allgemeinheit an effektiver Strafverfolgung über ein etwaiges Verwertungsverbot.34 Aspekte wie ein ggf. planmäßiges Vorgehen, etwa bei standardisierter Verwendung eines für Zwecke des Strafverfahrens entwickelten Fragenkatalogs, die Tatsache, dass der Mitarbeiter des BAMF die Anhörung nicht als Privatperson oder „verdeckter Ermittler“, sondern als Behördenvertreter mit staatlicher Autorität durchführt, aber – auf der anderen Seite – auch ein drohender Beweismittelverlust spielen eine Rolle.

      


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