Vernehmungen. Heiko Artkämper
konfrontiert.
104Selbst eine sich standhaft wehrende Tochter, die zunächst dabei geblieben war, dass ihr Vater in der Nacht nicht nach Hause zurückgekehrt war, war schließlich bereit, die wahre Geschichte zu erzählen … nachdem ihr (Pflicht-)Verteidiger den Vernehmungsort verlassen hatte.
105Die Beschuldigten schilderten schließlich ein Tötungsdelikt und es erfolgte eine Rekonstruktion des Geschehens vor Ort.60 Auch das spurlose Verschwinden des Pkw wurde geklärt – Entsorgung über einen Schrotthändler in der Umgebung – und die Unauffindbarkeit der Leiche bzw. von Leichenteilen damit erklärt, dass eine Verfütterung an die Hunde und/oder Schweine erfolgt sei. Die Familie wird in der Folgezeit zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.
106Bei der Reparatur einer Staustufe der Donau in einem Nachbarort Anfang des Jahres 2009 taucht dann der Pkw des Mordopfers und auch dieses selbst wieder auf – nicht erschlagen, nicht geteilt und auch nicht verfüttert. Ein gewaltsamer Tod, der auch nur ansatzweise den Geständnissen der Verurteilten entspricht, ist jedenfalls auszuschließen. Die Wiederaufnahme der Verfahren führt dann später zu Freisprüchen.
107Aber auch der umgekehrte Fall ist denkbar: Der Verurteilte hat kein Geständnis abgelegt. Ein Makel, den mancher Ermittler als Minuspunkt auf seine Fahnen schreiben würde. Dabei wurde insbesondere nach Anwendung des Reid-Vernehmungsmodells das Geständnis des Tatverdächtigen als „Krönung des Ermittlungsverfahrens“ proklamiert. Fälschlicherweise. Die Frage beginnt bei den Ermittlungen, setzt sich aber unerkannt massiv in den Verhandlungsphasen, im Urteil, in Einschätzungen von Richtern und Schöffen, im Strafvollzug und schließlich in der Reintegration so konsequent fort, dass ein kritisches Hinterfragen nicht nur erlaubt sein dürfte, wissenschaftlich sogar geboten erscheint.
Beispiel:
108Der Angeklagte steht im Verdacht, an mehreren Stellen in einem Wohnhaus Feuer gelegt zu haben. Der Verdacht ergibt sich aus der Motivlage, Anwesenheit zur Tatzeit am Tatort, und – bemerkenswerterweise – aus der psychischen Auffälligkeit des Angeklagten, ein „verstecktes“ Tourette-Syndrom, so die einschätzenden Psychologen (auch schon vor der Tat). Er wird nach einem Indizienprozess wegen versuchten Mordes zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Ein Geständnis hat er nicht abgelegt, trotz mehrerer „Angebote“ des Vorsitzenden Richters, sich durch derartige selbstinitiierte „Vereinfachungen“ während des Prozesses eine mildere Strafe erarbeiten zu können.
In der Haft muss er weitere psychologische Begutachtungen über sich ergehen lassen. In deren Rahmen wird zunächst jeweils die „Therapierbarkeit“ geprüft, die zumindest ein gewisses Maß an Einsicht erfordert. Jede Hafterleichterung, schließlich auch die – eigentlich fast obligatorische – Verkürzung der Haftstrafe wird von eben dieser Therapierbarkeit abhängig gemacht.
Der Häftling weigert sich, einsichtig zu sein und streitet die Tat nach wie vor ab.
Die Folge während der Haft: „Nicht therapierbar“ = Keine Haftvergünstigungen. In der weiteren Folge die logische Konsequenz: Keine vorzeitige Entlassung zum 2/3 Zeitpunkt. Die zehn Jahre verbüßt er vollständig. Schließlich wird er nach zehn Jahren entlassen und sucht direkt anschließend das Büro der seinerzeit ermittelnden Beamten auf. Er legt 4,50 Euro auf den Tisch und erklärt, damit die Zigaretten bezahlen zu wollen, die ihm im Ermittlungsverfahren während der Vernehmung zur Verfügung gestellt worden waren. Er wolle niemandem etwas schuldig bleiben.
1.9.3Das Holzklotzverfahren61
109In einem Schwurgerichtsverfahren geht es um den Tod einer 33 Jahre alt gewordenen Frau, die im Jahr 2008 auf der Autobahn A 29 bei Oldenburg vor den Augen ihrer Familie von einem Holzklotz erschlagen wurde. Die SOKO Brücke ließ in den Medien verbreiten, es gäbe an dem Tatwerkzeug DNA-Spuren und kündigte entsprechende Reihenuntersuchungen an. In der Folgezeit meldete sich der 30-jährige, drogenabhängige Beschuldigte, der erklärte, er habe im tatrelevanten Zeitraum einen Holzklotz („wie der im Fernsehen gezeigte“) auf der Autobahnbrücke gesehen und angefasst. Er habe den Klotz zur Seite gelegt, damit sich Passanten nicht daran verletzen. Der heroinabhängige Beschuldigte spricht nur gebrochen Deutsch und hat zehn Jahre zuvor einmal eine Straftat (Schuld an einem Verkehrsunfall) auf sich genommen.62
110In einer weiteren Zeugenvernehmung erklärt er erneut, einen Holzklotz angefasst und beiseite geschoben zu haben, stellt aber in Abrede, den Klotz von der Brücke auf die Autobahn geworfen zu haben. Zudem habe er einen „Fahrradreifen“ weggeräumt. Protokolliert wurde eine „Felge“ (weil eine Felge am Tatort gefunden worden war) und aus „an einen Zaun geschoben“, wurde ein Brückengeländer, das sich naturgemäß auf Brücken befindet. Ein Dolmetscher wurde nicht hinzugezogen, sondern dem Beschuldigten wurden die Begriffe „erläutert“.
111Zwei Wochen später erfolgte nach einem 90 Minuten dauernden Vorgespräch die erste Beschuldigtenvernehmung; während des Vorgesprächs gab es diverse gemeinsame – weil in öffentlichen Gebäuden ein Rauchverbot herrscht – Rauchpausen vor dem Gebäude. Der Beschuldigte, der behauptet, er sei auf Entzug gewesen, erklärte später, ihm sei eine Substitution nach der Vernehmung versprochen worden, weswegen er sich geständig eingelassen habe.
1.9.4Die Vermisstenanzeige
112Der Angeklagte hatte Ehefrau und Tochter getötet, die Leichen in einem Wald abgelegt und sodann Vermisstenanzeigen erstattet. Da keine Hinweise auf ein Kapitaldelikt vorlagen, wurde er in der Folgezeit fünfmal zeugenschaftlich vernommen. Die Vernehmungen waren von List und Taktik geprägt, zumal die Beamten von seiner mutmaßlichen Täterschaft ausgingen. Widersprüche und Ungereimtheiten wurden filigran aufgearbeitet und vorgehalten. Auch wurde die Frage gestellt: „Das Gewissen plagt Sie nicht?“ Parallel zu den Vernehmungen wurde sein Grundstück mit Leichenspürhunden erfolglos abgesucht.
1.9.5Der wenig kooperative Beschuldigte
113Der Angeklagte soll seine Mutter mit Benzin übergossen und angezündet haben. Bei seiner verantwortlichen Vernehmung macht er Angaben zu Mordmerkmalen: Das Opfer habe „immer recht behalten“ müssen und sei ihm daher mächtig „auf den Senkel“ gegangen. Nach einem Streit habe er daher das Feuer gelegt, um sie loszuwerden.
114Er leidet an einer schweren Wahnerkrankung und bringt weder im Rahmen der Explorationen noch bei seiner Einlassung in der Hauptverhandlung einen korrekten Satz mit Subjekt, Prädikat und Objekt fehlerfrei zustande. Die Vernehmung der Vernehmungsperson, die klären soll, warum dies offensichtlich bzw. scheinbar im Ermittlungsverfahren anders war, offenbart Schlimmes. Der Polizeibeamte bekundet, der Beschuldigte habe sich auch in seiner Vernehmung nicht zur Sache eingelassen, aber irgendwann zu ihm gesagt: „Schreiben Sie doch, was Sie wollen“ … und das habe er dann auch gemacht.63
1.9.6Der nicht auffindbare Beschuldigte
115Der Beschuldigte gesteht zwei Tötungsdelikte, die er nicht begangen hat. Er verlangt nach einem Verteidiger, erhält telefonischen Kontakt zu diesem und wartet zunächst auf dessen Eintreffen ….
116Als der Verteidiger ihn im Polizeigewahrsam besuchen will, ist der Mandant verschwunden, er wird gerade angehört bzw. vernommen. Den Wunsch auf Verteidigerkonsultation ignorieren die Beamten:64 „Zuerst gestehst du, dann kannst du mit ihr reden, vorher kommst du hier nicht weg“. „Wir glauben dir kein Wort! Du bist ein Mörder! Gib‘s doch zu! Du bist ja praktisch überführt! Deine Freunde haben dich in der blutigen Jacke gesehen.“