Vernehmungen. Heiko Artkämper
und zu beachten gilt:50
Warnsignale | ||
Verlegenheit | Übertreibung | Mangelnde Kompetenz |
•Zurückhaltung •Unterwürfigkeit •Unklarheiten, Versprechen •doppelte Negationen | •übertriebene – biologisch unmögliche – Exaktheit •Entrüstung bis Dreistigkeit •Begründungen für einen Sachverhalt statt Schilderung eines Tatsachengeschehens | •karge, abstrakte Sachverhaltsschilderungen •fehlende Komplikationen •ausschließlich zielgerichtete Bekundung |
Übersicht: Warnsignale bei Vernehmungen
91Nicht jedes Warnsignal beweist bei isoliertem Vorliegen eine Lüge; die vorgenannten signifikanten Merkmale können ihren Ursprung etwa auch darin haben, dass der zu Vernehmende allein die Vernehmungssituation – oder sein aktuelles persönliches und berufliches Umfeld – als großen Stressfaktor empfindet,51 und ihn dies veranlasst, Warnsignale zu produzieren und zu verbreiten.
Praxistipp: | |
92 | Die Warnsignale entfalten eine Indizwirkung; ihr Vorliegen muss zur Folge haben, dass der Vernehmende ihr Zustandekommen und seine eigene Schlussfolgerung in besonderem Maße kritisch hinterfragt. |
93Selbst eine jahrzehntelange Berufs- und Vernehmungserfahrung begründet hier nicht zwingend eine sichere Einschätzung.52
Hier ist eine Falsifikationsstrategie anzuwenden,53 mit der, vor dem Hintergrund aller vorhandenen Informationen, hinterfragt wird, was für die Richtigkeit der scheinbar unzutreffenden Aussage spricht. Sofern der Vernehmende auch danach noch vom Vorliegen einer Lüge überzeugt ist, hat er den zu Vernehmenden damit zu konfrontieren.
1.8Zuverlässig funktionierende Lügenerkennungsmethoden?
94Wer glaubt, anhand von Aussagen die Wahrheit erkennen zu können, wird – entgegen anderslautenden Veröffentlichungen54 – in der Praxis schnell eines Besseren belehrt. Insbesondere der Körpersprache wird hier eine Schlüsselfunktion zugeschrieben, die sie nicht hat; darauf wird im Rahmen der Fragetechniken ausführlicher eingegangen werden.55 Das Ergebnis sei an dieser exponierten Stelle vorweggenommen:
95 Es gibt keine zuverlässig funktionierende Lügenerkennungsmethode; eine Bewertung des Wahrheitsgehalts einer Aussage anhand körperlicher Verhaltensmuster verbietet sich.
1.9Kurze tatsächliche Bestandsaufnahme
96Negativbeispiele aus der Vergangenheit und Praxis polizeilicher Vernehmungen spiegeln sicherlich nicht das Alltagsgeschäft oder gar die übliche Vernehmungspraxis wider; sie sind nicht repräsentativ. Ihr Vorkommen und ihre Resonanz in der Bevölkerung sind allerdings unbestreitbar.
97Unstreitig ist jedes Fehlurteil, das zu einer Verurteilung führt, eines zu viel, wohl aber leider nicht immer vermeidbar, mithin Teil einer kritischen Bestandsaufnahme der Strafjustiz. Die an mancher Stelle56 auftauchende Behauptung, jedes vierte Strafurteil sei falsch und ein Fehlurteil, ist eine bloße – nicht verifizierte – Schätzung und definiert zudem nicht, ab wann Falschheit vorliegt: Falsche Tatsachenfeststellungen, falsche Sanktionen oder Verurteilung statt Freispruch und anders herum?
98Veröffentlichungen zu Fehlern im Strafverfahren sind lesenswert: Peters57 und Hirschberg wurden von Darnstädt im Jahre 2013 beerbt; sämtliche Werke sollten schon in der Kriminalistenausbildung als Pflichtlektüre verordnet werden. Selbstkritische Hinterfragung von Hypothesen und/oder Versionen kann niemals schaden. Eben diese Grundhaltung in Kenntnis möglicher Fehlentscheidungen erfordert einerseits eine besonders kritische Würdigung „fremder“ Ergebnisse; gemeint sind damit die Vielzahl kriminaltechnischer, psychiatrischer und psychologischer Gutachten, die in immer größerem Maße in den Verfahren eine Rolle spielen. Deren Entscheidungsrelevanz ist reziprok zu ihrem praktisch nicht vorhandenen Stellenwert im juristischen Studium, Referendariat und in der Kriminalistenausbildung; gleiches gilt andererseits für Vernehmungen.
99Selbst wenn – was nicht überprüft werden konnte – sich in manchen Presseveröffentlichungen „journalistische Ungenauigkeiten“ eingeschlichen haben sollten, führen sie einen Kernbereich misslungener, fehlerhafter und rechtswidriger Vernehmungen mehr als deutlich vor Augen, in denen Vernehmungsbeamte, um eine geständige Einlassung als sicheres Beweismittel zu generieren, über die gesetzlichen Vorgaben und damit das Ziel des Strafverfahrens hinaus schießen.
1.9.1Der Fall Jakob von Metzler
100Die Entführung (und Ermordung) eines Frankfurter Bankiersohns durch einen Jurastudenten im Jahre 2002 endete Ende 2004 auch damit, dass der damalige Polizeivizepräsident sowie ein ermittelnder Polizeibeamter der Nötigung bzw. der Verleitung eines Untergebenen zu einer rechtswidrigen Tat im Amt – nämlich einer Nötigung – schuldig gesprochen und mit Strafvorbehalt verwarnt wurden. Hintergrund war der Umstand, dass der Vernehmende dem Beschuldigten weisungsgemäß die „Zufügung von Schmerzen“ für den Fall angekündigt hatte, dass er das Versteck des Entführungsopfers nicht preisgibt.58
101Der Sachverhalt zeigt – neben anderen interessanten Rechtsfragen – die missliche Situation des Beamten auf, der das Leben eines Entführungsopfers retten will; dass hier die Grenzen strafrechtlicher Verbotstatbestände überschritten werden, ist unstreitig. Es bleibt im hiesigen Kontext die Frage nach einer Rechtfertigung und der (Un)Verwertbarkeit nachfolgender Angaben im Strafverfahren. Der aufgebaute Druck führte hier zu zutreffenden Angaben, die es ermöglichten, das Kind – leider tot – aufzufinden.
1.9.2Falsche Geständnisse und der Bauer Rudi Rupp
102Der Bauer Rudi Rupp verschwindet im Oktober 2001 spurlos nach einem Gaststättenbesuch; er hatte diese mit seinem Pkw aufgesucht, dort erheblich Alkohol konsumiert und war – mit gewissen Ausfallerscheinungen – von der Gaststätte fortgefahren. Die Vermisstenanzeige der Ehefrau führte zu keinem Erfolg – sowohl die Person als auch der Pkw blieben verschollen.
103Knapp eineinhalb Jahre später wurde die Akte im normalen Geschäftsgang dem für Tötungsdelikte zuständigen Kriminalkommissariat vorgelegt, das – aufgrund gewisser Anhaltspunkte – die Ermittlungen zu einem Tötungsdelikt aufnahm, Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen und Durchsuchungsbeschlüsse gegen die Familienangehörigen anregte, die die Justiz beantragte und erließ und die dann vollstreckt wurden. Rudi Rupp war in seinem Heimatort wenig gut gelitten, streitsüchtig und ein Einzelgänger, der – so jedenfalls die Gerüchteküche – auch innerfamiliär Probleme hatte.59 Unvermittelt wurden später die Ehefrau, die beiden Töchter und der Freund einer Tochter früh morgens zur Polizei verbracht und als Zeugen vernommen. Die intellektuell eher schlicht strukturierten vier Personen – die Ehefrau hat einen IQ von 53