Vernehmungen. Heiko Artkämper

Vernehmungen - Heiko Artkämper


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am nächsten Tag besteht ein freundliches Klima, was dazu führt, dass der Beschuldigte sich kooperativ erweist.

       1.9.7Ein Gegenbeispiel: Tod nach Luftembolie bei einverständlichem Geschlechtsverkehr

      117Auch vorläufige Einschätzungen von Ursachen und Folgen durch einen rechtsmedizinischen Sachverständigen können unzutreffende Ermittlungshypothesen begründen: So hat es bereits mehrfach Verfahren gegeben, in denen die Obduktion den Anfangsverdacht eines Sexualmordes/einer Vergewaltigung mit Todesfolge ergab, da Einrisse in der Vaginalschleimhaut des Opfers nebst Einblutungen diesen Verdacht nahelegten. Die weiteren Ermittlungen ergaben dann eine Luftembolie nach einverständlichem Geschlechtsverkehr; das Verletzungsbild der Scheide war durch das Klimakterium der Frau und die beim Geschlechtsverkehr gewählte Stellung zu erklären.65

      118Ausgangspunkt war hier regelmäßig die Überzeugung des Vernehmenden, dass die entsprechenden Einlassungen der Beschuldigten der Wahrheit entprachen und daher die angeblich objektiven Merkmale einer Gewalteinwirkung zu einer unzutreffenden Hypothese führten.

       1.9.8Erhebungen von Habschick66

      119Habschick hat Staatsanwälte und Richter darum gebeten, ihre Erfahrungen mit polizeilichen Vernehmungen zusammenzutragen; diese – sicherlich nicht tendenziösen – Ergebnisse sollen hier ebenfalls wiedergegeben werden:

      –Sehr häufig fehlen Feststellungen darüber, ob und inwieweit der Vernommene überhaupt lese- und schreibfähig ist.

      –Die Korrektheit der Vernehmung ist meistens objektiv nicht überprüfbar, weil zum Vorgang der Belehrung nur geschrieben wird: „Der … wurde ordnungsgemäß über seine Rechte gem. … belehrt“. …

      –Problematisch ist in der Praxis offensichtlich auch die Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht … in Fällen von Verpartnerungen. …

      –Häufig erfolgt keine sofortige Belehrung.

      –Manchmal erfolgt beim Wechsel vom Zeugen- zum Beschuldigtenstatus die Belehrung entweder gar nicht oder zu spät. …

      –Oft fehlt bei Anhörungen und Vernehmungen die Protokollform nach wörtlichem Frage-Antwort-Verfahren, das in Jugendverfahren und bei Kapitaldelikten vorgeschrieben ist.

      –Oft werden anstatt kurzer Sätze viel zu lange gebraucht, zu denen Kinder und manche Jugendliche gar nicht fähig sind.

      –Die Befragungen zu Tatgenossen der Minderjährigen sowie zu deren detaillierten Tatbeiträgen müssten nicht selten intensiver sein.

      –Oft wird in Vernehmungen zu wenig auf das Verhalten während der Anhörung bzw. Vernehmung eingegangen.

      –Häufig gehen Vernehmende überhaupt nicht auf das Verhalten des minderjährigen Vernommenen im Zusammenhang mit den Eltern ein. …

      –In den Vernehmungen wird viel zu wenig auf Verdunkelungshandlungen Jugendlicher eingegangen. …

      –Es werden mit den beschuldigten Jugendlichen in sich anbietenden Fällen kaum Tatorte aufgesucht.

      –Oft fehlen persönliche Eindrücke des Vernehmungsbeamten hinsichtlich auffälliger Verhaltensdifferenzen des Minderjährigen zwischen Tat-, Vernehmungs- und Gerichtssituation. …

      –Mitunter werden übliche Aufenthalte des Minderjährigen ebenso wenig erfragt wie die Erreichbarkeit. …

      –Es werden zu wenig sofortige Gegenüberstellungen Täter-Opfer durchgeführt und die dabei entstehenden Reaktionen dokumentiert.

      –Viele Fehler werden bei Lichtbildvorlagen und Gegenüberstellungen hinsichtlich der Auswahl und Dokumentation gemacht.

       1.9.9Appell an die Vernehmenden

      120Genau derartige Vernehmungen – und dadurch bedingte Veröffentlichungen – gilt es zu vermeiden. Die Bindung an Gesetz und Recht ist die Grenze jeder Vernehmung(smethode). Gesetz und Recht müssen beachtet und respektiert werden. Auch in den rechtsstaatlich vorgegebenen Grenzen sind Tatklärungen möglich und nur in diesen erlaubt.67

      121Die Art und Weise der Durchführung einer Vernehmung entfaltet sowohl beim Zeugen als auch beim Beschuldigten eine Wirkung. Der Ermittler als Repräsentant des Rechtsstaates kann bei einem positiven Verlauf dazu beitragen, dass ein Beschuldigter sich verstanden, unterstützt und auf den richtigen Weg zurückgebracht fühlt. Ebenso wird ein Zeuge die Polizei über verdächtige Wahrnehmungen erneut in Kenntnis setzen, wenn er erfahren durfte, dass sein Engagement dankbar entgegengenommen wurde. Neben der eigenen Wahrnehmung führt dies häufig auch zu einer positiven oder schlimmstenfalls auch negativen Weitergabe von Erfahrungen mit den Ermittlungsbehörden an das soziale Umfeld.

      122Die Ermittlungsarbeit ist, und darüber sollte sich jeder im Klaren sein, in weiten Teilen ohne die Unterstützung der Bevölkerung schlichtweg nicht möglich.

      123Neben diesen Aspekten sollte sich jede Vernehmungsperson auch den Faktor des lebenslangen Lernens und somit der Weiterbildung und dem damit verbundenen Erhalt seiner Vernehmungskompetenz vor Augen führen. Dies stellt neben den fachlichen Kompetenzen (Recht, Kriminalistik, Kriminologie etc.) auch die soziale Kompetenz (Situationsanalyse, Analyse der Verhaltensoptionen, Umsetzung des Verhaltens und der Analyse der Konsequenzen) und die tatsächliche Umsetzung dar.68 Das in der polizeilichen Aus- und Weiterbildung Erlernte muss durchgehend trainiert und auf dem rechtlich und wissenschaftlich aktuellen Stand gehalten werden. Es ist somit eine Weiterbildung über die gesamte Lebensbiografie zur Sicherung der Qualität in der Vernehmungsführung notwendig, wobei nicht nur der Ermittler, sondern auch die Dienstvorgesetzten und der Dienstherr in der Pflicht stehen.

       1.10Historische Reminiszenz

      124Bei Aufräumarbeiten tauchten zwei Runderlasse auf, die sich in den Jahren 1926 und 1927 mit Vernehmungen und Geständnissen befassten; sie sollen – und dürfen – dem Leser nicht vorenthalten bleiben, zumal die dort aufgestellten Parameter mit marginalen Änderungen heute noch Geltung beanspruchen.

       1.10.1Vernehmungen 69

       VI. Vernehmungen Kriminalpolizeiliche Ermittlungen

       RdErl. d. Pr.MdI. v. 27. 11. 1926 – II C II 32 Nr. 35/26 – u. RdErl. d. Innenministers v. 17. 5. 1951 – IV A 2 II b 4800-426 II

      Die kriminalpolizeilichen Ermittlungen haben sich auch auf die für die Beurteilung der Persönlichkeit des Täters bedeutsamen Umstände zu erstrecken. Es soll größtmögliche Klarheit darüber geschaffen werden, inwieweit die Tat auf verwerfliche Gesinnung oder Willensneigung des Täters und wieweit sie auf Ursachen zurückzuführen ist, die den Täter zu entlasten geeignet sind.

      Bei der verantwortlichen Vernehmung von Beschuldigten hat daher der vernehmende Polizeibeamte sein Augenmerk auch darauf zu richten, ob die Gesamtumstände der Straftat, das Verhalten des Beschuldigten bei seiner verantwortlichen Vernehmung oder die Zeugenaussagen den Verdacht rechtfertigen, daß die Voraussetzungen des § 51 StGB vorliegen. Bei Hirnverletzten und Spätheimkehrern ist dieser Frage besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Etwaige Verdachtsgründe hat der vernehmende Polizeibeamte im Anschluß an die verantwortliche Vernehmung in einem Vermerk aktenkundig zu machen.

       Ferner


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