Die letzte Sinfonie. Sophie Oliver

Die letzte Sinfonie - Sophie Oliver


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ausgeliehen hatten. Auf der Fahrt von Marylebone nach Mayfair sahen einige Passanten dem auffällig elfenbeinfarben lackierten Fahrzeug mit seinen schwarzen Kanteneinfassungen und dem roten Sitzleder hinterher. Der Doktor hatte es sich kürzlich nach ausgiebigem Testen und Vergleichen zugelegt und war auf vehemente Kritik seitens einiger besonders konservativer Clubkollegen gestoßen. Hätte er sich doch für ein englisches Fabrikat entscheiden müssen und nicht für eines aus dem Deutschen Kaiserreich? Lord Philip hingegen fand das Fahrzeug vollendet und schätzte sich glücklich, dass sein Kollege es bereitwillig an ihn verlieh, um im Auftrag des Sebastian Club Fahrten zu erledigen. Es war wesentlich komfortabler, als auf Droschken oder Hansom Cabs angewiesen zu sein, die just dann nicht auftauchten, wenn man sie am dringendsten benötigte.

      Die Stimmung in den altehrwürdigen Clubräumen des großen Hauses am Berkeley Square war anders seit dem Tod des Professors. Besonders in seinem Büro, das nun Lord Philip gehörte. Kein behaglich süßer Pfeifenrauch lag mehr in der Luft. Die sonore Bassstimme und das ansteckende Lachen waren längst in den Gängen verhallt und existierten nur noch in der Erinnerung derer, die Brown gekannt hatten.

      Es war keine einfache Aufgabe, in seine Fußstapfen zu treten. Lord Philip wusste, dass er seinen eigenen Weg finden musste.

      »Es ist viel Zeit vergangen, seitdem der Professor uns verlassen hat. Trotzdem vergeht kein Tag, an dem wir nicht an ihn denken, von ihm sprechen oder an ihn erinnert werden. Wir haben getrauert. Und nun ist es an der Zeit, in die Zukunft zu blicken. Daher sollten wir endlich das letzte Rätsel lösen, das Aristotle Brown uns gestellt hat«, teilte er seinen drei versammelten Kollegen mit und hielt demonstrativ die dünne braune Akte hoch, in der die spärlichen Informationen gelistet waren, die ihnen dafür zur Verfügung standen.

      »Und worum handelt es sich konkret?« Crispin Fox hob fragend die Brauen.

      Normalerweise trafen sich die Detektive zu Besprechungen in einem kreisrund geschnittenen Raum, an dessen Wänden Bilder berühmter Clubmitglieder hingen. Auch Professor Browns Porträt befand sich nun darunter. War das der Grund, warum die vier sich lieber im Büro versammelten? Sich um einen kleinen Besuchertisch drängten, auf dem so wenig Platz war, dass die Kaffeekanne auf dem Servierwagen bleiben musste und jeder im Stehen eine Tasse trank, bevor es an die Arbeit ging? Philip seufzte. Irgendwann würde es leichter werden. Vielleicht.

      Er öffnete die Fallakte, an die, wie eine Mahnung, noch immer die handgeschriebene Notiz geheftet war.

      Beginnen Sie mit diesem.

      »Schon bevor er vergiftet wurde, legte Professor Brown diese Akte an. Er ist stets davon ausgegangen, vor uns zu sterben, und will uns etwas mitteilen, worüber er zu Lebzeiten nicht sprechen konnte. Vermutlich handelt es sich dabei um eine sehr persönliche Angelegenheit. Wir verfügen nicht über viele Informationen, sondern wissen lediglich, was er für uns zusammengestellt hat. Hier ist seine handschriftliche Aufzeichnung über die Meuterei der Garnison in Merath, Indien, im Mai 1857. Er schreibt, dass er sich zu diesem Zeitpunkt im Rahmen seines Anthropologiestudiums mit Kommilitonen aus Oxford und einem Professor in der Gegend aufhielt. Was genau er dort gemacht hat, geht nicht aus den Aufzeichnungen hervor, er bleibt recht vage. Die einzigen Personen, die er namentlich erwähnt, sind ein gewisser Colonel Alfred Ellingford, der in Diensten der Ostindien-Kompanie stand und ein schottischer Studienkollege namens Merrit Fraser. Sowohl Professor Brown als auch Mister Fraser wurden während des Aufstands in ein Krankenhaus eingeliefert. Es muss sich um ein schlimmes Massaker gehandelt haben, bei dem nicht nur Soldaten, sondern auch zahlreiche Zivilisten ums Leben kamen.«

      »Wenn ich mich recht erinnere, gilt die Meuterei in Merath als Beginn des Sepoy-Aufstandes«, warf Doktor Pebsworth ein.

      Lord Philip sah in aufmerksam auf ihn gerichtete Augen und dann auf seine Notizen. »Ganz recht. Ich muss gestehen, dass ich diesbezüglich historisch nicht allzu firm bin, daher habe ich in der Bibliothek nachgelesen. Der Sepoy-Aufstand dauerte etwa ein Jahr, forderte zahlreiche Todesopfer auf indischer wie britischer Seite, markierte das Ende der Ostindien-Kompanie und die formelle Eingliederung Indiens als Kronkolonie ins Empire.« Er machte eine Pause, bis die Kollegen nickten, dann sprach er weiter.

      »Professor Brown wurde vermutlich durch einen indischen Aufständischen verwundet. Er lag viele Monate im Krankenhaus und trat die Rückreise nach England an, sobald es ihm möglich war. Hier«, er hielt einen alten Krankenbericht hoch, »steht, dass ihm eine Wunde mit einer langen Klinge zugefügt wurde. Des Weiteren befindet sich in der Akte der Kupferstich eines Landsitzes namens Ridgeway House. Und eine blonde Haarlocke, die mit einem blassrosa Band zusammengehalten wird«, schloss er leise.

      »Ich wusste es! Eine Herzensgeschichte.« Freddie sprang auf, dabei stieß sie gegen den Servierwagen und der Kaffee schwappte in der Kanne.

      Lord Philip bemerkte, wie Crispin Fox nur mühsam ein Schmunzeln unterdrückte und Freddie zublinzelte. »Da weiß Miss Westbrook mehr als ich. Mir ist nämlich noch immer nicht klar, worum es Professor Brown überhaupt geht. Sollen wir herausfinden, wer ihn verwundet hat? Das scheint mir nach all den Jahren unmöglich. Oder gibt es noch etwas anderes, das mit den beiden Personen, Ellingford und Fraser, zu tun hat? Wir müssen einfach ins kalte Wasser springen.«

      »Das lässt sich wohl nicht vermeiden.« Doktor Pebsworth strich über seinen Schnauzbart. Die Geste wirkte gedankenvoll. Scheute er sich davor, in die Vergangenheit seines verstorbenen Freundes einzutauchen? Das könnte Lord Philip durchaus nachvollziehen, ihm selbst erging es ebenso.

      »Dann schlage ich vor, dass wir zunächst in Erfahrung bringen, wo Ridgeway House steht und wem es gehört, und dann werden wir den Leuten dort einen Besuch abstatten. Dabei ist Fingerspitzengefühl gefragt, denn wir wollen sie ausfragen und wissen nicht, worüber. Das kann schnell in einer peinlichen Situation enden.«

      »Ich übernehme die Recherche«, bot Crispin Fox an. »Und informiere mich gleichzeitig über die Herren Ellingford und Fraser.«

      Dankbar nickte Lord Philip ihm zu. Mister Fox war hervorragend, wenn es darum ging, zügig aussagekräftige Informationen zu beschaffen. Zudem schien er keine Vorbehalte gegen diese sehr persönlichen Ermittlungen zu haben, im Gegenteil, er machte einen eifrigen Eindruck. Der Clubvorsitzende löste die Runde auf und sah auf seine Taschenuhr. Er musste sich beeilen. Fletcher Markward, ein bekannter Mäzen der schönen Künste, hatte zum Konzert geladen. Dieser Abend war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen er sich auf Annabel Arnholtz’ Begleitung freuen durfte. Es lag nicht an ihm, dass er die meisten gesellschaftlichen Verpflichtungen alleine wahrnahm, Annabel lehnte so gut wie jede Einladung ab. Über ihre Beweggründe hatten sie oft diskutiert. Sie fand, es schickte sich nicht, dass ein Mitglied der Upper Class mit einer ehemaligen Bordellbetreiberin ausging. Zu groß wäre die Gefahr, früheren Kunden zu begegnen und Lord Philip zu brüskieren. Ihrer Erfahrung nach waren es gerade diejenigen mit einem Doppelleben, die sich betont konservativ gaben. Annabel verurteilte übertriebene, zur Schau getragene Prüderie und wollte sich nicht mehr mit ihr auseinandersetzen, seitdem sie in ihrem Anwesen in Greenwich ein neues Leben begonnen hatte. Ihr genügten ihre wenigen Vertrauten, neben Lord Philip war dies Iggy Hegan, ihr Ziehsohn, sowie Freda, der gute Geist des Hauses. Der Rückzug aus der Stadt machte sie derart zufrieden, dass sie nicht oft den Wunsch verspürte, am Gesellschaftsleben teilzunehmen. Was wiederum bei Lord Philip für Betrübnis sorgte.

      Er atmete tief durch. Warum fiel es ihm schwer, den Kopf frei zu bekommen? Er sehnte sich nach einem unbeschwerten Abend und danach, die Akte Brown bald schließen zu können.

      Dabei konnte er nicht ahnen, dass ihm weder das eine noch das andere vergönnt sein würde.

      Kapitel 2 – Mayfair – Lord Philip

      Nicht viele Londoner Stadthäuser konnten sich damit rühmen, über einen eigenen Konzertsaal zu verfügen. Ballsäle, ja. Billardzimmer, Orangerien, Bibliotheken, selbstredend. Tiermenagerien und andere Überspanntheiten hoben die reichen Exzentriker sich für ihre Landhäuser auf. Und konzertante Veranstaltungen fanden üblicherweise in Gärten, auf Terrassen oder in einem der zahlreichen ohnehin vorhandenen Räume statt. Niemand baute deswegen gleich ein privates Theater. Außer Fletcher Markward, finanzkräftiger Förderer der schönen Künste. In seinem Palais in Mayfair


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