Die letzte Sinfonie. Sophie Oliver

Die letzte Sinfonie - Sophie Oliver


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aus Afrika. Diamantminen. Oder Gold? Lord Philip erinnerte sich nicht daran, womit Markwards Großvater, ein einfacher Mann ohne Titel und Herkunft, reich geworden war. Der Mittsechziger selbst war im Luxus aufgewachsen, und hatte keinen einzigen Tag seines Lebens gearbeitet. Lieber gab er sein Geld mit beiden Händen aus, was ihm einen Harem an Schmarotzern und Schöntuern bescherte, der ihn auf Schritt und Tritt umschwirrte wie Fliegen einen Kothaufen.

      Er tat Lord Philip leid. Nie konnte er sich sicher sein, ob er wegen seines Geldes oder seines Charakters gemocht wurde. Aber er hatte sich selbst in diese Lage manövriert. Was sprach dagegen, in vornehmem Understatement zu leben? Markward war ein unruhiger Geist, ständig darauf aus, neue Talente zu entdecken und sich deren immerwährende Dankbarkeit zu sichern. Vor allem dann, wenn sie es zu Ruhm und Ehre gebracht hatten. Was sich bei dem Mäzen nie einstellte, war ein Zustand der Zufriedenheit. In Philips Augen ein häufiges Problem derer, die zu schnell an Geld gekommen waren. Sie standen unter dem Zwang, nach außen hin etwas darstellen zu müssen. Was illusorisch und äußerst anstrengend war, denn die wankelmütige Masse – sogar die der sozial Gleichgestellten – änderte ihre Präferenzen unablässig. Wer heute als à la mode galt, konnte morgen schon wieder reizlos sein. Alten Familien hingegen war egal, was jeder Tom, Dick and Harry über sie dachte. Sie hatten Traditionen, die ihnen Würde aufzwangen. Jahrhundertealte Landsitze, Burgen und Schlösser, die bewahrt werden mussten und Zeit und Unsummen verschlangen, was wiederum für Beschäftigung sorgte. Und wenn man sich wie Philip als Vorsitzender eines detektivisch tätigen Herrenclubs für einen anderen Weg entschied, kannte man die Gebräuche, mit denen man brach. Ein Zurückfallen darauf war jederzeit möglich.

      »Lord Philip«, begrüßte Markward ihn mit Bassstimme, in der ein weicher südafrikanischer Akzent mitschwang. »Was für eine Freude, dass Sie es heute Abend einrichten konnten. Noch dazu in reizender Begleitung.« Er war ein imposanter Mann. Das graumelierte Haar aus der breiten Stirn gekämmt, überragte er all seine Gäste. Sein Handschlag war fest und als er lächelte, entblößte er eine Reihe perfekter Zähne, die ein wenig zu weiß strahlten, um echt zu sein.

      Nachdem Philip Annabel vorgestellt hatte, die in ihrem nachtblauen Abendkleid wahrhaft atemberaubend aussah, meinte sie: »Wenn Tschaikowski gespielt wird, kann ich nicht widerstehen. Ich bin eine große Bewunderin seiner Kunst und besonders das heutige Programm hat es mir angetan.«

      Markward nickte schwärmerisch. »Ja, die vierte Sinfonie. Faktum, Schicksal, hat der Meister sie genannt. Und wie treffend ist dieser Name. Mir ist klar, dass sie den Rahmen eines bescheidenen Hauskonzerts etwas sprengt, aber ich habe mir persönlich vom Dirigenten gewünscht, dass sie Teil der Europatournee ist.«

      Das Boston Orchestra, in unablässiger Konkurrenz zum Boston Symphony Orchestra und chancenlos dagegen aus dessen übermächtigem Schatten zu treten, war Markwards neueste Entdeckung. Er bezahlte die Konzertreise und hatte es sich zum Ziel gesetzt, das Ensemble endlich europaweit bekannt zu machen. Dazu hatte er an diesem Abend die Spitze der Londoner Gesellschaft geladen. Lord Philip wusste, dass es sich bei den Musikern um eine begabte Truppe aus unterschiedlichen Ländern handelte. In einem eigens aufgelegten Heft, das Markward seinen Gästen vorab hatte zukommen lassen – ebenso wie der Presse – stellte er die Künstler und deren bisherigen Werdegang vor. Mit Interesse hatte Philip vernommen, dass der Dirigent, Raphael Wilfried, ein in die Vereinigten Staaten ausgewanderter Brite war. Was dort besser sein sollte als in England, fragte sich der Vorsitzende des Sebastian Clubs zwar, aber möglicherweise ergab sich nach dem Konzert die Gelegenheit zu einem Plausch, bei dem er nachfragen konnte.

      Markwards Konzertsaal beeindruckte ihn. Allein im Parkett fanden an die sechzig Personen Platz, dazu kamen die beiden umlaufenden Ränge.

      »Es wundert mich, dass er sich keine Königsloge hat einbauen lassen«, flüsterte Annabel Lord Philip zu.

      »Dafür hat er bei der Ausstattung an Opulenz nicht gespart.« Er wies auf die kristallenen Lüster und den üppigen Stuck. Sie saßen auf ihren Plätzen und ließen das Sehen und Gesehen werden über sich ergehen. Das Ehepaar Shrewsbury, zwei Reihen links hinter ihnen, steckte die Köpfe zusammen und tuschelte, dabei warfen sie auffällige Blicke in ihre Richtung. Lord Philip, der sie aus dem Augenwinkel beobachtet hatte, grüßte freundlich. Die Tochter der Shrewsburys hatte sich eine Zeit lang darum bemüht, ihn in den Hafen der Ehe zu steuern, sich aber zügig umorientiert, als ihre Anstrengungen nicht zielführend waren. Er hatte gehört, dass Mabel mittlerweile nicht nur verheiratet, sondern Mutter eines kleinen Sohnes war.

      Endlich wurde die Beleuchtung gedimmt.

      Im Dunkel des Zuschauerraums nahm Lord Philip Annabels Hand und drückte sie sanft. Der Moment, bevor das Orchester einsetzte, war wie ein tiefes Atemholen. Gespannte Stille legte sich über alle Anwesenden, der Dirigent hob mit theatralisch zackiger Geste den Taktstock und die bombastischen Klänge der Blechbläser eroberten augenblicklich den Raum. Hörner, Posaunen und Trompeten bildeten den Auftakt. Die Holzbläser übernahmen und ein ruhigerer Musikfluss stellte sich ein, bis schließlich die Streicher in karamellweicher Nostalgie an die russische Seele des Komponisten erinnerten, die in jedem einzelnen Takt spürbar war.

      Annabel Arnholtz, den Blick gebannt nach vorne gerichtet, schien kaum zu atmen. Im Profil sahen ihre gerade Nase und die hohe Stirn besonders klassisch aus, wie die Renaissanceschönheiten der italienischen Maler. Sie genoss die Musik und Lord Philip fand ihren Gesichtsausdruck dabei geradezu sinnlich. Zwei Plätze weiter saß Lew Melnikow, ein Exilrusse und Künstler, der seit Jahrzehnten in London lebte. Er wischte sich verstohlen eine Träne weg. Sodann richtete auch Lord Philip seine Aufmerksamkeit vollends auf die Bühne und genoss die Mischung aus Glück und Schwermütigkeit des ersten Satzes. Die Musiker spielten brillant, es war eine Freude, ihnen zuzuhören.

      Zu Beginn des zweiten Satzes, gerade als das Solo der Oboe endete und vom Orchester wieder aufgegriffen wurde, sprang einer der Trompeter unvermittelt von seinem Platz auf und ließ sein Instrument fallen. Er torkelte ein paar Schritte, stieß dabei seinen Notenständer um und kippte gegen den ersten Klarinettisten, an dem er sich abstützte. Er fasste nach Luft ringend an seine Brust. Die anderen Musiker bemerkten, dass etwas nicht in Ordnung war und der Wohlklang der Töne verwandelte sich in Chaos. In Panik oder Schmerz, von seiner Position aus konnte Lord Philip es nicht exakt benennen, stolperte der Trompeter weiter durch die Reihen der Holzbläser. Als auch der letzte Musiker sein Instrument erschrocken sinken ließ, brach der Mann auf Höhe der Bratschen mit einem lauten Gurgeln auf dem Bühnenboden zusammen und blieb liegen. Es wurde noch stiller als zu Beginn des Konzerts.

      Einem Augenblick der Schockstarre folgte Tumult, der ähnlich unisono losbrach, wie zuvor die Musik, gerade so, als hätte der Dirigent den Einsatz dazu gegeben. Zwei seiner Kollegen versuchten dem Trompeter zu helfen, sie beugten sich über ihn, um ihm aufzuhelfen. Was ihnen nicht gelang, denn er schien das Bewusstsein verloren zu haben. Fletcher Markward erklomm die Bühne und tastete nach einem Puls, zuerst am Handgelenk, dann am Hals. Mit Schweiß auf der Stirn lief er nach vorne an den Bühnenrand und spähte hinab in den Zuschauerraum, bis sein Blick auf den von Lord Philip traf. Er winkte den Vorsitzenden des Sebastian Clubs zu sich. Auch Annabel blieb nicht auf ihrem Platz, sondern kämpfte sich mit ihm durch die wild durcheinanderredenden Menschen. Das gestaltete sich kompliziert, denn mittlerweile waren die meisten Zuschauer aufgestanden, verstopften die Durchgänge und Reihen oder drängten nach vorne, um besser sehen zu können.

      Von der Bühne aus winkte Mister Markward nun seinem Personal, das jedoch am entgegengesetzten Ende des Konzertsaals keine Chance hatte, zu ihm vorzudringen.

      »Ruhe!«, brüllte er schließlich über die Köpfe aller hinweg. Und dann noch einmal, »Ruhe, Ladies und Gentlemen, ich bitte Sie!«

      Das Licht ging endlich an und tatsächlich verebbte das Stimmengewirr so weit, dass der Hausherr weitersprechen konnte.

      »Offensichtlich handelt es sich hier um einen Notfall, der meine Aufmerksamkeit braucht. Aber seien Sie beruhigt, ein Arzt ist bereits unterwegs. Ich bin mir sicher, die Situation wird sich in Kürze klären. Ich darf Sie bitten, meinem Personal hinüber in den Salon zu folgen, wo Erfrischungen gereicht werden.«

      Es dauerte etwas, bis sich der Saal soweit geleert hatte, dass Lord Philip und Annabel auf die Bühne klettern konnten.


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