Die letzte Sinfonie. Sophie Oliver

Die letzte Sinfonie - Sophie Oliver


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war giftfrei.«

      »Das will nichts heißen. Im Tumult nach seinem Zusammenbruch hätte vermutlich jeder der anderen Musiker die Flasche austauschen können. Zumal die Koffer der Instrumente alle hinter der Bühne aufbewahrt wurden.«

      Pebsworth nickte zustimmend, bevor er weitersprach. »Der Tote war bei seinen Kollegen nicht beliebt. Das schließt der Chief Inspector aus den bisherigen Vernehmungen. Lediglich mit einem Posaunisten namens Jonah Hillwood schien er befreundet gewesen zu sein. Und dann ist da noch etwas.« Der Doktor faltete den Zettel ordentlich und steckte ihn wieder weg, nahm den Zwicker von der Nase und sah in die Runde. »Es ist lediglich eine Vermutung, nicht mehr als eine Ahnung, der ich aber unbedingt nachgehen muss. Dafür ist es wieder einmal notwendig, den Leichnam zu untersuchen. Was dieses Mal nicht sehr schwierig werden dürfte und ausnahmsweise bei Tageslicht stattfinden kann, denn Scotland Yard hat ihn freigegeben. Er liegt mittlerweile beim Bestatter und wartet darauf, dass jemand die Überführung zurück in die Vereinigten Staaten bezahlt.«

      Freddie, die sich gerade eine weitere Traube nehmen wollte, hielt inne. »Darf ich mitkommen, Doktor Pebsworth? Sicherlich wird man uns einen Blick auf den Toten nicht verwehren, wenn wir zum Beispiel behaupten, für seine Überführung aufzukommen.«

      »Normalerweise begleite ich den Doktor bei derartigen Leichen-Vorhaben«, protestierte Crispin. Aber Freddie ließ sich nicht beirren. Dieses Mal war sie dran.

      Statt sich in einem Nacht-und-Nebel-Einsatz heimlich Zutritt zu verschaffen, betraten sie also am späten Nachmittag die Whitlock and Dods Funeral Company, wo sie von Sherman Dods höchstpersönlich begrüßt wurden. Freddie hatte mit einem vertrockneten älteren Herrn gerechnet und war überrascht, dass es sich bei Mister Dods um einen äußerst attraktiven Mittdreißiger handelte, groß, dunkelhaarig und mit pietätvoll gesenkter Stimme.

      »Wenn Sie mir bitte nach hinten folgen wollen.« Er wies auf den Durchgang, der zu einem fensterlosen Raum führte, in dem der Tote aufgebahrt im offenen Sarg lag. Zwei hohe Messingleuchter mit brennenden Kerzen standen rechts und links daneben. An der Decke hing ein schwarzer Baldachin mit goldener Einfassung und Troddeln an den Ecken. Und einer Räucherschale entströmte das Aroma von Salbei, Rosmarin und Lavendel, was für eine stickige Atmosphäre im viel zu warmen Zimmer sorgte. Das sicherlich gut gemeinte Raumparfüm vermochte den eigenartigen Geruch nicht vollständig zu übertünchen, der bei Freddie Übelkeit aufkommen ließ. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Mischung aus verschiedenen Einbalsamierungschemikalien, aber sie redete sich ein, es wäre der Geruch des Todes. In sich horchend meinte sie gar, süßliche Verwesung auf der Zunge zu schmecken. Rasch presste sie ein Taschentuch vor Mund und Nase.

      »Trauern Sie nur. Es ist ganz normal, am Sarg von Gefühlen übermannt zu werden. Standen Sie einander sehr nah? Ich dachte, Mister Belami wäre nur auf Durchreise in London gewesen? Übrigens sehr lobenswert von Ihnen, den Verblichenen in seine Heimat zu überführen.« Der Bestatter wiegte auf den Hacken vor und zurück.

      Doktor Pebsworth warf Freddie einen alarmierten Seitenblick zu. Sicher stellte sich Crispin nie derart an. Tapfer trat sie näher an den Sarg und steckte das Taschentuch wieder weg.

      »Miss Wesbrook ist ein sehr gütiger Mensch«, erklärte der Doktor salbungsvoll. »Und mit großem Mitgefühl gesegnet.« Nach einem Blick auf den Toten bemerkte er: »Schön haben sie Mister Belami vorbereitet. Ich habe nur noch einen letzten Wunsch. Seien Sie bitte so freundlich und nehmen Sie seinen Bart ab.«

      »Wie bitte?« Mister Dods blinzelte.

      »Ich hätte gern, dass sein Gesicht glattrasiert ist.«

      »Äh. In Ordnung. Ich werde es vor der Überführung erledigen.«

      »Machen Sie es sofort, bitte.« Pebsworth zückte eine Banknote und drückte sie dem Bestatter in die Hand. Dem war die Situation sichtlich unangenehm, aber er ging ohne ein Wort hinaus und kam kurz darauf mit Rasiermesser und Seife zurück.

      »Wollen Sie zusehen?«

      Sicher wäre es ihm lieber, sie würden hinausgehen und ihn seine Arbeit erledigen lassen, aber der Doktor bestand darauf, anwesend zu bleiben.

      Achselzuckend breitete Mister Dods ein Tuch über den Anzug des Toten und seifte dessen Gesicht ein. Wenn er verwundert war, gab er sich Mühe, es zu überspielen. Allerdings hatte er in seinem Geschäftsfeld sicherlich schon Abstruseres erlebt als den Wunsch nach einer Leichenrasur.

      Freddie stand mit weit aufgerissenen Augen dabei und sah zu, wie Sherman Dods fachmännisch und ohne mit der Rasierseife zu kleckern, den Vollbart entfernte. Die Haut darunter leuchtete gräulich blass.

      Mit einem »Sieh an, sieh an!«, verschränkte der Doktor die Arme vor der Brust und studierte das Gesicht der Leiche eingehend. »Dachte ich’s mir doch«, murmelte er vor sich hin und wandte sich dann erneut an den Bestatter.

      »Vielen Dank, Mister Dods, Sie haben mir sehr weitergeholfen. Allerdings, fürchte ich, müssen wir auf eine Überführung verzichten. Dafür werden Sie bestimmt eine opulente Beisetzung ausrichten dürfen, wenn wir der Familie dieses bedauernswerten Herrn mitteilen, dass der verlorene Sohn zurückgekehrt ist. Also seien Sie bitte so gut und legen Sie ihn auf Eis, bis weitere Anweisungen folgen, damit die Hitze ihm nicht zusetzt und er fortdauernd ansehnlich bleibt.« Mit einem Schulterklopfen und einer zweiten finanziellen Zuwendung ließ er den verdutzten Dods stehen.

      Draußen dirigierte er Freddie über die Straße, direkt in ein Kaffeehaus und an den nächsten freien Tisch.

      »Blimey, das muss ich erst einmal sacken lassen«, stieß er hervor.

      »Möchten Sie mit mir darüber sprechen?« Freddie brannte darauf zu erfahren, was es mit Doktor Pebsworths sonderbarem Verhalten auf sich hatte.

      Der schaute nach links und rechts, als müsse er sich versichern, dass sie nicht belauscht wurden. Dann beugte er sich zu Freddie und flüsterte: »Diese dominante Nase von Carl Belami kam mir bekannt vor. Ich wusste auf den ersten Blick, dass ich den Mann schon mal gesehen habe. Wie Sie wissen, habe ich ein gutes Gedächtnis, was Menschen betrifft. Aber so viel ich auch gegrübelt habe, es wollte mir partout nicht einfallen. Erst als er glattrasiert vor mir lag, ist mir klar geworden, wer Carl Belami in Wirklichkeit ist.«

      Freddie faltete die Hände im Schoß. Nach außen hin gab sie sich Mühe, gelassen zu tun, innerlich war sie zum Bersten gespannt.

      »Sein Name ist Charles Bosworth und er war keineswegs Amerikaner, sondern ebenso british wie Sie und ich. Er kam aus gutem Hause. Seinem Vater, Charles Bosworth senior, gehörten die Bosworth Werke. Der Junior war ein schwarzes Schaf, wie es im Buche steht. Keinerlei Interesse für das Unternehmen, stattdessen trank und spielte er und stellte jedem Rock nach. Sein Lotterleben fand vor etwa fünfundzwanzig Jahren ein jähes Ende, als sich ein junges Mädchen seinetwegen das Leben nahm.« Er senkte die Stimme noch ein wenig weiter. »Angeblich hat er ihr die Ehe versprochen, das verliebte Ding schamlos entehrt und dann sitzen lassen.«

      Die Getränke wurden gebracht, Tee für Freddie und ein Kaffee mit Likör für den Doktor.

      »Meiner Meinung nach ist ein Selbstmord aus Herzensgründen eine dumme Überreaktion, weil Gefühle ebenso rasch erkalten können, wie sie entflammen«, erklärte er. »Aber das Feuer der Jugend lodert bisweilen unkontrollierbar.« Er räusperte, um die Servierkraft erneut auf sie aufmerksam zu machen und bestellte auch noch Kuchen für sie beide. Freddie würde vor Aufregung keinen Bissen hinunterbekommen. Sie brannte darauf, dass er fortfuhr.

      »Bosworth senior befürchtete einen geschäftsschädigenden Skandal. Sein Unternehmen bedeutete ihm alles, deswegen schaffte er seinen Sohn außer Landes. Es wurde gemunkelt, er hätte ihn mit einem Bündel Geld auf einen Überseedampfer gesetzt und wollte nichts mehr von ihm wissen. Er konnte ihm nie verzeihen, dass er den Ruf der Familie auf Spiel gesetzt hatte. Jedenfalls hat man seither nie wieder etwas von Charles Bosworth junior gehört.«

      »Bis das Boston Orchestra im Hause Markward auftauchte«, murmelte Freddie. »Denken Sie, die Familie steckt hinter dem Mord?«

      »Auf keinen Fall. Charles’ Vater ist seit Jahren tot, die Mutter bettlägerig.


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