Die letzte Sinfonie. Sophie Oliver
wie ein Raubvogel. Es bereitete ihm Freude, auf die Fehler anderer herabzustoßen, die Krallen in sie zu schlagen und ans Licht zu zerren. Er war magnifique darin, Menschen bloßzustellen. Was das für Auswirkungen auf ein Orchester voller sensibler Künstler hat, muss ich Ihnen wohl nicht näher erläutern.«
Auch Verbier gab sich verblüfft, als sie ihm die tatsächliche Identität des Mordopfers eröffneten. Natürlich.
Nachdem sich die Detektive mit zahlreichen Herren unterhalten hatten, war Freddie geneigt, Laurence Verbier Glauben zu schenken. Zwar äußerte sich keiner der anderen derart offen gegen den Toten wie der Franzose, aber aus allen Aussagen hörten sie heraus, wie unbeliebt der Trompeter gewesen war. Ein Mordmotiv fanden sie allerdings nicht.
Erst als die Reihe an Jonah Hillwood war, Posaunist und ein Mann mittleren Alters mit Pausbacken, der nervös blinzelte, hörte Freddie so etwas wie Trauer.
»Ein schrecklicher Verlust für uns alle«, murmelte er vor sich hin. »Carl war wahnsinnig talentiert, ein exzellenter Musiker.«
»Monsieur Verbier sieht das anders.«
»Mag sein, Lord Philip. Weil er scharf auf seinen Posten ist. Aber er wird die Lücke nicht füllen können, obwohl er sich für Gott weiß wie gut hält.«
»Meinen Sie, er hat Mister Belami ermordet, um erster Trompeter zu werden?«
Hillwood riss die Augen auf und ruderte zurück. »Oh nein, Mylord, keineswegs. Ich spreche von gesunder professioneller Konkurrenz, mehr nicht. Sie haben mich missverstanden. In meinem Metier tötet niemand wegen eines Orchesterpostens. Was glauben Sie, wie viel wir verdienen? Uns gehören nicht einmal die Instrumente, auf denen wir spielen. Alles nur Leihgaben der Stiftung. Ginge es nach Mister Wilfried, wären Ruhm und Ehre Lohn genug. Carl hat sich getraut, den Mund aufzumachen. Er scheute nicht davor zurück, auch mal zu sagen, dass nicht nur wir auf Mister Wilfried angewiesen sind, sondern er ebenso auf uns. Und dass er seine Musiker vernünftig entlohnen muss.« Aufgeregt atmend hielt er inne.
Für Freddies Ohren klang Jonah Hillwoods Südstaatenakzent wie ein exotischer Singsang, besonders wenn er sich in Rage redete, wie eben. Seine volle Unterlippe zitterte sogar etwas. Auf seiner Stirn standen feine Schweißperlen, die er mit einer fahrigen Bewegung wegwischte.
»Mister Hillwood«, sprach sie ihn mit sanfter Stimme an. »Hat Carl Belami Ihnen erzählt, dass sein eigentlicher Name Charles Bosworth war und er der Sohn eines britischen Industriellen?«
Ein ungläubiges Prusten entfuhr dem Posaunisten, er griff hinter sich und sank auf einen Sessel. »Nein. Also. Nein. Aber, er hätte doch … Ich war sein Freund, ich, ich …« Kopfschüttelnd brach er ab.
»Sie meinen, Sie standen einander nahe und er hätte Sie bestimmt in sein Geheimnis eingeweiht?«
»Das hätte ich eigentlich erwartet. Immerhin saßen wir täglich im Orchester nebeneinander, als Stimmführer. Wir waren ständig zusammen, teilten uns auf Reisen ein Zimmer. Warum hat er seine Identität verschwiegen?« Hillwood schaute mit runden Kulleraugen von einem Detektiv zum nächsten.
»Er mag sich zwar geben wie ein tapsiges Bärchen, aber das nehme ich ihm nicht ganz ab. Vermutlich kultiviert Mister Hillwood diesen Eindruck bewusst nach außen hin. Und ob er tatsächlich dicke mit dem Toten befreundet war? Hm …« Freddie sah versonnen aus dem Fenster. Sie saß mit Crispin Fox in der Küche von Annabel Arnholtz’ Haus in Greenwich. Iggy Hegan, ehemaliger Gassenjunge und mittlerweile so etwas wie Annabels Ziehsohn, stand am Herd und goss kochendes Wasser auf die Teeblätter in der Kanne.
»Diese Musiker machen uns doch alle was vor«, schimpfte Crispin neben ihr. »Die schließen die Reihen und halten dicht. Laurence Verbier kann seine Freude darüber, zum ersten Trompeter aufgestiegen zu sein, kaum beherrschen. Und der Dirigent würde uns am liebsten fortscheuchen und zur Tagesordnung übergehen. Was sind das nur für Menschen?«
»Künstler eben. Für die zählt nichts anderes als ihr Gefiedel«, bemerkte Iggy mit ironischem Unterton. Für sein jugendliches Alter – mit achtzehn Jahren sah er keinen Tag reifer aus als fünfzehn – besaß er eine umfassende Lebenserfahrung, die einem harten Alltag auf der Straße und im Armenhaus geschuldet war. Sein Unterkommen bei Annabel Arnholtz war die Rettung für den Jungen gewesen. Und auch gewissermaßen für die Hausherrin, die ihn in ihr Herz geschlossen hatte.
»Warum kochst du den Tee und nicht Freda?«, fragte Freddie dazwischen.
»Weil ihr Gebräu abscheulich schmeckt«, flüsterte Iggy mit sichtbarem Schaudern.
Freddie grinste. Freda hatte vormals als Dirne im Bordell von Annabel gearbeitet und war als Hausangestellte mit ins neue Leben übernommen worden. Die resolute Endvierzigerin gab sich redlich Mühe in der Küche, aber eine gute Köchin würde aus ihr nicht mehr werden. Umso besser, dass Iggy Gefallen daran fand, wohlschmeckende Gerichte zu zaubern und den Tee zuzubereiten. Der Junge steckte wirklich voller Überraschungen. Er hatte eine Vorliebe für gute Schuhe und schicke Anzüge. Über der modisch grau karierten Hose trug er eine ordentlich geknotete Küchenschürze, um sein weißes Hemd zu schützen. Kurz vor Ankunft der Ermittler hatte er Scones gebacken, die auf einer Etagere angerichtet darauf warteten, serviert zu werden. In der Küche lag ein herrlicher Duft nach Kuchen und Marmelade, vermischt mit Kräuterwohlgerüchen, die durch die offen stehende Hintertür aus dem Gemüsegärtchen hereinwehten. Es herrschte eine entspannte Atmosphäre. Wann immer Freddie zu Besuch bei Annabel Arnholtz war, zog es sie sofort in die Küche, wo Iggy ein heimeliges Ambiente geschaffen hatte, nach dem er sich wohl auch selbst gesehnt hatte. Darüber hinaus wollte sie ihrem Onkel Zeit allein mit Annabel gönnen und nicht ständig wie eine Anstandsdame dabeisitzen.
Es war für Freddie nicht immer einfach, die Frau an der Seite ihres Onkels zu akzeptieren, obwohl sie Annabel schätzte und wusste, wie tief die beiden füreinander empfanden. Ihre Bedenken begründeten sich nicht in Eifersucht. Vielmehr verspürte sie Mitleid, weil Lord Philip Dabinott und Annabel Arnholtz sich aufgrund von bornierten Klassenressentiments ihrer Mitmenschen wahrscheinlich nie öffentlich zueinander würden bekennen können. Sie würde stets die Geliebte bleiben, über die getuschelt wurde, und er offiziell Junggeselle. Wegen des Altersunterschieds von lediglich zwölf Jahren betrachtete Freddie ihren Onkel eher wie einen Bruder. Dem der Weg in die Ehe mit Annabel verwehrt blieb. Es durfte gemunkelt und gemutmaßt werden, aber eine ordentliche Beziehung zwischen dem Adligen und der ehemaligen Bordellbesitzerin galt als ausgeschlossen. War das vielleicht besser so, nun da Lord Philip die Nachfolge von Professor Brown als Vorsitzender des Sebastian Clubs angetreten hatte? Auch Brown war zeitlebens ungebunden geblieben und hatte sich vornehmlich auf seine Arbeit konzentriert. Lord Philip war erst sechsunddreißig, Annabel um die Vierzig. Vor ihnen lag eine familienlose Zukunft.
Um auf andere Gedanken zu kommen, trug Freddie die Etagere hinüber in den Salon, wo sie ein Glänzen in Doktor Pebsworths Augen zauberte. Nach der anstrengenden Befragung der Musiker hatten sich die Ermittler nach Greenwich zurückgezogen. Annabels Haus war mittlerweile eine weitere fixe Anlaufstelle für Treffen und Besprechungen geworden. Oder einfach nur, um in privatem Rahmen gemütlich Tee zu trinken.
»Scones!«, rief der Doktor aus. »Mit Erdbeermarmelade!«
»Von Iggy höchstselbst gebacken«, sagte Annabel, die neben Lord Philip auf einem Sofa mit elegant geschwungener Rückenlehne saß.
»Köstlich. Der junge Mister Hegan entwickelt ungeahnte Talente. Wer hätte das gedacht, als er zerlumpt im Gebüsch vor Ihrem Haus auf der Lauer lag, Lord Philip?«
»Also ich habe sein Potenzial schon damals erkannt«, behauptete der, bevor er sich an seine Nichte wandte. »Du hattest dich vorhin gut unter Kontrolle. Ich kann mir vorstellen, wie Mister Wilfrieds Einstellung dich enerviert hat, aber du hast dich zurückgenommen, um die Befragung nicht zu erschweren. Respekt, Freddie.«
»Er ist ein Esel«, sagte sie dumpf.
»Dem wir leider weiterhin auf den Zahn fühlen müssen.« Er wollte noch etwas hinzufügen, hielt aber sichtlich irritiert inne. »Von wem sind die Blumen, Annabel?«
Auf einem Beistelltisch stand ein Strauß weißer Rosen.
»Von