Nur Ja! heißt ja. Machlus
du nun heterosexuell, asexuell, homosexuell oder als androgyn-queere Femme mit Doc Martens, Lippenstift und einem Faible für Beyoncé unterwegs bist: Deine sexuelle Orientierung ist perfekt, genau wie sie ist. Menschen nehmen oft an, dass andere Menschen automatisch heterosexuell sind, sofern sie sich nicht ausdrücklich ›outen‹. Diese Voreingenommenheit sowie die Diskriminierung anderer sexueller Orientierungen beruhen auf der Vorstellung, dass sexuelle Anziehung zum ›gegensätzlichen Geschlecht‹ die Norm ist, und werden Heterosexismus genannt. Ob wir unsere sexuelle Orientierung von den Dächern rufen oder sie für uns behalten, ist eine persönliche Entscheidung. Wie und wann wir entscheiden, anderen von unserer sexuellen Orientierung zu erzählen, liegt an uns – nur an uns. Es ist nie okay, eine andere Person zu ›outen‹, es kann tatsächlich gefährlich für sie sein.
Sexuelle Orientierung kann ein heikles Thema sein und sollte entsprechend vorsichtig behandelt werden. Anstatt eine Person über ihre sexuelle Orientierung zu befragen, ist es am besten, die Person selbst das Thema aufbringen zu lassen, wann immer es sich für sie gut anfühlt. Dabei ist es nie angemessen, die sexuelle Identität, die eine Person mitgeteilt hat, infrage zu stellen. Vielleicht ist die Person zwar in einer heterosexuellen Beziehung, identifiziert sich aber als queer; oder sie hatte Dates, sieht sich aber als asexuell; oder sie hatte früher heterosexuelle Begegnungen, ist aber homosexuell; usw. Wenn Menschen miteinander über ihre sexuelle Identität sprechen, ist das eine Gelegenheit, zuzuhören und etwas Intimes von einer anderen Person zu erfahren. Doch am Ende des Tages ist die sexuelle Orientierung nur ein kleiner Bestandteil dessen, was uns als einzigartige Individuen ausmacht. Sie muss nicht unbedingt andere Aspekte unserer Persönlichkeit bestimmen.
1.4Sex haben
Was ist Sex? Die Antwort auf diese Frage ist längst nicht so offensichtlich, wie es scheint. Sex ist jede konsensuelle – das heißt einvernehmliche, allseits gewollte – Handlung, den eine Person alleine oder mit anderen Menschen zusammen zur körperlichen und/oder emotionalen Lust und/oder Erregung durchführt. Richtig, jede konsensuelle Handlung. Sex ist nicht bloß Penis-in-Vagina-Penetration. Tatsächlich ist Sex überhaupt nicht auf Penetration beschränkt. Oralsex ist Sex und Sex allein oder gemeinsame Masturbation sind auch Sex. Einander anfassen, es in Klamotten treiben – alles Sex.
Im Gespräch, und gewiss in jeder romantischen Komödie, wird immer wieder angenommen, das Wort »Sex« bezeichne das Eindringen eines Penis in eine Vagina. Dieses Modell von Sex ist cis- und heteronormativ, weil es die Lust von heterosexuellen cis Männern ins Zentrum stellt. Cis- und heteronormativer Sex wird üblicherweise als ein Sprint zur Ziellinie verstanden; die Ziellinie ist die Penetration und der Orgasmus des Mannes. Trotz seiner kulturellen Dominanz schränkt Penis-in-Vagina-Sex das Vergnügen und die Lust aller Beteiligten erheblich ein. Laut der Forschung von Elisabeth Lloyd für ihr Buch »The Case of the Female Orgasm: Bias in the Science of Evolution« (dt. etwa: Der Fall des weiblichen Orgasmus: Voreingenommenheit in der Evolutionswissenschaft) kommen nur 25 Prozent der Frauen konsequent durch vaginalen Verkehr zum Orgasmus. Bezüglich Penetration als »durchschnittliche(m) sexuellen Akt« stellt sie fest:
»Die Dauer eines durchschnittlichen sexuellen Akts ist 7,3 Minuten, doch ›erstaunliche‹ 43 Prozent solcher Akte sind nach 2 Minuten vorbei.«7
Glücklicherweise ist das bei Weitem nicht die einzige Möglichkeit, Sex zu haben. Zumal nicht alle einen Penis haben, ihren Penis benutzen möchten oder irgendwo in der Nähe eines Penis sein möchten.
Wie ist es dazu gekommen, dass sich die Mainstream-Sexkultur so stark auf die Lust von Männern fokussiert? Da wir in einem patriarchalen System leben – einem System, in dem Männer unverhältnismäßig viel Macht innehaben – verwundert es nicht, dass das auch beim Sex so ist. Dabei ist dieser Fokus auf die Penis-in-Vagina-Penetration auch für Männer nicht unbedingt von Vorteil. Tatsächlich nützt es Männern nichts, dass der ganze Leistungsdruck auf ihnen liegt, während Statistiken zu Penisgröße, Penetrationsdauer und dem Orgasmus von Frauen gegen sie sprechen. Sich aus den Beschränkungen der Penis-in-Vagina-Penetration zu lösen, eröffnet eine viel lustvollere Welt für alle.
Das Ziel von Sex ist immer, dass alle Beteiligten (eine Menge) Lust erfahren. Das muss nicht unbedingt ein Orgasmus sein. Egal welches Geschlecht die beteiligten Personen haben: die Lust einer Person sollte niemals über die Lust einer anderen gestellt werden. Sex ist nichts, was eine Person mit einer anderen Person macht, sondern eine Sammlung gemeinsamer Erfahrungen. Oralsex und andere Formen, die häufig als ›Vorspiel‹ gelten, sind keine Schritte auf dem Weg zur Penetration: sie sind selbst ganze Akte. Penetration und/oder Stoßbewegungen sind kein notwendiger Teil von Sex. Es ist ein lustvolles und lehrreiches Spiel, Penetration mal von der Speisekarte zu streichen und andere Möglichkeiten zu erkunden, einander Lust zu bereiten. Die Sexforscherin Shere Hite hat in ihrer bahnbrechenden Studie von 1976, dem »Hite Report«, Hunderte von cis Männern und Frauen zu ihrer Lust befragt und berichtet darüber, wie eine gleichberechtigte Penetrationserfahrung zwischen einem Mann und einer Frau aussehen würde:
»Stoßbewegungen würden nicht, wie derzeit, als nötig erachtet (…) Es könnte mehr wechselseitiges Miteinander-Liegen und Genießen geben, Penis in Vagina, Vagina umschließt Penis, wobei der weibliche Orgasmus einen großen Teil der Stimulierung bietet, die für den männlichen Orgasmus nötig ist.«8
Der Gebrauch von Händen, Armen, Mündern, Vibratoren, Strap-Ons und anderen Objekten kann eine viel andauerndere sexuelle Lust ermöglichen, ohne dass ein einziges Körperteil ins Zentrum der Erfahrung gerückt wird. Spielzeug einzubeziehen und unsere Körper (mit Strap-Ons usw.) zu erweitern – was auch immer sich gut anfühlt –, kann eine willkommene Ergänzung einer sexuellen Erfahrung sein und sagt nichts über die sexuelle Leistungsfähigkeit einer Person aus. Wenn eine Person beim Sex einen Vibrator benutzen möchte, bedeutet das nicht, dass ihre Partner*in/nen auf irgendeine Weise nicht ausreichen. Und nur weil eine Person ein bestimmtes Körperteil hat, bedeutet das nicht, dass sie es benutzen muss. Viele Menschen ziehen es vor, nicht in eine andere Person einzudringen, möchten nicht penetriert werden oder wollen an bestimmten Körperstellen nicht berührt werden o.ä.
Sex endet, wenn alle Beteiligten auf Grundlage ihrer eigenen, immer veränderlichen, Definition von Befriedigung und sexuellem Vergnügen erfüllt sind. Es gibt beim Sex keine Listen, die es abzuhaken gilt. Sex beginnt nicht an einem bestimmten Punkt und führt von dort linear zu einem anderen (wie langweilig wäre das denn?), um im Orgasmus zu enden. Während der Orgasmus ein toller Teil von Sex sein kann, ist er kein Höhepunkt, sondern die ganze Erfahrung ist köstlich. Ein Orgasmus kann Zeit erfordern, wiederholte Versuche, Experimentieren und Geduld. Vielleicht kommt ein Orgasmus schon nach 5 Sekunden, was nicht schlimm ist. Druck auf eine Person auszuüben, einen Orgasmus zu haben oder nicht zu haben, ist sicher kein Erfolgsrezept. Auch wenn Orgasmen nicht Teil deiner sexuellen Erfahrung sind, kann Sex voller wilder Lust sein. Diese Verantwortung, Lust zu schenken und zu empfangen, teilen alle Beteiligten miteinander – es gibt im Sex keinen passiven Part. Auch wenn es eine Person anmacht, sich zu unterwerfen, ist das eine aktiv getroffene Entscheidung.
Dieses einbeziehende queere Modell von Sex zeigt uns eine viel spannendere Ausgangslage von Sex als Ganzem. Sex beginnt bei Null, ohne Vorannahmen über irgendwelche Handlungen, die stattfinden werden. Jede Person bereist den einzigartigen Körper einer anderen auf der Grundlage von Fragen über deren persönliche Begehren und Wünsche und teilt zugleich die eigenen mit ihr. Es werden keine körperlichen oder emotionalen Vermutungen getroffen und nichts passiert, ohne dass die beteiligten Personen es wollen. Passiv zu sein oder etwas einfach geschehen – oder gar über sich ergehen – zu lassen, ist keine Option, weil es sich nicht gut anfühlt (außer in einer vereinbarten BDSM-Situation; BDSM ist die englische Abkürzung für »Bondage, Discipline, Dominance and Submission, Sadism and Masochism«, dt.: Fesseln, Disziplin, Dominanz und Unterwerfung, Sadismus und Masochismus).