Nur Ja! heißt ja. Machlus

Nur Ja! heißt ja - Machlus


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du in deinem Biologieschulbuch gelesen, dass 1923 das X- und das Y-Chromosom – bloß ein Haufen verschwommener Flecken in der Form von Kidneybohnen unter einem Mikroskop – entdeckt und als »Geschlechtschromosomen« bezeichnet wurden. Die grundlegendste Behauptung dieser Forschung war, dass Menschen, die XX-Chromosomen tragen, eine Vagina haben und Menschen, die XY-Chromosomen tragen, einen Penis haben. Ende der 1970er Jahre hatte die DNA-Revolution begonnen – im Vorlauf des Humangenomprojekts, das die Gesamtheit des menschlichen Genoms entschlüsseln wollte. Hierbei kamen weitere Forschungen zu dem Ergebnis, dass es viele Ausnahmen von der Theorie der zweiteiligen ›Geschlechtschromosomen‹ gibt. In Tests wurde gezeigt, dass es auch ›Frauen‹ gab, die XY-Chromosomen trugen, und Menschen mit Penis und Hoden, die XX-Chromosomen trugen – sowie eine endlose Zahl weiterer Kombinationen.

      1990 wurde dann ein einzelnes Gen entdeckt, das nun tatsächlich für die Bestimmung der Genitalien verantwortlich sein sollte, die sich in einem Körper herausbilden. Das bedeutete, dass nicht das X- oder Y-Chromosom, sondern ein winziges Gen namens SRY auf dem Y-Chromosom das bestimmt, was als ›biologisches Geschlecht‹ bezeichnet wurde. Das SRY-Gen, oder die geschlechtsbestimmende Region auf dem Y-Protein, funktioniert wie ein Schalter, der die Erzeugung ›männlicher‹ Genitalien anregt. In ihrer frühen Entwicklung sind alle Föten ›weiblich‹, das ›Standard‹-Geschlecht eines jeden Menschen ist also ›weiblich‹. Wenn jedoch das SRY-Gen aktiviert ist, wird die Entwicklung der Hoden ausgelöst. SRY muss aktiviert sein, damit ›männliche‹ Genitalien entstehen können, aber wir verstehen noch immer nicht gänzlich, wie SRY aktiviert wird und welche Ereigniskette genau auf seine Aktivierung folgt, die zur Bildung von Hoden führt. Wir wissen aber, dass eine Person mit XY-Chromosomen, der das SRY-Gen fehlt, keine ›männlichen‹ Genitalien ausbildet, sondern ›weibliche‹.

      2011 veröffentlichten Dr. David Zarkower und Dr. Vivian Bardwell in der Fachzeitschrift »Nature« eine Studie mit ziemlich verblüffenden Ergebnissen über ein weiteres Gen namens DMRT1, die Abkürzung für »Doublesex And Mab-3 Related Transcription Factor 1«.2 Bei Menschen und anderen Tieren drückt sich dieses Gen in Form von Hoden aus. In Versuchen mit Labormäusen werden erstaunlicherweise die Hodenzellen zu Gebärmutterzellen, wenn das DMRT1-Gen entfernt wird. Im Wesentlichen hatten die Zellen ihr Geschlecht geändert und die zuvor ›männliche‹ Maus bildete nun Uterus-Zellen. Diese Gene, die in Mäusen, Menschen und vielen anderen Tieren zugegen sind, scheinen die Fähigkeit zu haben, das ›biologische Geschlecht‹ eines Wesens zu verändern, indem sie die Entwicklung der Gonadenzellen beeinflussen.

      Entscheidend für ein Verständnis der Fluidität – der Veränderlichkeit – des ›biologischen Geschlechts‹ ist die Tatsache, dass wir alle unser Leben lang die SRY- und DMRT1-Gene in uns tragen und dass diese Gene entweder aktiviert (exprimiert) oder deaktiviert (supprimiert) werden können. Stellen wir uns die Gene zum Beispiel als ein Auto vor, dessen Motor läuft und das bergab steht. Entweder musst du den Fuß auf’s Gas setzen (Genaktivierung und -expression) oder du trittst die Bremse (Geninaktivierung und -suppression). Wie beim Umgang mit dem Auto ist die Aktivierung oder Inaktivierung eines Gens ein aktiver Prozess; es gibt keinen Standardzustand. Wenn du den Fuß von der Bremse nimmst, wird der Wagen losfahren und so ähnlich ist es mit einem Gen. Somit haben alle ›weiblichen‹ Tiere das SRY- und DMRT1-Gen, aber sie werden dauerhaft supprimiert. Hört die Suppression auf – wie wenn du den Fuß von der Bremse nimmst –, wird der Genausdruck ermöglicht. Das bedeutet, dass der Zustand des Gens immer offen für Veränderung ist. Im Falle von DMRT1 ist es bei ›Männern‹ aktiv und bei ›Frauen‹ supprimiert. Hinzu kommt die Tatsache, dass Gene üblicherweise nicht zu 0 oder zu 100 Prozent exprimiert werden, sondern irgendwo dazwischen, wodurch ein endloses Spektrum an ›biologischen Geschlechtern‹ bei Menschen entsteht.

      Ich schreibe hier von diesen ganzen wissenschaftlichen Erkenntnissen, um festzustellen, dass Menschen immer die Fähigkeit in sich tragen, ihr ›biologisches Geschlecht‹ zu verändern; wir alle tragen in unserer biologischen Verfasstheit ein viel breiteres und komplexeres Spektrum als ›männlich‹ oder ›weiblich‹. Die Fähigkeit, das ›biologische Geschlecht‹, z.B. Genitalien, zu verändern, ist nicht einzigartig, sondern tatsächlich bei Hunderten von Tierarten auffindbar. Die Theorie von zwei Geschlechtern, der Zweigeschlechtlichkeit, hat noch nie Sinn ergeben, denn auf der grundlegendsten Ebene hat es immer körperliche Ausnahmen von dieser Regel gegeben. Mittlerweile ist die Wissenschaft weit genug fortgeschritten, um auf molekularer Ebene zu erkennen, dass das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht nicht aus objektiven Kategorien hervorgeht, sondern vielmehr aus einer gesellschaftlichen Entscheidung darüber, wie Menschen aussehen und sich verhalten sollen.

      Neben den Genitalien werden auch viele weitere Eigenschaften mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht verknüpft. Von Frauen wurde aufgrund eines vermeintlich größeren Hippocampus – der Hirnregion, die für Emotionen und Sinne zuständig ist – angenommen, dass sie ein breiteres Gefühlsspektrum hätten und diese Gefühle besser ausdrücken könnten (d.h. Frauen seien emotionaler, weinten mehr, seien eifersüchtiger oder gehässiger). Eine Analyse von 76 publizierten Fachtexten mit einer Gesamtzahl von 6000 Testpersonen, die unter Leitung der Neurowissenschaftlerin Lise Eliot an der Rosalind Franklin University of Medicine and Science durchgeführt wurde, entlarvte diese Theorie und fand heraus, dass der Hippocampus bei Männern und Frauen gleich groß ist.3 Ähnliche Forschung zu Hirnfunktionen haben immer wieder dasselbe herausgefunden: Es gibt keinen merklichen Unterschied zwischen den Gehirnen von Menschen, die nach dem ›biologischen Geschlecht‹ in Männer und Frauen eingeteilt werden. Eliot sagt in einer Pressemitteilung zu den Ergebnissen der Studie:

      »Geschlechtliche Unterschiede im Gehirn sind unwiderstehlich für jene, die stereotype Unterschiede zwischen Männern und Frauen nachweisen wollen. (…) Unsere Untersuchung verschiedener Datenreihen, wobei wir sehr große männliche und weibliche Testgruppen zusammenfügen können, ergibt, dass diese Unterschiede oft verschwinden oder gehaltlos sind.«4

      Das heißt, Mathe, Naturwissenschaften, Kunst, Sport, Sprache, Logik, Mut, Leidenschaft, Freundschaft und alles andere, was unser Gehirn verarbeitet, sind nicht vom bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht einer Person abhängig. Mit der Widerlegung der Theorie von tatsächlichen körperlichen Unterschieden im Gehirn ist die Erzählung davon, dass Männer und Frauen ›von Natur aus‹ zu bestimmten Verhaltensweisen neigen, ein Märchen, das durch gesellschaftliche Erwartungen und Zwänge geschaffen und durchgesetzt wurde.

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       Wohin gehört nun die Frage der Geschlechtsidentität?

      Auf Grundlage anglo-europäischer Definitionen wird das biologische Geschlecht (engl. sex) bei der Geburt zugewiesen und das soziale Geschlecht (engl. gender) als selbstbestimmter verstanden. Wir verstehen heute, dass die beiden eigentlich dasselbe sind. Beide beschreiben Menschen auf der Grundlage gesellschaftlicher Konstrukte.

      Gender ist im Englischen sowohl ein Nomen als auch ein Verb. Als Verb, »to gender«, bedeutet es, einer Person oder einem Gegenstand männlich oder weiblich konzipierte Eigenschaften zuzuschreiben. Zum Beispiel, wenn du das falsche Pronomen [z.B. »er« oder »sie«] für eine Person benutzt (das ist nie in Ordnung!), hast du diese Person falsch gegendert, ihr das falsche Geschlecht zugeschrieben. Als Nomen bezeichnet Gender, wie eine jede Person sich geschlechtlich selbst definiert. Dein Geschlecht ist eine Identität, die im Verhältnis dazu steht, wie du dich selbst siehst und wie du von anderen gesehen werden möchtest. Geschlechtsidentitäten und die Möglichkeiten, wie wir sie ausdrücken, sind im wörtlichen Sinne unendlich, weil sie so vielfältig sind wie die Menschen selbst. Eine Person kann ein Mann oder eine Frau sein, sie kann sich jenseits der Zweigeschlechterordnung verorten oder das Geschlecht wechseln, sie kann Geschlechtervorstellungen erweitern, bewegen und untergraben, mehrere Geschlechter haben, Weiblichkeit zelebrieren und vieles mehr. Du kannst eine Geschlechtsidentität haben oder eine Million. Dein Geschlecht kann dein ganzes Leben lang gleich bleiben oder sich verändern.

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      Es folgt


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