VON ZEIT ZU ZEIT. Hans Jürgen Kugler

VON ZEIT ZU ZEIT - Hans Jürgen Kugler


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überquerte die Straße, um mir das in ewiger Innigkeit verbundene Pärchen genauer anzusehen. Der linke Fuß des Mannes hatte mittlerweile Bodenkontakt, während der rechte nur noch mit der Zehenspitze den Boden berührte. Die Frau hatte den Mund wieder geschlossen, der tiefe Brummton aus ihrer Kehle war zu einem hauchenden Laut verebbt.

      Kein Zweifel, das waren keine Schaufensterpuppen. Beide zeigten eindeutig Leben, wenn auch um ein Vielfaches verlangsamt. Solange ich einigermaßen in Bewegung blieb, musste ich für die beiden ja unsichtbar sein. Vielleicht spürten sie kurz einen Windhauch, wenn ich um sie herumhuschte. Vielleicht auch nicht. Würde ich lange genug auf einer Stelle stehen bleiben, könnten sie eventuell schattenhaft meine Kontur erahnen. Wie ein Gespenst, das schneller wieder aus dem Gesichtsfeld verschwindet, als es aufgetaucht war.

      Ich entschloss mich zu einem kleinen Spaziergang in den nahe gelegenen Park. Auf dem Weg dorthin musste ich hin und wieder einigen Insekten ausweichen, die wie festgeleimt mitten in der Luft schwebten. Hauptsächlich Fliegen und kleinere Mücken. Einmal konnte ich von allen Seiten sehr schön eine Wespe begutachten, die eine fette grüne Raupe mit ihren Beinen gekrallt hatte und wohl auf dem Weg zu ihrem Stock war.

      Diese extrem verlangsamte Welt hatte ihre eigenen, nicht ganz ungefährlichen Tücken. Ich war mit der Hand nur ganz kurz an ein Grasbüschel gekommen, schon hatte ich mir an den rasiermesserscharfen Halmen einen tiefen Schnitt geholt, aus dem das Blut hervorquoll. Weit kamen die paar Tropfen indes nicht; kaum dass sie die Haut meines Körpers verlassen hatten, schwebten sie als rote Kügelchen regungslos in der Luft. Also Vorsicht!

      Das Gras, auf dem ich stand, war hart und starr wie Kristall. Aber ganz egal, wie fest ich auch darauf herumtrampelte, es brach nicht, kein Hälmchen splitterte. Erst wenn ich einige Zeit auf einer Stelle stehen blieb, konnte ich spüren, vielmehr erahnen, wie sich die Grashalme allmählich dem Gewicht beugten. Zum Glück war die Wiese erst frisch gemäht worden.

      Gegenüber entdeckte ich einen jungen Mann mit seinem Hund, beide wie ein Standbild in die Landschaft hineingemeißelt. Der Mann hielt den rechten Arm in gestreckter Haltung, den Oberkörper nach vorne gebeugt. Ein paar Meter vor ihm hing ein kleiner Ast in der Luft, den er gerade geworfen hatte. Sein Hund, eine gewöhnliche Promenadenmischung, war eben vom Boden abgesprungen und schwebte nun wie gebannt in der Luft, das Maul aufgerissen, um das Stöckchen zu packen.

      Ich weiß nicht warum, aber irgendwie kam ich auf die Idee, das Stöckchen zu nehmen und es dem Hund genau in dem Moment auf den Kopf fallen zu lassen, wenn er danach schnappen wollte. Ich nahm den kleinen Ast … aber der blieb wie festgemauert in der Luft hängen und war einfach nicht von der Stelle zu bewegen. Ich zog mit aller Kraft an diesem lächerlichen kleinen Ast, aber das verdammte Ding rührte sich keinen Millimeter. Erstaunlich! Das Ästchen verhielt nicht nur einfach stur in der Luft, sondern beschrieb in aller Ruhe seine einmal eingenommene Parabelbahn. Ich konnte beobachten, wie sich der Kopf des Hundes langsam seinem Stöckchen näherte, bis er es schließlich zu fassen bekam.

      Offensichtlich beharrten die Dinge störrisch auf ihrer eigenen Zeit. Die Dinge verschwinden ja nicht einfach aus der Welt, bloß weil ein unglaublich in der Zeit beschleunigtes unsichtbares Wesen wie ein Verrückter daran zerrt. Tatsächlich müsste ich meine Energie, mit der ich das Stöckchen ein Stückchen zur Seite schieben wollte, erst allmählich seinem eigenen Zeitablauf anpassen, bis der gewollte Effekt hätte eintreten können. Und das konnte dauern – wie lange, wusste ich nicht. Ebenso wenig, wie viel Energie ich aufbringen müsste, um unter diesen Umständen auch nur ein Staubkorn entgegen seiner Eigenzeit zu bewegen.

      Ich nahm jetzt besser den Gehweg. Solange man sich nicht bewegte, schien eigentlich alles ganz wie gewohnt zu sein. Die Luft war warm und absolut windstill. Ein ganz normaler Sommertag, könnte man denken. Bis auf die seltsamen Geräusche. Ein bedrohliches Dröhnen hing in der Luft, das an die tiefsten Pedaltöne einer Orgel erinnerte. Ganz in der Nähe hörte ich einen eigentümlich knarzenden Laut, als wenn ein Brett aus einem Holzboden gestemmt würde. Der Laut kam offensichtlich von dem Rotkehlchen auf dem Zweig vor mir. Das Vögelchen saß bewegungslos mit aufgesperrtem Schnabel und geplustertem Gefieder auf seinem Ast, als ob es ein Exponat im Naturkundemuseum wäre. Kein Zweifel, dieses tiefe Knarzen, das es von sich gab, musste die um ein Vielfaches verlangsamte Version seines zirpenden Balzrufes sein. Vorsichtig, um nicht an ein unerwartet im Weg schwebendes Objekt zu stoßen, drehte ich mich um und ließ meinen Blick erneut über diese eigenartige, erstarrte Welt schweifen.

      Wie aus dem Nichts packte mich nackte Angst. So faszinierend das alles auch sein mochte, so verstörend war es auch. Ich wollte nur noch weg und rannte einfach drauflos. Allzu weit kam ich nicht. Schon nach wenigen Hundert Metern musste ich anhalten und nach Luft schnappen. Diese dicke, zeitverlangsamte Luft eignete sich wohl nicht zum hektischen Einatmen. Allmählich beruhigte ich mich. Meine kopflose Flucht hatte mich mitten in den Park geführt.

      Der See darin lag still und klar direkt vor mir und glänzte in der Sonne. Die gekräuselte Oberfläche war ein sicheres Zeichen dafür, dass sehr wohl eine Brise wehen musste, wovon wegen der Zeitverlangsamung natürlich nichts zu merken war. Zögerlich trat ich vor und berührte mit der Schuhspitze vorsichtig die Wasseroberfläche. Dann setzte ich den ganzen Fuß auf. Wie ich es mir gedacht habe – das Wasser hatte gar keine Zeit, unter mir nachzugeben. Ich stand sicher und fest auf dem glitzernden Untergrund. Großartig!

      Auch wenn mir nicht so ganz wohl bei der Sache war, machte ich einen weiteren Schritt vorwärts. Ohne das Wellenmuster auf dem See hätte man denken können, auf einer Eisfläche spazieren zu gehen. Nach einer Weile ging ich in die Knie und befühlte vorsichtig eine der Wellen.

      Dabei fielen mir zuerst die enormen Temperaturunterschiede auf. Die sonnendurchflutete obere Wölbung fühlte sich warm an, ganz im Gegensatz zu den verschatteten Bereichen in den Wellentälern, die so eisig waren, dass ich mir fast daran die Finger verbrannt hätte.

      Ich richtete mich wieder auf und spazierte mit großen Schritten weiter. In der Mitte des Sees blieb ich stehen, stemmte die Hände in die Hüften und blickte mich um. Ich fühlte mich großartig. Mir wurde klar, dass ich in meinem beschleunigten Zustand anstellen konnte, was ich nur wollte, die Menschen würden noch nicht einmal bemerken, dass ich da wäre. Losgelöst von den Fängen der Zeit wäre alles möglich. Die ganze Welt lag mir zu Füßen!

      Doch da war noch diese Sache mit der Eigenträgheit der Dinge. Ich wollte mich gerade in Richtung Ufer aufmachen, aber ich konnte meinen Fuß nicht mehr bewegen. Ich steckte fest! Ich zog und zerrte an meinem Fuß – zwecklos.

      Festgefroren in der Zeit. Ich hatte zu lange auf derselben Stelle verharrt und nicht gemerkt, wie ich Millimeter für Millimeter allmählich in die Wasseroberfläche eingesunken bin. Alles eine Frage der Zeit. Ich wollte allerdings nicht herausfinden, wie lange es wohl dauern würde, bis mich der See vollständig verschlungen hatte. Und das genüsslich in Zeitlupe.

      Jetzt ganz ruhig! Noch war ich nicht tiefer als vielleicht ein, zwei Millimeter eingesunken. Was allerdings tief genug war, um mich ein für alle Mal hier mitten auf dem See festzuhalten. Erneut zerrte ich mit aller Kraft an meinem Bein, aber keine Chance. Mit Gewalt war da nichts zu machen. Es gab nur eine Lösung: Ich musste versuchen, meine Schuhe auszuziehen und schauen, dass ich von hier wegkam. Und zwar schnell.

      Ich vollführte also eine formvollendete Rumpfbeuge und machte mich an meinen Schnürsenkeln zu schaffen. In der Hektik verhedderte ich mich noch und zog den Knoten fester. Ich atmete einmal tief durch und zwang mich zur Ruhe. Endlich hatte ich es geschafft. Ich schlüpfte aus meinen Turnschuhen und machte mich im wahrsten Sinn des Wortes auf die Socken, und zwar so schnell wie möglich zurück ans Ufer.

      Dabei achtete ich sorgsam auf jeden meiner Schritte. Der schmale Sandstreifen am Uferrand bedeutete keine Gefahr, ich hütete mich aber davor, einem der kristallharten Grasbüschel zu nahe zu kommen. Nach ein paar Metern drehte ich mich noch einmal um und schaute nach meinen Schuhen. Für einen Außenstehenden musste es ein seltsamer Anblick sein, wenn sich plötzlich ein Paar alte Nikes wie aus dem Nichts auf dem See materialisieren und gemächlich vor sich hin dümpelten.

      Allmählich verspürte ich ein zunehmend trockenes Gefühl im Mund. Kein Wunder, ich war nun schon einige Zeit in der brennenden Sonne unterwegs – wie lange


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