VON ZEIT ZU ZEIT. Hans Jürgen Kugler

VON ZEIT ZU ZEIT - Hans Jürgen Kugler


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Oben bot sich mir das vertraute Bild: eine Straßenbahn, Autos an den Ampeln, Fußgänger und Fahrradfahrer – alles vollkommen bewegungslos. Ich schlängelte mich an den Statuen der Passanten vorbei, um in die Innenstadt zu gelangen. Beim Überqueren der stadteinwärts führenden Ringstraße begutachtete ich interessiert die gewaltige Dieselwolke, die ein altersschwacher osteuropäischer Lkw beim Anfahren gerade ausstieß – ein großes schwarzes Kissen, das geradezu greifbar über dem Auspuff schwebte. Der Verkehr war nicht zum Aushalten: Das tieffrequente Grollen des Motorenlärms war so heftig, dass es mir schon regelrecht Magenkrämpfe bereitete.

      Ich suchte mit den Augen die Spitze des Münsterturmes, da ließ mich ein seltsames Flimmern in der Luft erneut zusammenzucken. Wieder hatte ich das Gefühl, für den Bruchteil einer Sekunde eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Einem Instinkt folgend beeilte ich mich, von der Kreuzung runterzukommen. Diesmal beschloss ich, auf Nummer sicher zu gehen, und überquerte die nächste Straße an der grünen Ampel.

      Ich war gerade noch ein paar Schritte von der gegenüberliegenden Straßenseite entfernt, als das Licht schlagartig eine kalte, blaugraue Tönung annahm, Licht der späten Dämmerung, als ob die Sonne mit einem Schlag verschwunden wäre. Dann ging alles sehr schnell – viel zu schnell.

      Das magenkrampfende Brausen des Verkehrs um mich herum schraubte sich in immer höhere Frequenzbereiche hinauf, und in die starren Gestalten auf den Bürgersteigen kehrte plötzlich wieder Leben ein. Die stecken gebliebene Zeit schnellte los wie ein Sprinter nach dem Startschuss.

      In Sekundenbruchteilen war das Normalmaß allerdings bei Weitem überschritten, die Ampel sprang auf Rot, und wie eine Herde wildgewordener Büffel jagten die Autos auf mich zu. Motorenlärm, Hupen und quietschende Bremsen jaulten auf. Menschen hasteten in unglaublicher Geschwindigkeit an mir vorbei. Die rasenden Autos nahm ich nur noch als verwischte Schatten wahr, die an mir vorbeihuschten. Ein Autofahrer konnte gerade noch ausweichen. Ich war vor Schreck so gelähmt, dass ich fast die nächste Grünphase verpasst hätte, in der ich mich gerade so auf die andere Straßenseite hechten konnte.

      Irgendwie schaffte ich es, mich in den nächsten Hauseingang zu quetschen und den Ansturm der Schatten an mir vorbeiziehen zu lassen. Die Luft war erfüllt von einem schmerzhaft grellen Kreischen und Pfeifen, schlimmer noch als bei einer Kreissäge. Ich presste mir krampfhaft die Hände auf die Ohren.

      Dann ebbte der Lärm urplötzlich ab. Das schrille Kreischen fiel auf erträglichere Frequenzen zurück, schnellte dann wieder kurz nach oben, nur um erneut herabzusinken. Die verschwommenen Schatten verdichteten sich kurzzeitig zu verhuschten Gestalten, die hastig vorübereilten, lösten sich dann jedoch in körperlosen Dunst auf.

      Es schien, als hätte die Zeit angefangen zu fluktuieren. Langsame und schnelle Perioden wechselten einander in immer kürzeren Intervallen ab. Wie in einem Film ruckelte die Welt mal im Zeitraffer ein Stückchen vor, stoppte dann und wann unvermittelt, bis der Ablauf in einer atemberaubenden Sequenz noch ein ordentliches Stück vorwärts spulte, nur um dann endgültig (?) mit halbwegs normaler Geschwindigkeit weiterzulaufen.

      Halbwegs normal? Keine Ahnung. Noch einmal ein rasches Aufblitzen schemenhafter Wesen, dann war es vorbei. Die Passanten gingen wieder in gewohnter Geschwindigkeit ihrer Wege. Das schrille Kreischen während der Fast-Forward-Episoden hatte sich in die gewohnte Geräuschkulisse einer Stadt zurückverwandelt und auch das Licht entsprach endlich wieder ganz dem eines gewöhnlichen sonnigen Sommertages. Es schien ausgestanden zu sein. Hoffentlich.

      Ich blieb noch ein paar Minuten in dem Hauseingang stehen und beobachtete das Geschehen um mich herum. Dann trat ich vor und mischte mich unter die Passanten. Ein herrliches Gefühl, einfach unter Menschen zu sein. Wieder ganz normale Dinge zu tun, ohne befürchten zu müssen, sich an jedem stinknormalen Busch am Wegesrand die Extremitäten aufzuschlitzen.

      2 – Regeneration

      »Verrätst du mir, wo du das Zeug herhast?«, fragte Tobias, nachdem ich ihm meine Geschichte erzählt hatte. Was hätte er auch sonst sagen sollen? Ich hätte ihn vermutlich exakt das Gleiche gefragt, wenn er mir so eine irrsinnige Story aufgetischt hätte.

      Inzwischen war es Herbst geworden. Je länger die aufwühlenden Ereignisse zurücklagen, desto unglaubwürdiger erschien es mir jetzt, dass sie überhaupt stattgefunden hatten. Seit diesem verstörenden Erlebnis gab es für mich keinen Morgen mehr, an dem ich nicht befürchtete, in einem Albtraum aufzuwachen. Kein Morgen, an dem ich nicht die Augen aufgeschlagen und als Erstes ängstlich auf den Sekundenzeiger der Uhr geblickt hätte.

      Ich weiß bis heute nicht, was sich da an jenem Tag eigentlich abgespielt hatte – falls sich das alles überhaupt wirklich ereignet hatte. Die einzig schlüssige Erklärung wäre, dass ich an diesem Tag einem komplexen Wahn verfallen sein musste, und ich eine Episode multipler Halluzinationen erlebt hatte. Oder einen schlechten Traum. Aber es war kein Traum. Die blasse Narbe an meinem rechten Zeigefinger erinnert mich noch heute an meine Begegnung mit der in der Zeit erstarrten Botanik. Wahnsinnig war ich jedenfalls nicht –, aber das glaubt vermutlich jeder Wahnsinnige von sich.

      Ob durchgeknallt oder nicht, das Leben musste irgendwie weitergehen. Und es ging weiter. Es dauerte seine Zeit, aber allmählich verblasste die Erinnerung an die verstörenden Erlebnisse. Die Angst verkroch sich in den Gewohnheiten des Alltags. Jeder Tag, jede Stunde, jede Minute, die in meinem Leben ganz normal verliefen, empfand ich als Segen. Man lebt! Mal mehr, mal weniger, aber es ging doch irgendwie immer weiter.

      Die Schlaflosigkeit blieb weiterhin ein Problem für mich; da ich aber allein lebte und als Kleinunternehmer selbstständig arbeitete, konnte ich meinen Alltag entsprechend aufteilen. Die Aufträge, die hereinkamen, arbeitete ich wie sonst auch ab, keine besonderen Herausforderungen.

      Hin und wieder übernahm ich auch ein paar Termine für die Zeitung. Einige Lokalredakteure schätzten meine Fachkenntnisse auf dem Gebiet der klassischen Musik. Das Zeilengeld war zwar miserabel, aber ich sah es pragmatisch. Auf diese Weise konnte ich einige Konzerte besuchen, die ich meinem Budget sonst vielleicht nicht zugemutet hätte. Und übermäßigen Sozialkontakt musste ich hier auch nicht befürchten. Ich setzte mich irgendwo an den Rand, von wo ich noch ein paar gute Fotos machen konnte und zottelte nach dem Schlussakkord wieder ab.

      Mehr Einkommen erzielte ich mit Korrekturarbeiten. Ich hatte während meines Studiums genügend Erfahrungen sammeln können, arbeitete routiniert und konzentriert, meine Auftraggeber wussten meine Zuverlässigkeit zu schätzen und versorgten mich regelmäßig mit Aufträgen. Davon ließ sich ganz gut leben, und ich konnte meine Zeit selbst einteilen. Manche Romane waren entgegen aller Erwartung wirklich gut geschrieben, sodass ich mich nicht wie so oft gelangweilt durch die Seiten quälen musste. Es gab Schlimmeres, als bei schönem Wetter gemütlich auf dem Balkon zu sitzen, ein Buch zu lesen und dafür auch noch bezahlt zu werden.

      Mit der Zeit gewöhnte ich mich auch wieder daran, mein selbst gewähltes Exil zu verlassen, und begann damit, alte Freundschaften neu zu beleben. Eines Abends nach dem dritten Glas Wein rief ich aus einer spontanen Laune heraus meinen Kumpel Tobias an, mit dem ich vor einigen Jahren in einer WG gelebt hatte.

      »That’s right, you heard right, the Secret Word for tonight is …«

      »Mud Shark!«, ergänzte Tobias wie aus der Pistole geschossen. Und wir beide dann unisono: »THE MUD SHARK DANCING LESSON! – Mud Sh-sh-shark …«

      Unser kleines Erkennungsritual war seit unseren WG-Zeiten stets das gleiche geblieben. Alte Liebe rostet nicht.

      »Mensch! Alte Socke!«, begrüßte mich Tobias. »Schön, mal wieder von dir zu hören. Wie geht’s dir denn so?«

      »Ja, Mann. Ist verdammt lang her. Hab gedacht, jetzt rufste aber mal an. Was treibst du denn so? Immer noch Klarastraße?«

      »Ach was. Längst Geschichte. Bin jetzt sogar brav verheiratet und – fasse dich – arbeite als Buchhalter.«

      Mir wäre fast das Telefon aus der Hand gefallen.

      »Äh, wie bitte? Buchhalter? Du? Wie ging das denn?«

      »Na ja, irgendwas ist von der Lehre halt doch hängen geblieben. Und als ich vor drei


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