VON ZEIT ZU ZEIT. Hans Jürgen Kugler

VON ZEIT ZU ZEIT - Hans Jürgen Kugler


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ein paar Sekunden. Zu dumm, dass ich zu Hause nicht auf die Uhr geschaut hatte.

      Die Sonne brannte unbarmherzig. Mir wurde schlagartig klar, dass ich sehr bald ein ernsthaftes Problem haben würde, wenn dieser Zustand noch lange anhielte. Durst! Und nirgends flüssiges Wasser. Ach du Scheiße. Ich musste schleunigst von hier weg und eine Gegend finden, die noch nicht von dieser seltsamen Zeitverzerrung heimgesucht worden war.

      Aber zuerst einmal brauchte ich neue Schuhe. Ich beschleunigte meine Schritte, wobei ich tunlichst darauf achtete, auf dem Asphalt zu bleiben. Das Auto, das ich heute Morgen vor der Haustür gesehen hatte, war mittlerweile schon um die Ecke gebogen und einige Meter weitergekommen. Das junge Paar, das Händchen haltend den Gehweg entlangspazierte, war auch schon ein gutes Stück weiter. Diesmal hielt die Frau den Mund geschlossen, während der Mann offensichtlich etwas zu dem Gespräch beitrug. Das schloss ich jedenfalls aus dem fast schon unhörbar tiefen Grollen, das aus dessen Mund zu kommen schien.

      Zu Hause angekommen ging ich nach hinten in den Garten und setzte mit einigen großen Storchenschritten vorsichtig über den Rasen. Dann die große Herausforderung – Einstieg über den Balkon. Ich versuchte, mit den Händen ausreichenden Halt an den Brettern der Verkleidung zu finden, um mich daran hochziehen zu können. Mein erster Versuch war ein schmerzhafter Fehlschlag, aber ich hatte ja genug Zeit zum Üben. Und etwaige unliebsame Zuschauer meiner Bemühungen brauchte ich auch nicht zu fürchten. Nach ein paar Versuchen hatte ich den Bogen raus und den Ellenbogen auf die Balkonbrüstung legen können, sodass ich den Oberkörper daran hochstemmen und mich endlich auf den Balkon ziehen konnte.

      Drinnen war es immer noch bitterkalt wie in einem Kühlhaus. Aber ich hatte auch nicht vor, mich lange zu Hause aufzuhalten. Ich holte mir ein zweites, bequemes Paar Turnschuhe und schlüpfte hinein. Die widerspenstigen Schuhbändel konnte ich später noch festzurren. Dann ging ich ins Bad. Wie ich schon befürchtet hatte, brauchte ich all meine Kraft, um den störrischen Wasserhahn überhaupt zu bewegen.

      Dann die altbekannte Nummer: Es dauerte wieder einige Minuten, bis sich überhaupt der erste Effekt meiner Bemühungen einstellte und ein erster Tropfen unten am Hahn erschien. Also kein Wasser, zumindest kein flüssiges. Mit der Cola im Kühlschrank das Gleiche: ein kompakter schwarzer Block, der zu nichts zu gebrauchen war.

      Ich hatte gar keine Wahl, ich musste raus aus dieser Eisbude. Irgendwo musste es doch Wasser geben, ganz einfach nur fließendes, flüssiges Wasser, das man trinken konnte. Ich suchte ein paar leere Plastikflaschen zusammen. Die Kälte erinnerte mich daran, für alle Fälle noch einen Pullover einzupacken. Einen Regenschirm konnte ich mir sicherlich sparen. Dafür steckte ich noch mein Taschenfernglas und eine Taschenlampe ein. Ich warf noch einen Blick auf die Küchenuhr: 8:23. Ich versuchte, mir die Zahl zu merken.

      Nachdem ich alles in einem kleinen Wanderrucksack verstaut hatte, kletterte ich über den Balkon nach draußen, wobei ich darauf achtete, einen respektvollen Abstand zum Oleander zu wahren. Ich war froh, wieder in der Sonne zu sein.

      Hinter dem Haus hatte ich meinen Wagen geparkt. Den Versuch zumindest war es wert. Aber sinnlos. Ich war noch nicht einmal in der Lage, nur die Tür zu öffnen. Das Ding beharrte stur auf seiner Eigenzeit und blieb bockig in seiner Parkbucht hocken. Das Gleiche galt für das Fahrrad – egal, wie lange und wie heftig ich daran zerrte, es blieb wie einzementiert in seiner Ecke stehen. Also blieb mir nur noch die Möglichkeit, zu Fuß zu gehen.

      Ich konnte nur hoffen, dass diese Zeitblase räumlich begrenzt war und irgendwo dahinter wieder normale Verhältnisse herrschten. Wenn nicht, hatte ich ohnehin keine Chance mehr und wäre spätestens nach einer Woche jämmerlich verdurstet.

      Da ich die Gegend in Richtung des Sees schon erkundet hatte und weit und breit keine Anzeichen für eine normal beschleunigte Welt entdecken konnte, ging ich diesmal nach Süden, der Stadt zu. Dort würde ich es am ehesten merken, wenn, wann und wo sich die Welt wieder normalisieren sollte. Möglicherweise war diese seltsame Zeitblase ja nicht vollkommen homogen. Vielleicht gab es Lücken darin, Zonen, in denen die normale Zeit galt. Ich würde es nie erfahren, wenn ich nicht danach suchte.

      Auf der Hauptstraße erwartete mich der nun schon gewohnte Anblick: Autos, die mitten auf der Straße zu stehen schienen, ein paar Fußgänger auf dem Gehweg, die wie lebensechte Schaufensterpuppen mitten in der Bewegung festgefroren waren. Ein Radfahrer, der jeden Moment umzukippen drohte. Und über dieser unwirklichen Szenerie hing ein bedrohliches Brausen und Grollen, die gewohnte Geräuschkulisse einer Stadt, auf ein Vielfaches nach unten gestimmt. Das erinnerte mich daran, dass ich keine Zeit zu verlieren hatte. Paradoxerweise, wie ich angesichts der erstarrten Welt um mich herum feststellte. Aber mein Körper bestand ebenso hartnäckig auf seiner eigenen Zeit und brauchte dringend Wasser.

      Ich nahm den Weg über die Brücke entlang des Flusses. Ich hoffte, von einem erhöhten Standpunkt aus eher eine Zone ausmachen zu können, auf der noch Normalbedingungen herrschen mochten. Von der Brücke aus hatte ich einen weiten Blick über die halbe Stadt. Nur der Schwarzwald im Osten begrenzte mein Sichtfeld. Weit und breit keine Bewegung, die Welt lag still und starr vor mir wie in Glas gegossen. In Richtung Flugplatz hing eine Cessna im Landeanflug erstarrt in der Luft. Keine allzu guten Aussichten!

      Ich folgte dem stadteinwärts führenden Radweg. Das Ufergebüsch war gespickt mit funkelnden Insekten, denen ich ständig ausweichen musste. Direkt vor mir hing eine blaue Prachtlibelle. Der schimmernde Leib glänzte wie Stahl und man konnte genau das komplizierte Muster verfolgen, mit dem sie ihre Flügel geschäftig auf und ab schlagen ließ. Für entomologische Studien hatte ich jedoch keine Zeit, ich musste zusehen, dass ich Land gewann und irgendwo Wasser fand.

      An manchen Stellen war der Radweg so dicht an den Fluss herangebaut, dass er nach starken Regenfällen regelmäßig überflutet wurde. Mitten im Fluss stand ein Fischreiher, aufs Äußerste angespannt, starr und bewegungslos wie eine Statue. Selbst unter diesen außergewöhnlichen Umständen eigentlich nichts Besonderes, wenn man es recht bedachte. Ich verharrte kurz, um die schimmernde Oberfläche des Flusses näher in Augenschein zu nehmen. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und setzte vorsichtig einen Fuß auf die durchsichtige, schimmernde Oberfläche – das Wasser schien auch hier fest und begehbar zu sein. Im Gegensatz zum See konnte man hier deutlich die kraftvollen Vibrationen spüren, mit denen der Fluss vorwärtsdrängte. Ich hatte nicht vor, meine Experimente mit zeitretardiertem Wasser fortzusetzen, und zog meinen Fuß schnell aus der möglichen Gefahrenzone.

      Unterwegs musste ich mich durch einen Pulk Radfahrer hindurchschlängeln. Der Mann an der Spitze des Pelotons hatte sich so halsbrecherisch in die Kurve gelegt, dass er jeden Moment umzukippen drohte. Ein anderer nuckelte gerade an seiner Trinkflasche, was mich an meinen quälenden Durst erinnerte. Ich beschleunigte meine Schritte und sah zu, dass ich wieder Schatten fand.

      Je näher ich der Stadt kam, desto mehr Bäume säumten den Radweg. Ich musste mich vor ein paar tief hängenden Zweigen in Acht nehmen, deren rasiermesserscharfe Blätter mich ernsthaft hätten verletzen können.

      An manchen Stellen hing eine Menge Flugsamen in der Luft, ich hatte Mühe, dem Zeug auszuweichen, denn die Dinger waren von einer zähen, gummiartigen Konsistenz und ließen sich nicht so einfach zur Seite schieben.

      Mit der Zeit tauchten zwischen den Bäumen die Umrisse der ersten Gebäude auf. Aber auch hier: alles totenstarr. Plötzlich – für den Bruchteil einer Sekunde schien das Licht etwas von dem intensiv rotgoldenen Schimmer einzubüßen und wirkte irgendwie blasser, kälter. Ich zuckte zusammen. Mir war, als hätte ich gerade außerhalb meines Sichtfeldes eine Bewegung wahrgenommen.

      Ich fuhr herum und sah einen ziemlich großen braun gefärbten Schmetterling, der in Augenhöhe unbeweglich in der Luft klebte. Ich hätte schwören können, dass er bis eben noch nicht an dieser Stelle gewesen war. Entweder hatte ich ihn vorhin nicht bemerkt, oder aber …

      Neue Hoffnung keimte in mir auf. Ich nahm den Schmetterling genauer unter die Lupe. Ich brauchte eine Weile, um zu erkennen, wie sich die Flügel ganz langsam senkten. Von hektischem Herumflattern keine Spur. Wahrscheinlich doch eine Sinnestäuschung. Vermutlich bildete sich mein Gehirn mangels entsprechender Reize schon Bewegungen ein, wo keine waren. Schließlich war es alles andere als natürlich, in einer Umgebung zu leben, in der die


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