Jeder Mensch will ankommen. Sven Lager

Jeder Mensch will ankommen - Sven Lager


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Ich hatte auch noch Geld. Und so hat der mir geholfen, zu fliehen und ein Boot nach Europa zu erwischen. Meine Frau und mein Sohn mussten leider zurückbleiben.

      Von Italien kam ich mit der Bahn nach Deutschland, Frankfurt, Dortmund und von dort hat man mich nach Berlin geschickt. Ich weiß noch genau: Da stand ich im Hauptbahnhof mit einer Wegbeschreibung zu einer Notunterkunft in Spandau. Die hatte man mir beim LaGeSo (Landesamt für Gesundheit und Soziales, Registrierstelle) ausgehändigt. Aber ich hatte keine Ahnung, wo das ist und wie ich dahin finden sollte. Es war auch schon Abend. Da habe ich einfach auf Englisch eine etwas ältere Frau angesprochen, ob sie mir vielleicht helfen kann. Die schaute erst mich an, dann den Zettel. Und dann sagte sie: „Kommen Sie, ich bring Sie hin.“ Dabei musste sie selbst gar nicht nach Spandau! Da fährt man ja bestimmt eine halbe bis Dreiviertelstunde hin vom Hauptbahnhof. Aber sie ist mit mir in die S-Bahn gestiegen und hat mich bis vor die Tür der Notunterkunft gebracht. Ich war tief berührt und ihr so dankbar. An diesem Abend habe ich beschlossen: Ich will Deutschland etwas zurückgeben. Wenn es hier solche Menschen gibt!

      In Spandau musste ich erst mal einige Zeit ins Krankenhaus, wegen der Folterverletzungen, die der IS mir zugefügt hatte, und anderen Beschwerden, die von der Angst kamen. Einige Zeit später lernte ich durch zwei Künstlerinnen aus Weißensee bei einem Projekt Sven Lager kennen. Der leitete das erste Sharehaus in Kreuzberg. So ein Nachbarschafts­projekt, wo jeder hinkommen und etwas gestalten kann, und wo viele Veranstaltungen stattfanden. Im Haus, in der Wohnung drüber, wohnte schon ein syrischer Flüchtling, Musiker und Christ. Den lernte ich da kennen. Mit Sven und im Sharehaus wurde ich auch Christ. Der Islam war mir schon lange fremd gewesen, ich war eher ein Zweifler. Ich komme aus einer jüdischen Familie, die vor drei Generationen nur aus politischen Gründen zum Islam übergetreten ist, und ich lehnte Religion eigentlich ab. Auf der Flucht aber hatte ich wieder Gottes Gegenwart gespürt und in Deutschland war ich endlich sicher genug, mich dafür entscheiden zu können. Mein Christsein zog allerdings viele Schwierigkeiten nach sich – für meine Frau in Libyen und unter anderen muslimischen Geflüchteten. Aber mein Glaube war stark.

      Im Sharehaus trafen wir uns mindestens einmal in der Woche zum Essen. Sven erzählte mir, dass er vielleicht bald ein Zimmer für mich hätte. Die Berliner Stadtmission hatte ein Haus in Nord-Neukölln. Sven, seine Frau Elke, Gerold Vorländer und Andreas Schlamm von der Berliner Stadtmission überlegten gerade, wie das Sharehaus dort in größerem Maßstab aufgebaut werden könnte. Zusammen mit anderen Geflohenen wurde auch ich gefragt, ob ich einziehen möchte. Und so entstand das Refugio, wo Flüchtlinge und Einheimische zusammen wohnen.

      Im Juli 2015 bin ich dann dort eingezogen, als einer der Ersten. Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich sicher, wirklich geborgen. Ich fing dann auch ziemlich bald an, zu den Bibelmeditationen zu gehen, die Sven anbietet. Und wie schon im kleinen Sharehaus zuvor haben wir viel zusammen gebetet und er hat mich auf meinem schwierigen Weg begleitet.

      Ich bin Deutschland und den Menschen sehr dankbar. Was für ein schönes Land. Jetzt wollte ich Deutschland endlich etwas zurückgeben! Ich wusste inzwischen auch durch die Arbeit der Berliner Stadtmission, dass es in Berlin viele Obdachlose gibt. Und ich kann ganz gut kochen. Also dachte ich mir, ich könnte ja für die mal was kochen. Ich hatte auch schon Pläne, wie ich das anfangen wollte. Dorit, die bei der Stadtmission arbeitet, und Christoph von meiner Gemeinde, dem Kreuzbergprojekt, hatten Lust, mir zu helfen.

      Von dem Geld, das ich vom Arbeitsamt bekomme – die bezahlen ja auch noch mein Zimmer im Refugio –, kaufte ich Lebensmittel. Und dann kochten wir auf unserer Etagenküche im Refugio. Große Töpfe voll. Als wir fertig waren, packten wir alles ein – auch noch ein kleines Klapptischchen – und fuhren mit den Sachen zum Kotti (Platz am Kottbusser Tor in Kreuzberg). Wir dachten, da würden wir Obdachlose treffen. Aber da gab es überhaupt keine. Wir standen ein bisschen dumm herum mit unserem Essen. Zum Glück kam gerade eine Bekannte vorbei, die uns den Tipp gab, zum Alexanderplatz zu fahren. Da fanden wir dann Obdachlose und begannen, an die unser Essen zu verteilen. Die haben erst ziemlich gestaunt. Aber ich glaube, die fanden das dann wirklich gut.

      Von da an habe ich das fast jeden Samstag gemacht. Mal alleine, mal mit anderen.

      Tabea, die ein Praktikum im Refugio machte, postete dann irgendwann mal ein Foto von mir mit meinen Töpfen auf dem Alexanderplatz auf Facebook. Vorne an dem Tischchen klebt immer ein Zettel: „Give ­Something Back To The German People“ – und meine E-Mail-Adresse. Das war total verrückt: Ein paar Tage später ging dieser kleine Facebook­eintrag um die halbe Erde. Und hier in Berlin standen die Zeitungen und Fernsehsender regelrecht Schlange. Ich wollte doch nicht berühmt werden! Aber die Aufmerksamkeit tat mir erst mal gut. Ich konnte meine Geschichte erzählen, die Geschichte vieler Menschen, die fliehen mussten. Und dass wir gerne aktiv Danke sagen wollen, statt nur in Heimen und Notunterkünften warten zu müssen.

      Danach schrieben mich Leute an, die mir Geld geben wollten. Aber das wollte ich nicht. Es ist ja mein Dankeschön von meinem wenigen Geld. Ich habe genug, um die Lebensmittel zu bezahlen. Lieber sollen sie selbst so etwas tun für Obdachlose oder andere in Not, statt zu ver­suchen, sich mit Geld für mein Projekt „freizukaufen“.

      Viele verschiedene Menschen helfen mir. Ein gutes Dutzend. Da sind Geflüchtete und Einheimische aus dem Refugio, sogar die kleine Tochter eines Ehrenamtlichen, ein deutscher Muslim war mal dabei, es kommen auch immer wieder neue Leute. Eine ganz tolle Truppe und immer wieder eine schöne Erfahrung am Alexanderplatz.

      Die große Medienaufmerksamkeit ist inzwischen zum Glück vorbei. Wir wurden so oft gefilmt beim Essenverteilen, das war auch anstrengend. Jetzt ist es friedlicher. Ich kann mich wieder mehr um mein Leben kümmern. Deutsch lernen zum Beispiel ist für mich nicht so einfach. Man kann sich hier in Berlin wunderbar auf Englisch verständigen. Und ich habe sehr viel zu tun. Ich suche Arbeit, mache vielleicht mal wieder einen Computershop auf. Und langsam wird das auch mit der Sprache besser. Im Refugio versuchen wir, Deutsch miteinander zu sprechen. Ich habe jedenfalls hier wunderbare Menschen kennengelernt und Freunde gefunden. Manchmal habe ich Lust, aufs Land zu ziehen. Ruhe zu haben und Frieden. Aber ich will auch mein Projekt nicht aufgeben. Ich hoffe, dass ich noch mehr zurückgeben und Deutschland Gutes tun kann.

      Die traurige Realität vieler Geflüchteter in Deutschland ist, dass ihre Familien weiterhin im Kriegsgebiet leben müssen. Alex konnte seine Familie aus Libyen nicht nachholen. Im April 2016 geschah das Furchtbare: Sein vierjähriger Sohn starb bei Kämpfen zwischen IS und Oppositionskräften. Es war schrecklich für Alex, und dann auch noch so weit weg zu sein. Er konnte nicht zur Beerdigung fahren. Im Refugio trafen wir uns als Hausbewohner und mit seinen Freunden zu einem Trauergottesdienst für seinen Sohn. Es war ein Tag mit vielen Tränen und herzlicher Anteilnahme. Und diese Anteilnahme hatte trotz allem Schrecken auch etwas Heilsames für Alex.

      Zu diesem Buch

      Menschen fliehen nach Europa, nach Deutschland. Das ist kein neues Phänomen. Und doch hat die enorm hohe Anzahl von neu ankommenden Flüchtlingen im Jahr 2015 unsere Gesellschaft, ja ganz Europa durchgerüttelt wie schon lange nicht mehr. Auch wenn im darauffolgenden Jahr der Flüchtlingszustrom durch harte Maßnahmen erheblich eingedämmt wurde, besteht kein Zweifel, dass dieses Thema uns auch weiterhin intensiv beschäftigen wird. Neue Flüchtlinge werden Wege finden. Wir werden auch weiterhin herausgefordert sein, damit umzugehen, möglichst konstruktiv. Und Christen sehen sich dabei besonders in der Verantwortung – vor Gott und den Menschen.

      In diesem Buch möchten wir Geschichten aus der Flüchtlingsarbeit der Berliner Stadtmission erzählen. Sehr unterschiedliche Geschichten oder auch Geschichten mit sehr unterschiedlichen Facetten, schönen und schweren, traurigen und fröhlichen. So wie die von Alex. Wir erzählen von Menschen, von dem, was sie erlebt haben und was sie bewegt. Dabei spielt es keine so große Rolle, aus welchem Land sie stammen. Auch Deutsche brauchen manchmal eine Zuflucht, sehnen sich nach Gemeinschaft und suchen nach Erneuerung. Jeder Mensch will ankommen.

      Wir wollen berühren, inspirieren und informieren. Im besten Fall führt das dazu, dass Sie, unsere Leser, sich durch die Lektüre ermutigt und ein Stück weit befähigt fühlen, selbst etwas dazu beizutragen, dass sich die Schatten, die Kälte nicht weiter ausbreiten, sondern mitten in allen Schwierigkeiten Rettungsflöße


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