Jeder Mensch will ankommen. Sven Lager

Jeder Mensch will ankommen - Sven Lager


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nach Berlin zurückgekommen. In Südafrika waren die beiden – Elke kirchenfern und esoterisch interessiert und Sven als überzeugter Atheist – Christen geworden. Und von dort brachten sie das Sharehaus mit, ein im Grunde ganz schlichtes, aber wirkungsvolles Konzept, das sie entwickelt und auch schon umgesetzt hatten, um der sozialen Kälte entgegenzuwirken: eine Alternative zu Beziehungslosigkeit und Parallelgesellschaften einerseits und zu Hilfsprogrammen andererseits, die die Bedürftigen abhängig halten oder machen. Stattdessen das Motto: „Teilen macht reich.“ Es ging also darum, eine Form der Begegnung auf Augenhöhe zu schaffen, wo jeder Ideen und Gaben einbringen kann, aber auch mit seinen Bedürfnissen ernst genommen wird, sodass im Teilen eine offene, kreative und solidarische Gemeinschaft entsteht, in der jeder Gebender und Nehmender ist.

      Das war ein Gedanke, der bei leitenden Mitarbeitern der Berliner Stadtmission sofort zündete. Denn gerade in einer Organisation mit einem so breit aufgestellten Hilfsprogramm merkt man deutlich, dass erst dann wirklich geholfen ist, wenn die Klienten, Gäste und Bewohner verschiedener Einrichtungen Zugang zu ihren eigenen Ressourcen bekommen, Selbstvertrauen entwickeln und aktiviert werden. Und das nicht nur, um ihre eigenen Probleme zu lösen, sondern um etwas beizutragen zum biblischen Leitwort: „Suchet das Beste der Stadt und betet für sie zum Herrn“ (aus Jeremia 29,7).

      Die Berliner Stadtmission beauftragte also die beiden Schriftsteller, in Kreuzberg ein Pilotprojekt dieser Art zu starten, als offenes Nachbarschaftshaus mit einfachen Begegnungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Dieses kleine Sharehaus in Kreuzberg wurde aber nicht nur eine Art Versuchsballon, in dem wichtige Erfahrungen für den Berliner Kontext gesammelt werden konnten. Hier wuchs zugleich ein Teil des Kernteams für das Neue, Größere heran: Einheimische, die aktiv mitgestalten wollten, und Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern.

      Nach etwa achtmonatiger Planungszeit konnte dann im Sommer 2015 das Sharehaus Refugio seine Türen öffnen, ein fünfstöckiges Jugendstilgebäude mit großem Saal, Büroräumen und Zimmern auf drei Etagen, in denen früher einmal ein Seniorenheim war.

      1 Wir nennen die Menschen, die hierher geflohen sind, zum besseren Verständnis „Flüchtlinge“ oder lieber „Geflüchtete“ (engl. refugees); sie selbst bevorzugen die Bezeichnung „Ankommer“ (engl. newcomer).

      Das Refugio-Leitbild fasst die Grundgedanken so zusammen:

      Mission

      Unsere Mission ist es, den Mitbewohnern ein „Refugio“ zu bieten, das heißt einen Ort, an dem sie

      Zuflucht finden,

      Gemeinschaft leben,

      Erneuerung erfahren und selbst zur Erneuerung (der Gesellschaft) beitragen können.

      Dabei setzen sich die Mitbewohner zusammen aus Einheimischen und Neuangekommenen (insbesondere Flüchtlingen) in Deutschland.

      Konkretionen

      Zuflucht verstehen wir als einen Ort, der Schutz bietet – einerseits vor Diskriminierung, Hass und Gewalt, andererseits vor Einsamkeit und Haltlosigkeit.

      Zuflucht bedeutet für uns auch Heimat, in der die Bewohner dazugehören, zur Ruhe kommen und Annahme erfahren.

      Gemeinschaft leben bedeutet für uns, dem Wohl der Gemeinschaft eine hohe Priorität zu geben. In ihr üben wir bedingungslose Akzeptanz und Wertschätzung jedes Mitglieds. Wir vereinen tragende Gemeinschaft und geschützte Privatsphäre. Gegenseitige Stärkung und Vertrauen zueinander ergeben sich nicht von selbst, sondern müssen beharrlich gefördert und aufrechterhalten werden.

      Erneuerung heißt für uns, belastende Erfahrungen der Vergangenheit zu überwinden und hoffnungsvoll neue Lebensmöglichkeiten zu erschließen. Im Refugio als „Werkstatt für Himmlische Gesellschaft“ fördern wir die Versöhnung mit der eigenen Biografie durch gegenseitige Gespräche und Ermutigung auf Augenhöhe, auf Wunsch auch durch Seelsorge und Gebet. Zugleich unterstützen und ermutigen wir einander, aktiver Teil einer gesellschaftlichen Erneuerung zu sein und „das Beste der Stadt“ zu suchen.

      Vision

      Unsere Vision ist eine Gesellschaft, die in versöhnter Vielfalt lebt:

      versöhnt untereinander,

      mit Gott

      und mit der eigenen Biografie.

      Ethik und Werte

      Uns vereint eine gemeinsame Ethik, nach der jeder Mensch Wertschätzung verdient, der Glaube der anderen geachtet und der eigene ins Gespräch gebracht wird für einen neugierigen und reichen Austausch im Zuhören und Lernen.

      Im Sharehaus Refugio soll jeder Mensch aufblühen dürfen und gefördert werden in seinen von Gott gegebenen Talenten und Fähigkeiten. Mit ihnen dient er auch der Gemeinschaft, die ebenso wichtig ist wie die persönliche Entfaltung. Hier sind alle gleich wertvoll und gleich wichtig, egal welche Aufgabe jemand hat. Denn nur gemeinsam sind wir reich.

      Keiner wird nach seiner Leistung bemessen, denn jeder Mensch ist und bleibt von Geburt an kostbar, nichts und niemand kann ihm das nehmen.

      Gleichzeitig ist jeder Mensch selbst verantwortlich für das, was er tut. Scheitern ist erlaubt. Aber daraus zu lernen und es besser zu machen ist die wesentliche Aufgabe. In aller respektierten und wertgeschätzten Vielfalt zählt die Einheit der Gemeinschaft.

      Wir dienen einander, damit darin die Zuwendung Gottes zu jedem einzelnen Menschen deutlich wird. Ethik und Werte werden im Refugio mit den Bewohnern in regelmäßigen Workshops besprochen und vertieft.

      Verwirklicht werden diese Grundlagen in folgenden Gestaltungsformen und Arbeitszweigen:

      1 Refugio: Das Refugio ist ein Gemeinschaftshaus, in dem vor allem mit Geflüchteten gelebt und gearbeitet wird. Hier finden sie Zuflucht in gemieteten Zimmern und berufliche wie persönliche Förderung, um anschließend ohne Hilfsmaßnahmen integriert in Deutschland leben zu können oder auch wiederhergestellt in ihre alte Heimat zurückzukehren. Im Rahmen des Refugios werden Partner einbezogen, die die berufliche Förderung durch konkrete Maßnahmen unterstützen. Außerdem wird ein Netzwerk von ehrenamtlichen „Mentoren“ der Geflüchteten aufgebaut.

      2 Inkubator: Durch das Zusammenkommen von Menschen verschiedenster Kulturen, Fähigkeiten und einem durch die Flüchtlingsgeschichte bewiesenen Zielstrebigkeits- und Problemlösungswillen können Deutsche und Flüchtlinge Teams mit breitem Innovations- und starkem Umsetzungspotenzial gründen. Für die Umsetzung von Ideen werden unternehmerisches Denken und Handeln gefördert. Hierfür werden verschiedene Coachingangebote gemacht, Ausbildung und Tools zur Unternehmensgründung bereitgestellt sowie ein starkes externes Netzwerk aufgebaut.

      3 Kiez- und Bewohnercafé sowie öffentliche Veranstaltungen als Begegnungsort: Das Sprachcafé für Geflüchtete und Einheimische aus dem Kiez (Berliner Bezeichnung für Nachbarschaft oder Quartier) findet wöchentlich statt. Dazu Kulturveranstaltungen, Essens- und Tanzabende jeden Monat. Café und Saal werden langfristig zu einem Veranstaltungs- und Konferenzort aufgebaut, der einen wesentlichen Beitrag zur Finanzierung bringen soll.

      4 Stadtkloster: Als Stadtkloster wird die geistliche Einrichtung im Sharehaus verstanden, die überall präsent ist und das Heilige in jedem Menschen ehrt. Verschiedene Angebote wie Meditation, Exerzitien, Seelsorge und Seminare sind geplant und finden schon teilweise statt. Im Refugio gibt es auch Pilgerzimmer, die öfters von Menschen genutzt werden, die für kurze Zeit Zuflucht, Gemeinschaft und Erneuerung suchen.

      5 Sharehaus: Der Sharehaus-Gedanke der Wertschätzung, Anerkennung und Potenzialförderung


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