Jeder Mensch will ankommen. Sven Lager

Jeder Mensch will ankommen - Sven Lager


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ist möglich! Mit Gottes Hilfe, mit der Kraft seines Geistes erst recht. Und gerade in unserer Zeit, in der die See auch in unserem Land rauer wird, braucht es Christen, die nicht von der Furcht zu versinken getrieben werden, sondern vom Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit – mitten in der Welt.

      Wir erzählen die Geschichten auf unterschiedliche Weise. Zum Teil liegen Interviews zugrunde, die wir in kurze Ich-Erzählungen umgearbeitet haben. Zum Teil berichten wir von Erfahrungen, die Mitarbeitende in verschiedenen Flüchtlingseinrichtungen oder Gemeinden der Berliner Stadtmission gemacht haben. Oder wir beschreiben Personen, die wir in ihrer Einzigartigkeit stellvertretend für viele andere in den Blick rücken.

      Die Geschichten sind verschiedenen Themenräumen zugeordnet. Wir beiden Autoren, Sven und Gerold, diskutieren jeweils, welche grundsätzlichen Erkenntnisse sich aus den Geschichten gewinnen lassen. Bevor wir einen Themenraum verlassen, geben wir noch einige zusätzliche Informationen oder auch biblisch-theologische Hintergründe. Die verschiedenen Textarten sind auch grafisch unterschieden, sodass Sie jeweils klar erkennen, ob Sie eine Geschichte vor Augen haben, einem Gespräch „zuhören“ oder weitere Informationen erhalten.

      Nachdem wir sozusagen im Foyer unkommentiert auf uns haben wirken lassen, was Alex erzählt hat, befinden wir uns jetzt bildlich im Informationszentrum. Hier skizzieren wir zunächst die Projekte und Einrichtungen der Berliner Stadtmission in der Flüchtlings­arbeit. So lassen sich später die kurzen Geschichten ohne weitere Erklärungen zuordnen.

      Im Zentrum steht aber das sicher ungewöhnlichste Projekt: das Refugio, von dem Alex schon erzählt hat. Deshalb sollen die Leit­gedanken, die Struktur der Arbeit und die biblische Vision des Refugios ausführlich vorgestellt werden.

      Zunächst aber wollen wir einen kurzen Überblick über den in dieser Form jüngsten, aber inzwischen sehr breit aufgestellten Arbeitszweig der Berliner Stadtmission geben: Aus den gesammelten Erfahrungen als Trägerin von unterschiedlichen, staatlich geförderten Einrichtungen der Flüchtlingshilfe, als Erfinderin des Refugios, als Netzwerk für Ehrenamtliche und als für Geflüchtete engagierte Gemeinden entsteht ein Gesamtbild. Und die verschiedenen Perspektiven bieten hoffentlich ausreichend Anknüpfungspunkte zu den Erfahrungen und Fragen einer breiten Leserschaft.

      Mit „Haus Leo“ wurde dieser Arbeitszweig 2010 begonnen. Das Haus Leo ist eine Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlingsfamilien aus der ganzen Welt. Anders als bei vielen anderen Flüchtlingswohnheimen gibt es hier in den Zwei-Zimmer-Wohnungen mit eigener Küche und Nasszelle eine geschützte Privatsphäre. Eine stabile Umgebung sowie das Zusammenleben unterschiedlicher Menschen (Senioren, Studenten, Freiwillige) auf dem Campus der Stadtmission in der Nähe des Hauptbahnhofes fördert die Integration. Die Bewohner werden beraten und bei ihren ersten Schritten im Alltag begleitet. Die Sozialarbeiter sind behilflich in der Kommunikation mit Behörden, anderen öffentlichen Institutionen (Schulen, Kitas, Ärzten …) und bei der Suche nach Wohnungen oder Praktikums- und Ausbildungsplätzen. Darüber hinaus stehen sie für Seelsorge und Gespräche zur Verfügung. Und es werden Freizeitaktivitäten für Kinder und Erwachsene angeboten.

      Im Herbst 2014 kam mit „Haus Leo II“ ein zweiter Gebäudetrakt mit etwas kleineren Wohnungen, aber gleichem Programm hinzu. Insgesamt gibt es in beiden Häusern zusammen etwa 140 Wohnplätze vor allem für Familien.

      Der Name Leo kommt vom österreichischen Markgrafen Leopold VI., um 1200 n. Chr., der jedem, der einen bestimmten Eisenring am Stefansdom in Wien ergriff, Asyl, das heißt Schutz vor Verfolgung zusicherte. Markgraf Leopold VI. bestimmte in seiner Zeit auch mehrere Klöster zu Asylklöstern. Der Ausdruck „im Leo sein …“ erinnert daher an seinen Namen und bezeichnet einen Ort der Zuflucht und des Schutzes.

      Als im Spätherbst 2015 in Deutschland die sogenannte Flüchtlingswelle einen ersten Höhepunkt erlebte, wurde die Stadtmission vom Berliner Senat angefragt, ob sie eine Notunterkunft für neu ankommende Flüchtlinge erstellen und betreiben könne. Geplant war eine Traglufthalle, so wie sie im Winter vorher schon für Obdachlose als Notübernachtung erprobt worden war.

      Schon einen Monat nach der Anfrage standen auf einem beschlagnahmten Kunstrasenplatz einer umfangreichen Sportanlage (am Poststadion) in Moabit die beiden unterschiedlich großen Traglufthallen mit 6-Bett-Kabinen (Raum in Raum), einem großen Aufenthalts- und Essensbereich, einem Indoorspielplatz und insgesamt 294 Plätzen. Anfänglich betrug die Bleibedauer nur wenige Nächte, bald aber kam das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) weder mit der Registrierung noch mit der Weitervermittlung hinterher. So stieg die Bleibedauer kontinuierlich bis auf über ein halbes Jahr an. Gelegenheit, intensiv mit den Geflüchteten zu arbeiten: vom Sprachelernen ab der ersten Woche über kulturelle Freizeitveranstaltungen, Praktikumsvermittlungen bis zu ersten Begegnungen mit dem Grundgesetz (vgl. „In Sicherheit!“). Ende 2015 erhielt die Willkommens- und Integrationsarbeit in diesen beiden auch „balloon“ genannten Hallen den Integrationspreis von Berlin-Mitte.

      Weil der Zustrom von Flüchtlingen bis zur Schließung der Balkanroute im Frühjahr 2016 anhielt, wurden immer neue Notunterkünfte gebraucht. Und natürlich Träger, die für die immer schwieriger zu organisierende Arbeit Verantwortung übernahmen.

      So kam im Oktober 2015 eine weitere Notunterkunft in Spandau hinzu, und zwar in einer ehemaligen Zigarettenfabrik, mit zunächst bis zu 1000 Plätzen. Dort allerdings fehlten über Monate die notwendigen baulichen und hygienischen Voraussetzungen, die zwar von den zuständigen Behörden in Aussicht gestellt, aber nicht verwirklicht wurden. Unversehens und ungewollt war die Stadtmission verantwortlich für eine Einrichtung, die von den Bedingungen her über ein halbes Jahr lang im Grunde katastrophal war. Wie in solchen Umständen Gewalt zu vermeiden, wenigstens einzudämmen, und Frieden aufzubauen oder zu bewahren war – das war die extreme Herausforderung für ein Team, das erst während der laufenden Arbeit langsam zusammengestellt werden konnte. (Mehr dazu in Kapitel 2 und 3.)

      Im Sommer 2015 wurde in einem traditionsreichen fünfstöckigen Gebäude der Stadtmission in Nord-Neukölln eine ganz neue Form von Integrationsarbeit eröffnet: Das Sharehaus Refugio (kurz: Refugio), gemeinsames Leben von Geflüchteten und Einheimischen als „Heimat auf Zeit“. Hier kommt fast brennglasartig zusammen, was in anderen Einrichtungen und Initiativen oft unverbunden ist. Zugleich ist es die Einrichtung, in der christliches Leben und Zeugnis am ausdrücklichsten gelebt werden kann, auch deshalb, weil es nicht von staatlicher Förderung abhängig ist.

      Aber auch die allermeisten Stadtmissionsgemeinden waren ab Sommer 2015 im wahrsten Sinne des Wortes herausgefordert: entweder bei den Einrichtungen in eigener Trägerschaft oder aber – und das am häufigsten – in Flüchtlingsunterkünften und -heimen anderer Träger in unmittelbarer Nachbarschaft zur Gemeinde. Schön ist dabei zum Beispiel die Geschichte der Jungen Kirche Berlin-­Treptow (JKB), die zwei Monate lang in Gottesdiensten und Gebetszeiten danach fragte, welche Aufgabe Gott ihr wohl zugedacht habe. Genau am Montag nach dem Ende dieser Predigtreihe kam die Information, dass unmittelbar gegenüber eine neue Erstaufnahme eingerichtet würde – verbunden mit der Anfrage, ob die JKB zunächst mal die Kleiderkammer organisieren könne. Und schon am nächsten Wochenende ging es los.

      Aber hier wie auch in den anderen Gemeinden und Unterkünften waren und sind die Erfahrungen nicht nur positiv. Immer gab und gibt es Konflikte, Enttäuschungen – und die immer neue Anforderung, sich nüchtern und aufmerksam der aktuellen Situation zu stellen. Einfach nur nett zu sein, ist nirgendwo die Lösung, sondern verschärft oft die Probleme. Genauso wie umgekehrt jede ideologische Antwort, jede Scharfmacherei, von welcher Seite auch immer.

      Trotzdem sind wir überzeugt – und das zeigen unsere vielfältigen Geschichten –, dass in diesem Ringen um Menschenwürde und Integration eine biblische Kernaussage verwirklicht wird: „Der Fremde soll unter euch wohnen wie ein Einheimischer. Denn auch ihr wart Fremde in Ägypten“ (Hesekiel 47,22). Und bei allem Engagement für die Geflüchteten dürfen auch die nicht vergessen werden, die sich schon länger fremd fühlen – im eigenen Land.

      Es geht immer um Menschen! Um Gottes willen.


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