Bilder der Levante. Michael Jansen
Michael Jansen
Bilder der Levante
Eine Langzeitreportage aus dem Nahen Osten
Aus dem Englischen von Sabine Wolf
Für meine Weggefährten Godfrey und Marya und alle Menschen, die ich auf dieser langen Reise traf
Die Arbeit der Übersetzerin wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
Die Originalausgabe ist 2019 unter dem Titel "Windows on Interesting Times” bei Rimal Books erschienen.
© 2021 Rotpunktverlag, Zürich (für die deutschsprachige Ausgabe)
Umschlagbild: Aleppo, Oktober 2010, Jens Benninghofen, Alamy
eISBN 978-3-85869-908-4
1. Auflage 2021
Das gedruckte Buch enthält zwei Übersichtskarten.
Inhalt
Vorab
Dieses Buch ist weder eine offizielle Geschichte des letzten halben Jahrhunderts im Nahen Osten, noch handelt es sich um Memoiren oder eine Autobiografie. Bilder der Levante zeigt, was der Titel verspricht, Bilder. Eindrücke, die unsere Zeiten beleuchten. Durch Reportagen eröffnete Einblicke. Aufnahmen, anhand deren Markierung mit Ort und Datum sich Augenzeugenberichte weitreichender Ereignisse einordnen lassen.
Das Buch ist weniger eine chronologische Vorstellung von Menschen und Ereignissen als ein impressionistisches Experiment, eine »Geschichte über Geschichten«, weniger regelmäßiges Tagebuch oder systematische Presseberichterstattung als eine Sammlung von Geschichten, die auf Gedankenströmen gleiten, Geschichten von Menschen und Geschehnissen in meiner Region der Welt im Laufe des letzten halben Jahrhunderts.
Fließt ein Gedankenstrom erst einmal, bahnt er sich zwischen Eindrücken und Erinnerungen einen eigenen Weg; er mäandert, läuft zurück und wieder nach vorne, auf und ab und gewinnt an Kraft, bis vor unserem inneren Auge schließlich Vorstellungen von Menschen entstehen, von Ereignissen und Geschehnissen, seien sie von Bedeutung oder ganz nebensächlich. Bricht sich der Strom dann an den Felsen der Realität, zerplatzen vorgefasste Ansichten, Donner übertönt altbekannte Geräusche, vertraute Gerüche verwirbeln. Mit diesem Buch möchte ich einen frischen Blick auf die Ereignisse der vergangenen fünfzig Jahre öffnen.
Was ich gesehen und gehört habe, wie ich es bewerte und welche Schlüsse ich daraus ziehe, ist selbstverständlich auch durch meine Herkunft und Geschichte beeinflusst. Dementsprechend habe ich einige prägende Momente der eigenen Geschichte mit meinen Reportagen verflochten. Kein Journalist ist unbeteiligt oder neutral. Wir alle sind auf unsere ganz eigene Art subjektiv. Und so muss man, bevor man mit einer Geschichte über Geschichten beginnt, natürlich die eigene Intention darlegen.
Im englischen Original heißt das Buch »Windows on Interesting Times«, Fenster auf interessante Zeiten. Gerahmt wurden meine Ausblicke und Vorstellungen, meine Bilder, tatsächlich durch manch echtes Fenster, auch durch manches Computerfenster während der Recherche. Inspiriert wurde ich letztlich von einer Wendung, von der man sagt, sie sei ein alter chinesischer Fluch: »Mögest du in interessanten Zeiten leben!«
1Aufbruch
Kairo, Ägypten, 28. Januar 2011
Unter der Brücke des 6. Oktober stampfen Pferde nervös vor ihren Kutschen, die nicht weiterfahren können. Die Fahrer rauchen. Das Dröhnen vom Tahrirplatz schwillt an und nimmt ab, metallisches Knallen von Schüssen. Über unseren Köpfen die Stimmen von Zuschauern, versammelt auf der Terrasse des Ramses Hilton. Conor McNally, der Sohn der irischen Botschafterin, und ich rennen in die Hotellobby, die Treppe hinauf, und beziehen Stellung hinter staubig-stachligen Kübelpflanzen an der Terrassenmauer. Unten zu unserer Linken marschiert eine geschlossene Demonstrantenfront zum Abdel-Moneim-Riad-Platz und weiter zum Tahrirplatz. Bereitschaftspolizisten mit schusssicheren Westen, schwarz behelmt und gekleidet, schießen mit Tränengas und Schrot und sprengen immer neue Demonstrantenreihen auf. Immerzu stoßen einzelne Gruppen von Demonstranten vor und werden wieder zurückgeschlagen.
Zu unserer Rechten stecken Männer, Frauen und Kinder auf der Brücke des 6. Oktober fest, andere ein Stück flussabwärts auf der Kasr-el-Nil-Brücke, die auf den Tahrirplatz mündet. Auf der Brücke des 6. Oktober stellen sich Männer zum Asr auf, dem Nachmittagsgebet, stehen andächtig, friedlich, und verbeugen sich im goldenen Nachmittagslicht. Eine Pause im Kampf um den Tahrirplatz. Der uralte Nil, eine sanfte Brise kräuselt sein metallgraues Wasser.