Bilder der Levante. Michael Jansen

Bilder der Levante - Michael Jansen


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der östlichen Uferpromenade und aus den Straßen hinter dem Hotel strömen Demonstranten. Diszipliniert, in geschlossenen Reihen, unbewaffnet. Entschlossen, den Tahrirplatz zu erreichen, trotz Tränengas, Gummigeschossen und tödlichem Schrot. Abertausende Ägypterinnen und Ägypter. Vor meinem inneren Auge verlangsamt sich ihr Vormarsch zeitlupenartig, Stille umschließt die Szene. Der Himmel voller Gas- und Rauchwolken. Ich sehe nichts als den ungeheuren Zusammenprall zweier mächtiger Gruppen, in einem tödlichen Spiel gefangen. Die Demonstranten in ausgewaschenem Bunt, die Polizei in Schwarz, die Knöpfe und Sterne auf den Schulterklappen schimmern silbern. Gebrüll vom Tahrirplatz unterbricht meine taube Konzentration.

      Meine Atemwege, Augen und Haut brennen vom geruchs- und farblosen Gas, und ich fliehe in die Lobby. Auch Conor zieht sich schließlich zurück. Die Hoteltüren werden verschlossen. Der Wachmann sagt, wir könnten gehen, sobald sich die Situation beruhigt habe. Wir warten. Tränende Augen, juckende Haut. Ungeduldig. Von den Geschehnissen sehen wir nichts mehr. Endlich draußen. Eine Pause im Vorstoß der Demonstranten und die Abwehr durch die Polizei. Die offenen Pferdekutschen sind geflohen, die Straße ist leer. Conor und ich winken ein einsames, klappriges schwarz-weißes Taxi heran. Ich steige ein, er bleibt; ich muss einen Artikel abgeben. »Al funduk Marriott, minfudlak! Zum Marriott-Hotel, bitte!« Fünf Minuten später überqueren wir den Nil auf der Brücke des 26. Juli. Der Fahrer berechnet den Preis, den das Taxameter anzeigt.

       Kairo, Ägypten, 21. Juli 1961

      In Rafah im Gazastreifen stieg ich vor dem Morgengrauen in den Zug nach Kairo. In al-Arisch setzten sich drei ägyptische Armeeoffiziere, kaum älter als ich, in mein Abteil. Sie stellten sich vor, doch ihre Namen habe ich längst vergessen. Einer sprach gut Englisch, die anderen beiden lächelten steif. Es war eine lange, heiße Fahrt entlang der Sinaiküste. Feiner Staub drang durch die Fensterritzen und legte sich auf meine Arme, mein kurz geschnittenes Haar. Die Offiziere spendierten mir leuchtend rosa Limonade und Käsebrote mit Pickles, geriffelte Möhren und Gurken, deren Essigschärfe mir durch Mark und Bein fuhr. Bei El-Kantara kamen wir ins »richtige« Ägypten, dann ging es weiter südwärts nach Ismailia, vorüber an sattgrünen Äckern, betriebsamen Städten und Dörfern, bis zum Ramses-Bahnhof in Kairo. Vor dem cremefarbenen Gebäude mit seinen blauen Mosaikverzierungen stand ein riesiger Ramses aus Granit, die Arme fest an die Seiten gepresst, auf dem Haupt die Doppelkrone Ober- und Unterägyptens. Der schüchterne, stille jüngste Offizier wurde vom englischsprechenden Offizier beordert, mich sicher in mein Hotel zu bringen.

      Hassan, ein palästinensischer Freund aus Beirut, hatte mir ein Zimmer in einer kleinen Pension reserviert, die Landsleute von ihm in der als »Downtown« bezeichneten Gegend betrieben. Ich bekam ein sauberes Zimmer mit Bett, Waschbecken und einem schmalen Fenster mit grünen Läden. Zu meinem Bedauern waren Toiletten und Duschen auf dem Flur. Mit einem ägyptischen Pfund die Nacht war das Zimmer jedoch erschwinglich. Hassan, der gerade ebenfalls in Kairo war, nahm mich mit in den Gezira-Club, einst Spielwiese der britischen Kolonialherren, nun übernommen von der ägyptischen Unabhängigkeitselite. Von einer Tribüne aus sahen wir einem Wettbewerb im Tontaubenschießen zu. Während die Wurfmaschinen mit einem Klacken und Zischen die Tonscheiben losschleuderten, empörten Hassan und seine Freunde sich über die jüngsten Verstaatlichungen durch die Regierung Gamal Abdel Nassers. Am anderen Ende des staubigen, welken Rasens, knapp außerhalb der Reichweite der Gewehre, sammelte ein betagter Ägypter in abgetragener Dschalabija und mit Turban auf dem Kopf gelbe Scherben in einen Korb.

      Bei Einbruch der Dunkelheit lauschten wir in Gizeh einer hohl dröhnenden Tonbandstimme, die Ägyptens Geschichte erzählte, während Lichtstrahlen über die Stufenseiten der Pyramiden wanderten und die Sphinx anleuchteten. Von ihrer Nase hieß es, Napoleons Soldaten hätten sie Ende des 18. Jahrhunderts mit einer Kanonenkugel weggeschossen, obwohl schon frühere Reisende die Sphinx ohne Nase gezeichnet hatten.

       Bay City, Michigan, USA, 1946

      Ich kletterte auf einen Stuhl, um vom dem dritten Brett des Bücherregals ein Lesebuch für Kinder zu greifen, lief schnell zurück in mein Zimmer, setzte mich auf den Boden und schlug den festen grünen Einband auf. Blätterte Seite um Seite, wenige enttäuschende Illustrationen in Schwarz und Grau, Worte, in Sätzen geordnet, in einschüchternden Absätzen zusammengefasst. Ich entzifferte ein Wort, Buchstabe um Buchstabe, dann noch eins. Erkannte Wendungen und begriff ganze Sätze. Ich verstand Absätze und wurde als Höhepunkt mit einer vollständigen Geschichte belohnt.

      Sie handelte vom Heiligen Ludwig, einem französischen König während der Kreuzzüge, der 1249 mit seinen Truppen in der ägyptischen Hafenstadt Damiette landete und seine Soldaten auf einen Gewaltmarsch nach Kairo schickte, bis sie im Nildelta auf ägyptische Truppen stießen. Das Heer des Heiligen Ludwig wurde geschlagen. Er wurde gefangengenommen, starb jedoch erst zwanzig Jahre später in Tunis zu Beginn eines weiteren Kreuzzugs.

      Nach meinem Triumph mit dem Heiligen Ludwig langweilte ich mich in der Schule bei den lustigen Abenteuern von Dick und Jane und fing an, im Unterricht zu stören.

       Kairo, Ägypten, 29. Januar 2011

      Die Stadt erwacht nur langsam zum Leben, erschöpft von drei Tagen Massendemonstrationen auf dem Tahrirplatz.

      In Zamalek, einem Wohngebiet am Nordende der Insel Gezira mitten im trägen Nil, öffnen die wenigen Geschäfte und Cafés spät. Ein kleiner Junge hält Conor und mir einen Bund frische Minze entgegen, als wir zur Brücke des 6. Oktober unterwegs sind. Bewaffnete Polizisten sperren den Verkehr über die Brücke, ignorieren aber die wenigen Fußgänger. Der Tahrirplatz ist leer, döst in den warmen Sonnenstrahlen und wartet auf den »Tag des Zorns«.

      Wir gehen über den Platz und weiter nach Nordosten durch fast völlig verlassene Straßen, vorbei an Moscheen und Geschäften mit geschlossenen Läden. Die Gläubigen waren zum Mittagsgebet hier und sind wieder fort. Aus einem verbeulten blauen Auto ruft uns eine hübsche junge Frau in fließendem Englisch zu: »Sie sollten lieber nicht draußen sein! Heute passiert noch was. Wo müssen Sie denn hin?«

      »Zamalek«, antwortet Conor.

      »Steigen Sie ein, ich nehme Sie mit. Da muss ich auch hin.«

      Als sie uns absetzt, frage ich sie, wo sie hinfahre. »Zum Tahrirplatz«, das Schlachtfeld zwischen Volk und Regime. »Ich treffe mich mit vier Freunden, um auf die Demo zu gehen. Eigentlich wollten noch mehr kommen, aber weder Handynetz noch Internet funktionieren, und so konnten wir keinen Treffpunkt ausmachen.«

      »Warum demonstrieren Sie?«, frage ich und hoffe auf ein verwertbares Zitat. »Ich habe mein ganzes Leben unter Mubarak gelebt«, sagt sie. Hosni Mubarak, Ägyptens Präsident seit dreißig Jahren. Als sie wegfährt, sagt Conor: »Hast du gesehen? Ihr Lidschatten war auf ihr Top abgestimmt.«

      Abermals überqueren wir den Nil und gehen auf der Uferpromenade zurück Richtung Tahrirplatz. Vor dem dickbäuchigen beigen Gebäude des ägyptischen Staatsfernsehens stehen Panzer. Bereitschaftspolizisten haben ein Spalier gebildet, damit Demonstranten nicht auf die Idee kommen, den Sender übernehmen zu wollen. Das Sagen hat immer noch Hosni Mubarak. Die Kontrolle über den Rundfunk entscheidet über Aufstieg oder Untergang eines Regimes.

      In der Gasse neben dem Gebäude betrachten Wachmänner in Zivil, mit Holzknüppeln bewaffnet, die Passanten mit düsteren Blicken. Ein Jugendlicher bricht aus ihrem Gewahrsam aus, rennt über die Straße und stolpert das Flussufer hinunter, wird jedoch von einem schnellen Polizisten eingeholt und in die Gasse zurückgezerrt. Wir gehen weiter, angezogen vom Getöse auf dem Tahrirplatz.

       Kairo, Ägypten, 25. November 2010

      Die Stadt der Toten schien zu schlafen. Die staubige Imam-al-Lesi-Straße lag verlassen. Türen und Tore der Hausgräber und großen Mausoleen waren fest verschlossen. An manchen Eingängen hingen Vorhängeschlösser, andere waren zugemauert. An den Grabmauern standen die Namen und Daten der Verstorbenen auf Marmortafeln. Inoffizielle Siedler, manchmal Familienmitglieder, wollen hier nicht erkannt werden, tun so, als wären sie Wärter. Ein leerer Bus schlingerte vorüber. In der Tür eines Hauses, flankiert von zwei verkrüppelten Bäumen, erschien eine Frau in einem blauen Kaftan. Raya, eine


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