Bilder der Levante. Michael Jansen

Bilder der Levante - Michael Jansen


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Tee trifft.

       Kairo, Ägypten, Juli 2013

      Aus ihrem eleganten Palais am Nil, den sie schon vor langer Zeit verkauft hatte, war Lili, Leila Doss, nach Garden City gezogen, in den achten Stock eines öden braunen Gebäudes zwischen streng bewachten Botschaften beim Tahrirplatz. Von dort war sie viermal in ihrem Rollstuhl zum Demonstrieren auf die Straße heruntergekommen und war so zu Ägyptens ältester Revolutionärin geworden. »Die Leute freuen sich so, mich zu sehen. Sie küssen mir die Hand und fotografieren ihre Kinder mit mir […] Wir mussten Mubarak und seine Leute loswerden, ihre Geldgier war einfach unfassbar geworden. Die Bevölkerung ist immer weiter verarmt. Das Land hat der Regierung den Rücktritt befohlen. Es war unglaublich.«

      Lili, Jahrgang 1916, hat drei ägyptische Revolutionen miterlebt, 1919 gegen die Briten, 1952 gegen den König und 2011 bis 2013 gegen die Autokratie. Ihre revolutionäre Karriere begann früh. Sie lehnte sich gegen ihren konservativen Vater auf, Tewfik Pasha Doss, koptischer Christ und Minister zur Zeit der Monarchie, der den Grundpfeiler der Kasr-el-Nil-Brücke gelegt hatte, einen der Hauptzugänge zum Tahrirplatz. Mit fünf Jahren zog sich Lili die Hosen ihres Bruders an, damit sie im Garten des Familienpalais auf Bäume klettern konnte. Als begehrenswerte junge Frau weigerte sie sich zu heiraten, selbst den äthiopischen Kronprinzen. Ihr Vater fand, Mädchen sollten nicht studieren, und sagte ihr, sie solle sich wohltätiger Arbeit widmen. So wurde Lili 1936 Mitgründerin von Tahseen al-Seha, einer Organisation zur medizinischen Versorgung von Kindern in Armut.

      Immer wieder forderte Lili die aufeinanderfolgenden Regime heraus. Unter Präsident Gamal Abdel Nasser durfte sie nicht ins Ausland reisen. Sein Nachfolger Anwar al-Sadat verlieh ihr einen Orden für 25 Jahre Dienst; Lili verkaufte den Orden und spendete den Erlös dem Kinderkrankenhaus bei den Pyramiden. Sie kämpfte gegen Mubaraks Ehefrau Suzanne, die das Krankenhaus zu einem Museum machen wollte. »Nur über meine Leiche«, sagte Lili. »Mit 65 bin ich in den Ruhestand gegangen, habe mein Fachabitur gemacht und einen Bachelor- und Master-Abschluss«, an der American University in Kairo. Mittlerweile gab es keinen Vater mehr, der es hätte verbieten können.

       Kairo, Ägypten, Anfang 1965

      Am frühen Abend, als die Sterne am dämmrigen Himmel zu funkeln begannen, überquerten wir die Bulakbrücke und bogen in die Einfahrt des Omar-Khayyam-Hotels, gingen die Freitreppe hinauf zur Rezeption, checkten ein und erhielten den Schlüssel zu unserem Chalet. Der Angestellte lächelte. »Willkommen in Ägypten!«

      Ma, meine Mutter, Dorothy Ellen Fancher, geborene Kibby, sagte: »Schau mal, hier liegen so viele Teppiche, dass sie sich überlappen.« Belutsch-Gebetsteppiche, anatolische und persische Teppiche, der Saum des einen über dem des anderen, bildeten kleine Schwellen mit ineinanderverwickelten Fransen. Ma war vor dieser Reise noch nie außerhalb der USA gewesen.

      Wir folgten dem Gepäckträger durch einen Korridor, die Hintertreppe hinunter und in den Garten. Unser hölzernes Chalet war kühl, der Gepäckträger stellte die Klimaanlage an, um das schlichte Zimmer zu heizen; das angrenzende Bad war mit Kerosin parfümiert, das zum Desinfizieren und Desodorieren in die Toiletten geschüttet wurde.

      Nach dem Abendessen in einem eleganten, aber kalten Raum des Palasthotels auf Gartenhöhe gingen wir an die Bar, um uns mit Aprikosenschnaps innerlich zu wärmen. Mas gesprenkelte nussbraune Augen leuchteten neugierig in dem weichen Licht. Der Bartresen war aus hochglanzpoliertem Holz, darin Intarsien aus Perlmutt und verschiedenfarbigen Hölzern. Die Wände waren mit matter, dunkelgrüner Seide verhangen. Ma trug ein ärmelloses grünes Velourskleid über einem cremefarbenen Seidenhemd mit langen Ärmeln, ein warmes Tuch um die Schultern geschlungen. Ihr Haar war aufgetürmt. An ihren Handgelenken schwere, breite, geriffelte Silberarmreife.

      Am nächsten Morgen nahmen wir ein Taxi zu den Pyramiden. Ma in hohen braunen Stiefeln war eingewickelt in einen rotgraukarierten Mantel, mit einem Kopftuch gegen den Wind. Ich trug glücklicherweise Jacke und Hose.

      Als wir auf der Ebene von Gizeh angekommen waren, entschied sie, ich solle auf die Cheops-Pyramide klettern, an das Handgelenk eines großen Fremdenführers geklammert, der Dschallabija und einen Wollschal um den Kopf trug.

      Die Steinblöcke bildeten schenkelhohe Stufen, manche bröckelnd, manche uneben. Mein Fremdenführer, der Gummi-Flipflops trug, kannte den besten Weg und trat präzise auf die Stufen. »Folgen Sie mir, folgen Sie mir«, forderte er mich auf Englisch auf, während er mich die Pyramide hinaufzog. »Festhalten, festhalten.« Er hielt nicht einen Moment inne, und zog mich, Steinblock um Steinblock, bis zur Spitze empor. Von dort spähten wir zu Ma hinunter, klein und einsam in der Wüste, und betrachteten Initialen, die frühere Besucher in das Gipfelplateau geritzt hatten. Dann ging es wieder rasch hinunter, Block um Block, meine Wadenmuskel zitterten und meine Knöchel drohten einzuknicken. »Siebeneinhalb Minuten«, stellte Ma fest, als wir wieder bei ihr waren. Der Fremdenführer sagte, seine Bestzeit liege bei vier Minuten, und schien sich über das Trinkgeld von zwanzig Dollar zu freuen.

       Kairo, Ägypten, 29. Januar bis 11. Februar 2011

      An der Rezeption des Marriott-Omar-Khayyam-Hotels haben sich Schlangen abreisender Touristen gebildet. Neben dem Informationsschalter türmen sich auf den aufgereihten Gepäckwagen die Koffer. Sonderflüge nationaler Fluglinien holen die Leute aus Ägypten heraus. Banken und Geldautomaten sind geschlossen, aber an der Rezeption funktionieren die Kreditkarten noch.

      Der Himmel ist bedeckt, die Luft weich und feucht. Am östlichen Nilufer schwelen die Überreste des mehrstöckigen Gebäudes von Mubaraks Nationaldemokratischer Partei.

      Die lächelnden Gesichter zweier junger Ägypter auf einer Werbetafel sind vom Brand verschont geblieben.

      Ich rase im Taxi zum Büro der Agence France Presse und gebe am Satellitentelefon der Nachrichtenagentur zwei Artikel durch. Mir ist klar, dass ich eine Alternative hierzu finden muss, genauso wie zu Isoldes diplomatischer Internetverbindung, die von der Kommunikationsblockade ausgenommen ist. Die Lösung ist einfach. Meine Kollegen und ich drucken und faxen unsere Manuskripte vom Marriott aus; unsere E-Mail-abhängigen Zeitungen müssen, bis Mobiltelefone und das Internet wieder funktionieren, ihre alten Faxgeräte ausgraben.

      Tausende Ägypterinnen und Ägypter aller Altersstufen und Schichten strömen auf der Kasr-el-Nil-Brücke zusammen und gehen dort unter dem Blick der Statue des Khedive Ismail Pascha entlang, der als Herrscher im 19. Jahrhundert das heutige Stadtzentrum erbauen ließ. Sie gehen hindurch zwischen den Paaren riesiger Bronzelöwen, die auf Sockeln sitzend die Brücke an beiden Enden flankieren. Die Menschen tragen Flaggen, Banner und Plakate mit einem einzigen Wort: erhal (verschwinde). Sie blicken sich nach schwarz gekleideter Bereitschaftspolizei und nach den baltagiya, den Schlägertrupps in Zivil um. Die Bevölkerung bewegt sich frei in Richtung Tahrirplatz. Sie gehen an den wachenden Löwen vorbei, zu deren Pranken kleine Jungen sitzen. Am Zugang zum Platz sind behelfsmäßige Barrikaden errichtet und an für Frauen und Männer getrennten Kontrollposten überprüfen Freiwillige höflich die Taschen. Väter mit kleinen Kindern auf den Schultern, Frauen mit oder ohne Kopftuch vermischen sich mit Jugendlichen in T-Shirts, die »al-sh’ab yurid isqat al-nizam« (Das Volk will den Sturz des Regimes) rufen.

      »Thawra, thawra!« (Revolution, Revolution!), antwortet die Menge. »Wir verlassen diesen Platz, wenn Mubarak Ägypten verlässt«, ruft Ahmad, ein Bursche mit Strickmütze. Junge Männer scharen sich um mich, um ihre Meinung zu äußern. Ahmad befiehlt: »Schreiben Sie, schreiben Sie auf, was wir sagen, erzählen Sie der Welt, dass wir Demokratie und Freiheit wollen. Keine Korruption mehr. Keinen Mubarak mehr.«

      Karin Leukefeld, eine deutsche Kollegin, ist aus Damaskus gekommen und geht mit mir die zwanzig Minuten vom Hotel zum Tahrirplatz. Wir haben uns 2003 in Bagdad kennengelernt und seitdem in Irak, Ägypten und Syrien oft ein Team gebildet. Umgeben von protestierenden Professoren, die uns drängen, über ihre Ansichten zu berichten, werden wir selbst zu Studentinnen von Seminaren, die wir unter uns »Revolution 101« nennen. Uns begegnen ein nubischer Taxifahrer, der Geld braucht für die Diabetesmedikamente seiner Frau und die Ausbildung seines Sohnes. Ein Mann, voller Staub vom Tahrirplatz, der behauptet, Mubarak habe 70 Milliarden Dollar gestohlen. Als wir ihn fragen, woher er


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