Bilder der Levante. Michael Jansen
Jeden Morgen gehen sie nach Hause, um zu duschen und sich zu rasieren.
Über uns fliegen Hubschrauber, ein Panzer fährt im Slalom über den Platz und wird von der Menge, die für den ächzenden Koloss zur Seite tritt, bejubelt. Die Menschen vom Tahrirplatz, die Tahriris, glauben, die Armee, die sich aus den Gefechten herausgehalten hat, stehe auf ihrer Seite und gegen Mubarak, gegen seine Sicherheitsleute und die baltagiya. Ein dünner Jugendlicher in rotem Hemd zeigt die Hülse einer scharfen Patrone vor, ein Mann hält mir eine Handvoll Gewehrpatronen hin. »Sehen Sie mal, die sind aus amreeka«, ruft er und hält die grüne Hülse hoch, um das Messingende zu zeigen: »USA«.
Männer mit salafistischen Bärten ohne Oberlippenbart und mit Bärten im Stil der Muslimbruderschaft, Nikabs und Hidschabs, Frauen mit Locken in Jeans und Pullovern, Junge, Alte und Menschen mittleren Alters, alle sind hier. Hier auf dem Tahrirplatz, zur Zeit der Befreiung.
Der Lärm von Kampfflugzeugen übertönt die Stimmen auf dem Tahrirplatz, wo Hunderte Richter für den Rückzug der Polizei demonstrieren und Untersuchungen zu Schüssen auf unbewaffnete Demonstranten fordern. Ghada Shahbender von der Ägyptischen Organisation für Menschenrechte sagt, die Zahl der Toten belaufe sich in Kairo auf einhundert, in Alexandria auf dreißig und in Suez auf sechzig.
Die Ausgangssperre ab sechzehn Uhr wird ignoriert. Menschen sind zu allen Tages- und Nachtzeiten auf der Straße. Entlang der Straße des 26. Juli haben sich Nachbarschaftswachen aufgestellt, um mit Knüppeln und Gehstöcken Kriminelle und baltagiya zu vertreiben. Ein Mann in einer braunen Lederjacke, begleitet von einem großen Schäferhund, bietet mir an, mich sicher zur Residenz zu geleiten. Conor, der sich der Wache angeschlossen hat, sagt: »Wir haben Molotowcocktails und Besenstiele.«
Die Armee umringt den Tahrirplatz mit gepanzerten Mannschaftswagen, Spähwagen und Kampfpanzern, die im Tarnbeige der Wüste aus dem Stadtbild fallen. Sie kappt den Zugang mit Rollen von Klingendraht. Soldaten werden zu Torwächtern des Platzes, prüfen Ausweise, ohne Namen aufzuschreiben.
Flugdrachen in den Farben der ägyptischen Flagge sinken und steigen über der Kasr-el-Nil-Brücke. Straßenhändler verkaufen Fahnen, überdimensionierte Zylinder in Grün, Schwarz und Rot sowie T-Shirts. Jugendliche bieten an, winzige ägyptische Flaggen auf Wangen zu malen. Man könnte meinen, die Ägypter hätten sich seit Monaten oder Jahren auf eine Revolution vorbereitet und seien nicht von einem plötzlichen Aufstand überrascht worden. Der Organisator Sherif sagt, als über Facebook zu Demonstrationen am 25. Januar aufgerufen worden sei, hätten sie »fünfzig Leute hier und hundertfünfzig da« erwartet. Es kamen fünfzigtausend.
Jungen schieben Fahrräder, an den Lenkern Plastiktüten voller Styroporschachteln mit Geflügel und Nudeln, um die Menschenmenge mit Essen zu versorgen. Andere tragen Tüten mit runden Brotlaiben und verteilen Wasserflaschen. Am östlichen Ende des Platzes werden an behelfsmäßigen Ständern Porträts der in den Gefechten Umgekommenen befestigt, die wie Märtyrer gefeiert werden. Aktivisten stellen Zeichnungen des Tahrirplatzes aus und malen, auf dem Boden auf Kartonbögen kniend, Poster, die Mubaraks Amtsenthebung fordern. In der Nähe von Hardee’s-Schnellimbiss vor der Haupttribüne, wo Freiwillige die Tonanlage bedienen, bilden sich Schlangen; den ganzen Tag über erschallen spontane Reden über die Lautsprecher. Die Ägypter sagen ihre Meinung.
Restaurants und Geschäfte am Platz haben geschlossen, manche sind mit Rollläden verschlossen, andere nicht. Kein einziges ist beschädigt, kein Fenster eingeschlagen. In einem Zelt auf dem Verkehrskreisel ist ein Feldlazarett untergebracht, dort sagt ein Grafikdesigner, der sich nach dem altägyptischen Gott Horus nennt: »Zum ersten Mal seit dreißig Jahren sind wir stolz, Ägypter zu sein. Wir waren taub geworden. Jetzt können wir kaum glauben, dass wir die Dinge selbst in die Hand nehmen.«
Als wir wieder zur Kasr-el-Nil-Brücke gehen, ruft ein junger Mann in einem blauen Pulli Karin und mir hinterher: »Danke fürs Kommen!«, als hätten wir einer Teegesellschaft beigewohnt, nicht einer Revolution.
Organisatoren fordern einen »Marsch der Millionen« vom Tahrirplatz zum Präsidentenpalast in Heliopolis, doch das Militär blockiert den Weg. Wieder tritt Mubarak im Fernsehen auf, dieses Mal um elf Uhr abends, und verkündet, dass er nicht mehr für das Präsidentenamt kandidieren wird. Fassungslos buhen und pfeifen die Menschen auf dem Tahrirplatz ihn aus.
An der Uferpromenade versammeln sich Mubaraks Anhänger vor dem Gebäude des Staatsfernsehens. Ein Mann trägt einen ganzen Strauß von Flaggen an Stangen und verteilt sie an alle, die kommen. Abhängige Beamte und Arbeiter aus Fabriken, die Loyalisten gehören, unrasierte harte Männer von der inneren Sicherheit und Polizisten in Zivil. Wir eilen zurück in die Sicherheit des Tahrirplatzes.
Die Armee lockert ihren Griff um den Tahrirplatz und lässt zu, dass Mubaraks Männer auf Kamelen und Pferden, mit Peitschen und Knüppeln auf den Platz reiten. Sie werden von Demonstranten zurückgedrängt, die sich mit Schilden aus Wellkunststoff und Pflastersteinen bewaffnet haben. Der Zusammenstoß wird nach einer wichtigen Schlacht der islamischen Geschichte »Kamelschlacht« getauft. Am nächsten Morgen sind ordentliche Haufen grober Pflastersteine an strategischen Punkten rings um den Platz verteilt. Wachen trommeln rhythmisch auf hohlen Laternenpfosten, wann immer sich Schläger im Dienst des Regimes nähern. Männer bewaffnen sich mit blau ummantelten Aluminiumrohren von der Baustelle vor dem Ägyptischen Museum. Die Demonstranten, wütend darüber, dass die Soldaten und Panzer die Angreifer nicht aufgehalten haben, skandieren nicht mehr »Volk und Armee gehen Hand in Hand«.
Außer der Kasr-el-Nil-Brücke sind alle Zugänge zum Tahrirplatz gefährlich. In der Talaat-Harb-Straße und der Muhammad-Mahmud-Straße lauern Sicherheitsleute in Zivil, warten baltagiya und Lockspitzel auf Aktivisten und Journalisten. Ein französisches Fernsehteam wird verschleppt und stundenlang auf einer Polizeiwache festgehalten. In Sichtweite des Talaat-Harb-Platzes werden wir von zwei gut gekleideten, stämmigen Typen angehalten. Als sie Karins Tasche durchsuchen wollen, versteckt sie ihre Kamera am Boden unter einem Schal und zieht nur ihr Tonbandgerät hervor. Ein junger Ägypter in unserer Nähe beobachtet die Situation und greift ein. »Reden Sie nicht mit denen und kommen Sie mit.« Er führt uns bis zum Platz, wo wir in ein zerbeultes schwarz-weißes Taxi steigen und durch die wäscheverhangenen staubigen Hintergassen Bulaks fahren, bis wir schließlich die Brücke nach Zamalek überqueren. Unser Entführer stellt sich als Hussein vor. Als wir drei in der Nähe der Buchhandlung Diwan aussteigen, gibt er uns seine E-Mail-Adresse.
Ägypterinnen und Ägypter, die zum Tahrirplatz wollen, strömen durch Zamaleks verwinkelte Straßen und breite Alleen zur Kasr-el-Nil-Brücke. Dort bilden sie fröhlich Schlangen von einem Löwenpaar zum anderen. Kleine Jungen mit Flaggen klettern auf die Statuen. Verschwunden sind die Haufen von Pflastersteinen, die Knüppel und Schilde, mit denen die Verteidiger die Kontrolle der Revolution über den Platz aufrechterhielten. In einem plötzlichen Gesinnungswandel stehen jetzt Soldaten in Flakwesten und Helmen bereit, um die Demonstranten vor Angreifern zu schützen. Vizepräsident Omar Suleiman ruft Eltern auf, ihre Kinder nach Hause zu holen. Doch die Eltern und Großeltern sind selbst auf dem Platz und feiern ihre Befreiung.
Auf der Hauptbühne beklagt ein Mann am Mikrofon dreihundert Märtyrer. Isolde Moylan, elegant in Hosenanzug und Seidenschal, kommt auf den Platz, um den Leuten zuzuhören. Christen bieten Muslimen Schutz, indem sie sich während der täglichen Gebete um sie stellen. Ein koptischer Priester predigt einer hauptsächlich muslimischen Gemeinde. Alle zusammen singen wir Biladi, die ägyptische Nationalhymne. Mira, eine Studentin, hält ein Plakat in die Höhe, auf das ein Ausweis gemalt ist: »Name: Bürgerin; Religion: Ägypterin; Geburtsort: Tahrirplatz; Beruf: Revolutionärin.«
An den Barrikaden zum Tahrirplatz sagen Soldaten, wir dürften den Platz nur mit ägyptischen Presseausweisen betreten. Nach einem Anruf bei der Pressestelle wird uns der Zutritt gewährt. Gleich am Rande des Platzes stehen in zwei Reihen Männer mit Trommeln und Tamburinen. »Wartet, wartet«, ruft der Dirigent. Und während wir an ihnen vorbeigehen, singen die Männer: »Raus, raus, Omar!«, schlagen auf ihre Trommeln und schütteln die Tamburine. General Hassan al-Rawini, Chef des Zentralkommandos der Armee für Kairo, betritt den Platz. Er ist umringt von bewaffneten Soldaten und klettert auf die Bühne. Als er verkündet: »All eure Forderungen werden heute Abend erfüllt«, tragen