Bilder der Levante. Michael Jansen

Bilder der Levante - Michael Jansen


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er, er werde bis zur Präsidentschaftswahl im September des Jahres im Amt bleiben. Der Tahrirplatz gerät in Rage. In der Abenddämmerung des 11. Februar, ein Freitag, verkündet Omar Suleiman, blass und sichtlich mitgenommen, einen Offizier an der Seite, Mubarak habe »entschieden, sein Amt als Präsident niederzulegen« und das Militär zur Regierungsmacht ernannt. Der Tahrirplatz tost vor Freude, Feuerwerke werden gezündet, leere Straßen füllen sich mit hupenden Autos, die die Scheinwerfer aufflackern lassen. Die Ägypter tanzen auf der Straße, umarmen einander, weinen, lachen, schreien »Hurriya, hurriya!« (Freiheit, Freiheit!).

       Kairo, Ägypten, 12. Februar 2011

      Die Bevölkerung geht auf die Straße, geht zum Tahrirplatz. Mit Besen und Eimern, Plastiktüten, Farbeimern und Pinseln bewaffnet, überqueren Menschen die Kasr-el-Nil-Brücke. Ein Abschleppwagen zieht ausgebrannte Autos aus dem Zugang zur Metrostation Sadat. Ägypterinnen und Ägypter mit Mundschutz und Handschuhen fegen Müll zusammen und leeren ihn in Säcke. Eine gut gekleidete Frau in kniehohen Lederstiefeln, eine ägyptische Flagge um die Schultern gelegt, schwingt ungeübt einen Besen. Schmutzige Straßenkinder schieben Karren voller Mülltüten zu Sammelstellen, von denen Laster die Säcke wegfahren. Auf dem Boden ausgebreitete Plastikplanen werden mit Blumen belegt, um zu markieren, wo Märtyrer gestorben sind. Andere Teams schrubben Graffiti von der Statue Abdel Moneim Riads und von Gebäudefassaden. Jugendliche streichen ein Wachhäuschen vor der Villa, in der sich das Außenministerium befand, und erneuern die schwarz-weißen Streifen an Bordsteinkanten. Barrikaden werden abgebaut und fortgetragen. Mädchen, die die Straße kehren, haben auf ihren Pulloverrücken Zettel befestigt: »Entschuldigen Sie bitte die Unannehmlichkeiten. Wir bauen gerade Ägypten auf.«

       Larnaka und Agios Dometios, Zypern, 14. Februar 2011

      Andreas schob den bezahlten Parkschein in den Automaten, um die Schranke an der Ausfahrt des Flughafens zu öffnen. Er schimpfte mich aus: »Meine Frau und ich haben uns Sorgen um Sie gemacht. Wir haben im Fernsehen gesehen, was in Ägypten los ist. Als Sie mich nicht angerufen haben, damit ich Sie vom Flughafen abhole, haben wir uns Sorgen gemacht. Ich war mal in Ägypten. Wir sind mit dem Schiff nach Alexandria und dann mit dem Zug nach Kairo. Auf der Reise wollten alle Ägypter Geld von uns.«

      Er parkte vor meinem Tor bei der hohen schiefen Pinie und hob meinen Rollkoffer aus dem Kofferraum des Mercedes. Ich nahm den Koffer, legte mir meine Laptoptasche um und stieg die Stufen zur Veranda hinauf. Zwischen dem schmiedeeisernen Gitter und dem Türglas steckte ein Zettel: »Bitte melde dich.« Noch jemand Besorgtes. Im Hausflur war es kühl, ein wenig feucht. Nadeln der gefährlich schiefen Pinie vor dem Haus waren unter der Tür hindurchgeweht und hatten sich am Saum des rot-grünen Beduinenteppichs auf dem Terracottaboden gesammelt. Ich sah mein Gesicht und meine Schultern in dem Spiegel, in dessen Holzrahmen drei Pfauen geschnitzt waren, die Arbeit eines Insassen im Gefängnis von Baaklin, an einen Beiruter Trödelladen verschleudert, nachdem die Ehefrau des Häftlings sich beklagt hatte, Pfauen brächten Pech. Über der Tür zum Wohnzimmer Maaths Gemälde von fünf um einen Tisch versammelten Clownsköpfen mit dem frechen Titel »Das letzte Abendmahl«. Über der Tür zum Arbeitszimmer das Bild eines zyprischen Malers im Stil van Goghs, Explosionen strudelnder winziger blauer und goldener Ovale. Auf dem persischen Kelim über den Holzdielen lagen Faxe, das rote Licht des Anrufbeantworters blinkte. Als ich den Computer angeschaltet hatte, rief ich Marya, meine Tochter, an und sagte ihr, ich sei wieder sicher zu Hause.

      Sie antwortete lebhaft und voller Energie, Brian und Lili gehe es gut. »Ich habe auf Facebook erwähnt, dass du in Ägypten bist und alle haben gefragt, was du dort machst. Also habe ich Links zu deinen Artikeln gepostet.«

      Auf dem Bücherregal neben Telefon und Fax stand der Porzellanrahmen mit Godfreys Foto; die Hand zur Betonung seiner Rede geöffnet, blickte er mich mit geschürzten Lippen an. Er hätte die Szenen auf dem Tahrirplatz großartig gefunden und sie in sehr viel bessere Worte als ich gefasst. »Du hast dein Bestes getan, vergiss den Rest«, hätte er gesagt.

      Ich lüftete das Wohnzimmer, in dem neben dem verrußten Kamin der grün-goldene Metallpfau Wache stand, und öffnete die Türen zur Seitenveranda. Ich holte den Weihnachtsstern herein und stellte ihn in den silbernen Topf auf das Kupfertablett, unsere Tischplatte. Unter dem Tisch lag Grandma Fanchers rosa-weiß-blauer Saruk, 1908 von ihr erstanden, im Geburtsjahr meines Vaters.

       2Ausbruch

       Bay City, Michigan, USA, vierziger Jahre

      Grandma Fancher erlaubte nur ein paar leichte Möbelstücke auf ihrem Saruk; Schuhe waren verboten. Aber sie hatte nichts dagegen, wenn ich mit meinem Spielzeugauto über die blau geblümte Fahrbahn entlang des Teppichrands fuhr. Der Saruk ist viel herumgekommen. In Iran geknüpft, in Bay City erstanden, nach Denver und wieder zurück transportiert, dann nach Beirut, Damaskus und schließlich in das zweitausend Jahre alte Agios Dometios, die Mischung aus Vorort und Dorf, wo ich heute wohne.

      Grandma Fancher bewohnte eine Zimmerflucht in dem schönen Haus mit Garten ihrer Schwester Minnie. Der Saruk bedeckte die Holzdielen im Salon meiner Großmutter, um ihr Bett im Nebenzimmer waren drei blaue chinesische Seidenteppiche gelegt. Auf ihrem Frisiertischchen ein silbernes Art-Déco-Set, Handspiegel, Kamm und Bürste, verziert mit einer Frau mit fließendem Haar. Grandma Fancher frühstückte im Bett, saß dort in ihrer wattierten Jacke, das Essen vor sich auf einem Tablett mit Füßchen, von der Köchin hereingebracht. In der rechten oberen Ecke des Tabletts stand immer eine kleine Teekanne mit Blumenmuster, dazu die passende Tasse und Untertasse. Über Nacht hatte ihr ein spinnenfeines Haarnetz eine zarte Linie quer über die Stirn gezeichnet. Nachdem sie gebadet, sich mit Talkumpuder eingerieben und angekleidet hatte, frisierte sie sich mit einem elektrischen Lockenstab das drahtige graue Haar, das sie kurz, aber nicht zu kurz trug.

      Grandma Fancher, eine zierliche Frau mit dunklen, tief liegenden Augen, stets in elegante, dunkelblaue oder burgunderrote Kleider aus weicher Wolle gekleidet, eine Brosche am hohen V-Ausschnitt, sah ihrer großgewachsenen, knochigen, hellhäutigen älteren Schwester überhaupt nicht ähnlich.

      Vor dem Mittagessen zog der Duft von Hefebrötchen und Brathähnchen durchs Haus. Bei Tisch musste ich stillsitzen und aufessen. Die Ehre meines Zweigs der Familie – der jüngeren, benachteiligten Seite – lag auf meinen Schultern. Der Zweig von Großtante Minnie war die wohlhabende, ältere Seite.

      Ida, meine Großmutter, hatte die High School als Jahrgangsbeste abgeschlossen und wollte gern ans Vassar College, doch ihr Vater, der dafür wohlhabend genug gewesen wäre, sagte: »Mädchen gehen nicht aufs College, sie heiraten.« Ida rächte sich, indem sie ihrer Schwester Minnie den Verlobten stahl. Auf Idas Nachttischchen stand in einem Silberrahmen ein Foto vom großen, ernsten Arthur und ihr selbst, in Weiß, breitkrempige Hüte auf den Köpfen, während eines Urlaubs in Palm Beach.

      Sie hatte immer nach Hawaii gewollt. Arthur versprach es ihr, starb aber in Denver, bevor sie die Reise hätten antreten können. Mit meinen Eltern kehrte sie nach Bay City zurück, um sich dort im Netz der Familie zu verfangen, breit ausgeworfen von der auch verwitweten Minnie.

      Ich rechne es Grandma Fancher hoch an, die Grundlagen für meinen Triumph mit dem Heiligen Ludwig gelegt zu haben. In goldenen Brokat gekleidet, saß sie in der Wohnung meines Vaters im Ohrensessel und las mir aus den Märchen der Gebrüder Grimm und Hans Christian Andersen vor, bis ich sie auswendig kannte und sich die Worte klammheimlich in mein Unbewusstes eingeprägt hatten. Als ich dann gedruckten Worten in der Geschichte über den Heiligen Ludwig begegnete, sprangen sie mich praktisch aus den Seiten an.

       Bay City, Michigan, USA, September 1951

      Der blasse Lehrer, unsere erste männliche Lehrkraft in der Grundschule, war neu und kannte sich in der Schule noch nicht aus. Als er die Anwesenheitsliste durchging, »Billie Carlisle« rief und ein Mädchen aufstand, wirkte er kurz ratlos. Sagte aber nichts. Als dann bei »Michael Fancher« ein zweites Mädchen aufstand, schickte er uns beide zur Direktorin. Die gute Seele brachte uns zurück ins Klassenzimmer und erklärte, dass diese Männernamen tatsächlich unsere seien. Er hätte wissen können, dass Billie


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