Bilder der Levante. Michael Jansen

Bilder der Levante - Michael Jansen


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Sohn lag, und las im Koran. Die Männer waren bei der Arbeit, die Kinder in der Schule und die Frauen mit Aufgaben innerhalb der Grundstücksmauern beschäftigt. Nur die Toten ruhten.

      Gestapelte Rahmenhölzer für Sessel vor einer Werkstatt, eine Satellitenschüssel auf dem Dach eines Mausoleums, trocknende Wäsche in einer Mauernische und scharrende Hühner in einem Durchgang zeugten von dem Leben auf dem riesigen Friedhof, gegründet zur Zeit der muslimischen Eroberung Ägyptens 642 n. u. Z. Am Ende der Straße lag in Geschäften voller Fliegen schlaffes Gemüse und lädiertes Obst in Plastikkisten aus. Frische Lebensmittel konnten sich die lebenden Bewohner der Stadt der Toten ebenso wenig leisten wie eine Mietwohnung in den Armenvierteln Großkairos.

      Zwischen den Wahlen vergaßen die Politiker die Probleme und Sorgen der hier hausenden Familien. Sobald jedoch der nächste Wahlkampf anfing, umwarben sie sie. Der Hauptplatz hing voller Plakate und Banner, die Kandidaten für die Parlamentswahlen anpriesen.

      An einem Tisch am Straßenrand saßen zwei gesprächsfreudige Männer. Sie stellten sich als Sayyed Muhammad Abdel ‘Al und dessen Onkel Hag Subhi Abdel ‘Al vor. Als der Kellner Gläschen süßen Tees vor uns stellte, sagte Sayyed, sie beide seien »Wächter des Viertels«. Sie entpuppten sich als »Wächter« im Dienst von Mubaraks Regierungspartei NDP. Während der Onkel an seiner Wasserpfeife sog, sagte Sayyed: »Die Wähler lassen sich von den Kandidaten nicht bestechen. Die Watani [NDP] ist hier stark. Wir sind für Präsident Hosni Mubarak. Wir lieben Hosni Mubarak.« Ich fragte, wie es mit Gamal aussähe, Mubaraks Sohn und mutmaßlichem Nachfolger. »Nein«, antworteten die Männer einstimmig. »Nur Hosni Mubarak!«

      Ihre Unterstützung für Mubarak bedeutete nicht, dass sie der Regierung und deren Partei kritiklos gegenüberstünden. Am stärksten treibe die Leute das Thema Privatisierung um, besonders der Verkauf des staatlichen Krankenhauses an einen Privatkonzern. »Die Leute hier haben kein Geld für medizinische Versorgung«, beschwerte sich Sayyed. »Die Imam-Shafei-Mädchenschule wurde auch verkauft. Die Leute sind verärgert.« Sayyed schlug mir vor, ich solle zu den Wahlkampfkundgebungen am Abend wiederkommen.

      In der Abenddämmerung erwachte die Stadt der Toten zum Leben. Die Cafés waren randvoll mit Männern. Am Straßenrand werkelten Mechaniker an Automotoren und Motorrädern. Leute gingen spazieren, unbekümmert in der Gesellschaft ihrer Ahnen. Sayyed und Hag warteten im Café, in dem wir uns am Morgen getroffen hatten. In ihrem zerbeulten alten Auto machten wir uns auf die Suche nach dem Wahlkampfkonvoi von Nasser Shurbagi, einem unabhängigen Kandidaten. Wir fanden ihn schließlich in den brechend vollen, hell erleuchteten Straßen des pulsierenden Viertels unterhalb der gewaltigen Mauern der Zitadelle. Die Anlage war im 12. Jahrhundert unter Saladin verstärkt worden, jenem Sultan von Ägypten, der in der Schlacht bei Hattin in Palästina am 4. Juli 1187 die Kreuzfahrer geschlagen hatte.

      »Nasser Shurbagi in die Volksversammlung, Nasser Shurbagi!«, verkündete ein Lautsprecher von der Ladefläche eines Lastwagens. Zwischen den Durchsagen schlugen auf dem Laster Trommler auf ihre Instrumente. Shurbagi, lächelnd, die glänzende Halbglatze von dunklem Haar umkränzt, hielt seinen Konvoi an, um einer Gruppe potenzieller Wähler die Hand zu schütteln. Er versprach, Straßen zu reparieren, sicherzustellen, dass die Lebenden die Stadt der Toten nicht verlassen müssten, und das Krankenhaus wieder in den öffentlichen Sektor zurückzuführen. Als er in seinem ramponierten orangefarbenen Auto davonfuhr, blaffte ein Jugendlicher: »Scheißlügen!«

      Die meisten Lebenden in der Stadt der Toten waren nicht ins Wahlregister eingetragen und misstrauten den Polizeirevieren, in denen die Wahlscheine ausgestellt wurden. Sie gingen davon aus, dass Stimmzettel von Toten den Vorsprung der NDP noch weiter vergrößern würden.

      Der Wahltag war bestimmt von einer niedrigen Wahlbeteiligung, gewaltsamen Zusammenstößen und Anschuldigungen von Wahlbetrug und Mehrfachstimmabgaben. In Wahlkreisen, in denen bei der Parlamentswahl 2005 die Opposition Erfolge erzielt hatte, verwehrte man Kandidaten, Beobachtern und Wählern den Zugang zu den Stimmlokalen. Um 508 Parlamentssitze bewarben sich 5200 Kandidaten, 1100 von ihnen von Parteien aufgestellt, davon 780 allein von der NDP. Auch die Mehrheit der 4100 unabhängigen Kandidaten gehörte zur NDP. Die Partei war entschlossen, sich bis zur Präsidentschaftswahl 2011 eine solide Mehrheit zu sichern. Mubarak war ihr einziger Kandidat. Von 40 Millionen ägyptischen Wahlberechtigten sollen bei dieser Parlamentswahl nur 10 Prozent ihre Stimme abgegeben haben. Es waren die letzten Wahlen unter Mubarak.

       Kairo, Ägypten, Juli 1961

      Ein Bediensteter in Kaftan und Kappe öffnete die Tür der großzügigen Villa in der Mohamed-Mazhar, einer Zamaleker Straße voller prächtiger Villen im italienischen Stil, gebaut von Politikern und Kaufleuten, die während des britischen Protektorats ein Vermögen gemacht hatten. Ich wurde durch geräumige Zimmer mit hohen Decken geführt, die Fensterläden waren gegen die Hitze und das gleißende Licht geschlossen, die Möbel mit Tüchern verhängt, als ob der Besitzer lange verreist wäre.

      Sitt Leila Doss empfing mich auf der Veranda mit Blick auf das unruhige braune Wasser des Nils – sitt heißt Frau. Der Nachmittagstee wurde serviert und meine zarte Porzellantasse mit Untertasse einem fragilen Tischchen auf staksigen Beinen anvertraut. Constantine Vlachopoulos, ein griechischer Freund vom UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge (UNRWA), hatte mir Leila Doss’ Telefonnummer gegeben und gesagt, sie könne mir etwas über die sich wandelnde Rolle der Frau in diesem zutiefst konservativen Land sagen. Leila Doss erzählte mir von ihrer Arbeit mit tuberkulosekranken Kindern und beschrieb, wie sich die ägyptische Gesellschaft seit den zwanziger und dreißiger Jahren, als sie aufgewachsen war, verändert hatte.

      »Der Nikab und der Schleier verschwinden allmählich, Frauen nehmen eine aktivere Rolle ein. Aber nur gebildete, privilegierte Frauen.«

      Sie schickte mich in ein Dorf auf dem Land, damit ich mir ansehen könne, was die Regierung für die Fellachen tat, die Ackerbau treibende Landbevölkerung. Sie versorgte sie etwa mit Saatgut und Plänen für größere Ernteerträge.

      Im Zentrum von vier Bewässerungskanälen stand ein weißgekalktes, von Eukalyptusbäumen umgebenes Anwesen. Der Erdfußboden des Innenhofs war von harten Besenborsten blankgefegt. In dem Mehrzweckgebäude war eine Außenstelle des Landwirtschaftsministeriums untergebracht, eine Schule und eine saubere Klinik, in der eine Krankenschwester Babys wog und den Bauernkindern Medikamente verabreichte.

      Zurück nach Gaza flog ich im Cockpit einer weißen Hercules der UNO, gesteuert von zwei fröhlichen Kanadiern.

      Unter uns erstreckte sich majestätisch der Nil, die Arme zum Delta hin aufgefächert, dazwischen Ackerland, von Bewässerungskanälen umgrenzt, wolkenbeschattete Dörfer, die Ränder des kobaltblauen Mittelmeers von hellem Schlamm befleckt, die Mündungen entlang der Küste des Sinai, dann die Wüste, al-Arisch und schließlich Rafah, geteilt zwischen Ägypten und Gaza.

       Kairo, Ägypten, in der Nacht des 28. Januar 2011

      Die Polizei zieht sich aus den Straßen zurück. Die Bevölkerung ist Schlägern und Kriminellen ausgesetzt. Sie wurden von Loyalisten aus dem Gefängnis entlassen, die das Volk für den Treuebruch an Mubarak bestrafen wollen.

      Im Wohnzimmer der irischen Residenz warte ich mit der Botschafterin Isolde Moylan, ihrem amerikanischen Ehemann Tom McNally und ihrem Sohn Conor ungeduldig vor dem Fernseher auf eine Ansprache Mubaraks an die Bevölkerung. Congo drückt sich an unseren Knien vorbei, wackelt mit seinem beträchtlichen Hinterteil, wedelt mit dem Schwanz und wischt dabei fast unsere Weingläser von dem niedrigen Tischchen. Kurz nach Mitternacht tritt Mubarak vor die Kameras, entlässt das Kabinett und ernennt den Direktor des Geheimdienstes, Omar Suleiman, zum Vizepräsidenten. Mubarak, unbeirrt von den Flammen rund um die Zentrale der Regierungspartei, tritt nicht zurück.

      Conor nimmt Congo an die Leine, ignoriert die Ausgangssperre und geht mit mir auf der Straße des 26. Juli zurück zum Marriott. Ich betrete das Hotelgelände durch das hintere Tor und gehe über den Parkplatz. Die automatischen Türen des Hotels gleiten auf wie ein Sesam-Öffne-Dich, ich lasse meine Tasche auf das Fließband der Sicherheitsschleuse plumpsen, nehme sie am anderen Ende wieder auf und nicke den diensthabenden Männern zu. Ich gehe an Roy’s Country Kitchen und dem Kasino vorbei


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