Ur-Praxis. Frank Viola
Methode der Gemeindebildung nenne ich „biblisches Blaupausentum“.
Biblisches Blaupausentum ist auf eine ziemlich dürftige Ekklesiologie und ein Missverständnis vom organischen Wesen des Gemeindelebens zurückzuführen. Deshalb ist es höchst mangelhaft.
Eine authentische Gemeinde kann nicht allein von Menschenhand entstehen – genauso wenig wie menschliche Nachahmungskunst und Einfallsreichtum eine Frau erschaffen können. Eine Frau muss geboren und danach so lange ernährt werden, bis sie sich von selbst weiterentwickelt.
Verzeihen Sie mir einen krassen Vergleich: Das Verschnüren von ein paar Armen und Beinen und einem Kopf mit einem weiblichen Rumpf ergibt noch kein Mädchen. Dem bloßen Auge mag es zwar so vorkommen und einem menschlichen Wesen zum Verwechseln ähnlich ausschauen. Nur fehlt diesem „Wesen“ das zum Menschsein Wesentliche: Leben. Leben entsteht durch Geburt. Dieses Prinzip gilt auch für die Gründung von Gemeinden.
Biblisches Blaupausentum rührt von der Vorstellung, das Neue Testament sei ein Regelwerk vergleichbar einem neuen 3. Buch Mose. Verfechter dieser Methode gehen an die Bibel heran wie Ingenieure an ein Lehrbuch: Analysiere und kapiere die Strukturprinzipien und wende sie dann an.
Gemeindegründung ist aber keine Technik für Ingenieure. Und das Neue Testament ist weder ein Regelwerk noch ein Handbuch, sondern ein Bericht über DNA der Gemeinde in Aktion. T. Austin-Sparks sagt dazu:
Tatsache ist, dass – obwohl sich die Gemeinden im Neuen Testament durch einige gemeinsame Merkmale auszeichnen – das Neue Testament uns kein komplettes Muster an die Hand gibt, nach dem Gemeinden zu gestalten wären. Es gibt im Neuen Testament keine Blaupause für den Bau von Gemeinden. Wer dennoch den Versuch unternimmt, neutestamentliche Gemeinden zu bilden, läuft Gefahr, ein neues System zu schaffen, das am Ende genauso gesetzlich, sektiererisch und tot ist wie alle anderen. Gemeinden sind, wie die Gemeinde als Ganzes auch, Organismen, die aus dem einen Leben geboren werden, das dem Kreuz Christi entspringt und in jeden Gläubigen hineingepflanzt worden ist. Ohne Gläubige, die nicht selbst gekreuzigte Menschen sind, kann es echte Gemeinde nicht geben.3
Der menschlichen Spezies ist Familie in die Erbanlagen gelegt worden. Es wird immer Väter, Mütter und Kinder geben. Das gehört selbstredend zur unverbrüchlichen Schöpfungsordnung.
In gleicher Weise gehört organisches Gemeindeleben – die Erfahrung des Leibes Christi – zum Erbgut der christlichen Spezies. Es steckt dem Universum sozusagen im Blut. Sobald bestimmte Grundvoraussetzungen gegeben sind, bricht das organische Leben des Leibes Christi inmitten einer Gruppe von Christen spontan hervor.
Heute stehen wir vor der Herausforderung, allen Ballast abzuwerfen, damit dieses Leben des Leibes auf natürliche Weise wachsen und gedeihen kann. Dies bringt uns auf Konfrontationskurs mit vielen traditionellen Gemeindegründungsprinzipien.
Was ist organische Gemeinde?
Wie schon an anderer Stelle ausgeführt, verwende ich diesen Begriff schon seit über fünfzehn Jahren. Inzwischen ist er zu einer Knetmasse verkommen. Jeder meint, er könne ihn nach Belieben formen und gestalten, und er wird ganz unterschiedlich gedeutet.
Unter organischer Gemeinde verstehe ich eine Gemeinschaft, die aus geistlichem Leben gezeugt wurde und weder das Produkt menschlicher Institutionen ist, noch durch religiöse Programme zusammengehalten wird. Organisches Gemeindeleben ist für jeden Christen erfahrbar und zeichnet sich durch persönliche, beziehungsorientierte Gemeinschaft, aktive Mitarbeit aller Mitglieder, offene Beteiligung aller an den Zusammenkünften (im Gegensatz zu pastoralen „von vorne“ geleiteten Gottesdiensten) sowie eine nicht-hierarchische Leiterschaft aus. Dabei nimmt Christus die zentrale und unangefochtene Stellung ein und bestimmt als Leiter und Haupt das Geschehen in der Versammlung.
Im Gegensatz dazu gilt: Immer wenn wir von Sünde gezeichnete Sterbliche versuchen, eine Gemeinde wie ein Geschäft aufzuziehen, verleugnen wir die organische Natur des Gemeindelebens. Organische Gemeinde entsteht ganz natürlich dort, wo eine Gruppe von Menschen Jesus Christus wirklich begegnet ist (äußerliche, kirchliche Requisiten sind dazu nicht nötig) und die DNA der Gemeinde ungehindert wirken kann. Der Kontrast ist vergleichbar dem Unterschied zwischen einem Luftzug, der durch einen Ventilator erzeugt wird und einem Wind auf freiem Feld.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass organische Gemeinde kein Theaterstück ist, das nach einem vorgegebenen Drehbuch abläuft. Vielmehr ist sie ein Lebensstil – eine authentische Reise mit dem Herrn Jesus und seinen Jüngern.
Den Unterschied zwischen einer organischen und einer nicht-organischen Gemeinde kann man vergleichen mit dem Unterschied zwischen einem Industriekonzern und Gottes Schöpfung. Das eine wurde von Menschen gegründet, das andere von Gott geschaffen; das eine ist künstlich, das andere lebendig und organisch.
Deshalb sind Gemeindegründer wie Landwirte und Hebammen.
1 Charles Brock, The Principles and Practice of Indigenous Church Planting. Nashville, TN: Broadman, 1981, 12-13.
2 Der griechische Begriff bedeutet wörtlich „bebautes Feld“. Das Neue Testament verwendet zur Bezeichnung Christi und dessen Volk interessanterweise stets Weizen (Joh 12,24; 4,35; Mk 4,29; Lk 10,2).
3 T. Austin-Sparks, Words of Wisdom and Revelation. St. Charles, MO: Three Brothers, 1971, 62.
Kapitel 1: Gemeindebildung nach Gottes Vorbild
Wenn wir den Willen Gottes für seine Gemeinde kennenlernen wollen, müssen wir bis zur „Schöpfungsgeschichte“ der Gemeinde zurückkehren, um festzustellen, was er damals sagte und tat. Hier finden wir den klarsten Ausdruck seines Willens. Die Apostelgeschichte ist die „Genesis“ der Kirchengeschichte, und die Kirche zur Zeit des Apostels Paulus ist die „Genesis“ des Wirkens des Heiligen Geistes. Die Verhältnisse in den heutigen Kirchen sind weit entfernt von den damaligen. Aber die heutigen Verhältnisse können uns niemals Beispiel und zuverlässige Führung sein. Wir müssen zum „Ursprung“ zurückkehren. Als Vorbild darf uns nur dienen, was Gott am Anfang als seinen Willen kundgetan hat.1
Watchman Nee
In den letzten fünfzig Jahren sind fast einhundert Bücher zum Thema „Gemeindegründung“ erschienen. Manche dieser Bücher haben aus diesem Thema eine regelrechte Wissenschaft gemacht. Erstaunlicherweise gehen aber nur wenige dieser Werke darauf ein, wie die ersten Gemeinden gegründet wurden.
Ich halte es für einen schwerwiegenden Fehler, die Berichte in der Apostelgeschichte über die Geburt der christlichen Gemeinden im ersten Jahrhundert außer Acht zu lassen. Watchman Nee schreibt:
Lasst uns nie auf den Gedanken kommen, die ersten Kapitel der Apostelgeschichte seien heute nicht mehr anwendbar. Wie das erste Buch Mose, so offenbart uns auch die Apostelgeschichte den Anfang der Wege Gottes. Sein Vorgehen damals setzt ein für alle Zeit gültiges Muster für sein Wirken.2
Im Neuen Testament finden wir vier Wege, wie im ersten Jahrhundert Gemeinden gegründet wurden. Diese waren weder kulturell bedingte Modeerscheinungen noch raffinierte Einfälle besonders intelligenter Menschen. Ich bin davon überzeugt, dass sie auf Gott selbst zurückgehen.
Das Jerusalemer Modell
Der erste dieser Wege trat in Jerusalem auf. Zwölf Apostel gründeten eine Gemeinde, indem sie Jesus