Ur-Praxis. Frank Viola
bis auf seinen Kern auf die Probe gestellt. War das Evangelium, das er predigte, wirklich Christus – mit Paulus’ Worten: „Gold, Silber und Edelsteine“ –, dann konnte die Gemeinde auch Krisen durchstehen (1 Kor 3,6-15). Bestand das Evangelium des Apostels jedoch aus Verbrennbarem – „Holz, Heu, Stroh“ –, verbrannte es in der Hitze des Feuers.12
Setzt ein Apostel unverwüstliche Stoffe zum Bau einer Gemeinde ein und rüstet er sie fachmännisch zu, dann wird sich alles, was sie benötigt, spontan und von innen heraus entwickeln. Zu gegebener Zeit werden aus ihr Propheten, Hirten, Evangelisten, Aufseher usw. auf ganz natürliche und organische Weise hervorgehen – genauso natürlich und organisch, wie sich die Gliedmaßen und Organe am und im Körper eines Kindes entwickeln. T. Austin-Sparks spricht von dieser Erfahrung:
Nachdem wir sämtliche Systeme der verfassten Christenheit aufgegeben hatten, verpflichteten wir uns dem organischen Prinzip. Wir stellten keine „Gemeindeordnung“ auf und setzten auch keine Ämter und Geistlichen ein. Wir überließen es ganz dem Herrn, uns durch die „Gaben“ und die Salbung zu zeigen, wen er für die Aufsicht und für die Dienste auserwählt hatte. Ein Ein-Mann-System ist dabei nie herausgekommen. Die „Aufseher“ sind nie gewählt oder bestimmt worden, schon gar nicht auf den ausdrücklichen Wunsch eines Leiters. Es gab weder Ausschüsse noch eine öffentliche Körperschaft – in keinem Teil unserer Arbeit. Nahezu alles ist aus dem Gebet hervorgegangen.13
Solche organische Entwicklung ist die Grundlage aller Lebensformen. Der Same einer Rose enthält schon im Keim Stängel, Blätter und Blütenknospen. Wird der Same gesät und angemessen gepflegt, bilden sich diese Merkmale zu gegebener Zeit auf ganz natürliche Weise aus. So bilden sich auch die erforderlichen Merkmale und Dienste der Gemeinde Jesu Christi ganz natürlich aus, wenn diese einmal auf richtige Weise gepflanzt und gepflegt wird, denn das ist Teil ihrer DNA.
Biblisch gesehen ist eine Gemeinde ein geistlicher Organismus, keine menschliche Organisation.14 Sie ist sozusagen ein biologisches Gewächs. Als solches entwickelt sie sich auf ganz natürliche Weise weiter, wenn sie der, der sie gegründet hat, sich selbst überlässt. Selbstverständlich sollte der Gärtner von Zeit zu Zeit nach ihr schauen, sie „bewässern“, „düngen“ und „von Unkraut befreien“, das sie zu ersticken droht. Deshalb gehört es zu den vorrangigen Aufgaben eines Apostels, Fremdkörper von der Gemeinde fernzuhalten, sodass sie auf natürliche und organische Weise heranwachsen kann. (Doch dazu später mehr.)
Diesem Verständnis von Gemeindeentwicklung steht das vorherrschende Modell gegenüber, wonach man versucht, verschiedenen Dienste und Gaben (etwa Älteste, Propheten und Lehrer) einzusetzen und dabei scheinbar dem „neutestamentlichem Muster“ folgt. Solch eine technische Methode der Gemeindebildung wird lediglich ein erbärmliches, papierenes Bild von Gemeinde erzeugen. Es ist, als wollte man eine reife Rose schaffen, indem man Stängel, Blätter und Blütenkelch mit einem Nylonfaden zusammenbindet. Damit würde man die organische und inhärente Natur der Gemeinde leugnen und sich über den biblischen Tatbestand, dass die Ekklesia in Wirklichkeit ein lebendiger Organismus ist, hinwegsetzen.
Das Antiochia-Modell geht also letztlich davon aus, dass Gemeinde ein organisches Wesen ist, dass sie durch die Verkündigung Jesu Christi ins Leben gerufen wird und dass sie organisch weiterwächst, wenn der Gründungsapostel sie sich selbst überlassen hat. Freilich hat es eine Gemeinde nötig, dass der Apostel von Zeit zu Zeit zurückkehrt, um nach ihrem Wachstum zu schauen und fremde Elemente, die ihr Leben zu ersticken und zu zerstören drohen, zu entfernen (Apg 13–20). Dazu stellt Howard Snyder fest: „Die Gemeinde wächst in dem Maße, wie man alles ausräumt, was Wachstum beeinträchtigt. Wird sie nicht durch unbiblische Barrieren behindert, entwickelt sie sich auf ganz natürliche Weise.“
Das Antiochia-Modell („Ausbringen neuen Samens“) ist die klassische Weise, nach der im ersten Jahrhundert Gemeinden gegründet wurden. Dazu Roland Allen treffend:
In nur wenigen Jahren baute er [Paulus] die Gemeinde auf einer so festen Grundlage auf, dass sie im Glauben und im praktischen Dienst leben und wachsen konnte und dass sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern und allen Gefahren und Hindernissen von innen und außen begegnen konnte.15
Während beim Jerusalemer Modell die Gemeinde den apostolischen Mitarbeiter verlässt, verhält es sich beim Antiochia-Modell umgekehrt: Der apostolische Mitarbeiter verlässt die Gemeinde. Im Ergebnis ist es dasselbe: Sobald ein apostolischer Mitarbeiter das Fundament einer Gemeinde gelegt hat, bleibt das Volk Gottes sich selbst überlassen und verzichtet auf Hilfe von außen. Zum Vergleich beider Modelle schreibt Watchman Nee:
Wir sehen hier, dass es zwei verschiedene Arten der Verkündigung des Evangeliums und der Gemeindegründung gibt, zwei unterschiedliche Methoden, veranschaulicht an den Beispielen Jerusalem und Antiochia. Von Antiochia gehen Apostel aus, von Jerusalem gehen Heilige in die Zerstreuung aus. Im einen Fall ziehen die Apostel in Teams aus, wie z. B. Paulus und Barnabas, Paulus und Silas oder Paulus und Timotheus, um das Evangelium von Ort zu Ort zu verkündigen, Gemeinden zu gründen und danach zurückzukehren. Im anderen Fall wandern die Gläubigen in Städte und Länder aus, verkündigen den Herrn Jesus, wohin sie kommen, und überall dort, wo sie sich ansiedeln, entstehen Gemeinden.16
Das Ephesus-Modell
Eine dritte Art der Gemeindegründung begann in der Stadt Ephesus. Wir nennen sie daher das Ephesus-Modell. In seinen späteren Jahren reiste Paulus nach Ephesus. In den sieben Jahren zuvor hatte er etwa acht Gemeinden gegründet.
Was Paulus in Ephesus erreichte, war ebenso einzigartig wie genial: Er machte Ephesus zum Trainingszentrum, von dem aus sich das Evangelium verbreitete und wo junge Männer als Gemeindegründer geschult wurden. Paulus mietete einen Versammlungsort – die „Halle des Tyrannus“ –, wo er täglich von 11:00 Uhr vormittags bis 16:00 Uhr nachmittags predigte und lehrte.17 Diese Ausbildung dauerte zwei ganze Jahre. Paulus nennt folgende Männer, die dort zugerüstet wurden:
• Titus aus Antiochia
• Timotheus aus Lystra
• Gaius aus Derbe
• Aristarch aus Thessalonich
• Secundus aus Thessalonich
• Sopater aus Beröa
• Tychikus aus Ephesus
• Trophimus aus Ephesus
Auch Epaphras aus Kolossä dürfte dazu gerechnet werden. Offenbar hat Paulus ihn während seiner Zeit in Ephesus zum Herrn geführt.18 Etwas später gründete Epaphras drei Gemeinden im Lycos-Tal in Kleinasien: je eine in Kolossä, in Laodicea und in Hierapolis (Kol 1,7; 4,12-13). Der Neutestamentler Donald Guthrie merkt an:
Die Gemeinden Kolossä, Laodicea und Hierapolis im Lycos-Tal sind vermutlich in dieser Zeit entstanden, obwohl Paulus sie nie persönlich besucht hat. Männer wie Epaphras und Philemon – wohl Bekannte des Paulus – dürften in der Halle des Tyrannus unter seinen Einfluss gekommen sein.19
So schreibt auch F. F. Bruce:
Dann kam Paulus in diese große Stadt … wo er fast drei Jahre blieb und die Evangelisation von Ephesus und der gesamten Provinz leitete. Offenbar wurde er dabei von etlichen Mitarbeitern unterstützt, etwa von Epaphras, der die phrygischen Städte des Lycos-Tals evangelisierte (Kolossä, Laodicea und Hierapolis). Ihr Einsatz war so erfolgreich, dass, wie Lukas berichtet, „…alle, die in Asia wohnten, das Wort des Herrn