Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


Скачать книгу
und Drang, dass Weinen („das ewige Geleyer der Weinerlichkeit“, S. 151) und empfindsamEmpfindsamkeite Betroffenheit allein nicht genügen, sondern die WirkungWirkung einer Tragödie auf ihrer existenziellen Erschütterung beruht. Goethes Götz von BerlichingenGötz von Berlichingen (1773) gilt hier den jungen Autoren des Sturm und Drang als Referenztext und fand viele Nachahmer. Allein zwischen 1775, beginnend mit Friedrich Maximilian KlingerKlinger, Friedrich Maximilians (1752–1831) OttoOtto (1775), und 1811 erschienen 38 Ritterdramen, die meisten davon schlechte Kopien und weitab vom ursprünglichen Impuls GoetheGoethe, Johann Wolfgangs. Wenn Hahn schreibt: „Ich will Menschen sehen – handeln sehen, wahre Menschen – keine künstliche Narren – keine gemahlte Puppen –“ (S. 151), so meint man, er zitiere wiederum LenzLenz, Jakob Michael Reinhold. Der hatte in seinem zwischen 1773 und 1775 geschriebenen Essay Über Götz von BerlichingenÜber Götz von Berlichingen gefordert: „Das lernen wir hieraus, daß handeln, handeln die Seele der Welt sei, […] nicht empfindeln […]“37. Allerdings wurde dieser Text erst 1901 veröffentlicht. Das unterstreicht aber, wie sehr HahnHahn, Ludwig Philipp im Denken des Sturm und DrangSturm und Drang verwurzelt ist. Hahn aber kündigt an, dass er kein weiteres Drama mehr schreiben wolle, die Kritik – obwohl es auch zustimmende, ermunternde, gar euphorische Kritik gab – hatte ihn zu sehr getroffen.

      Die Sprache in Hahns Drama ist dann derb, wenn sie zur Charakterisierung des Soziolekts unterer Gesellschaftsschichten dienen soll. So nennt Velten, ein Knecht des Adelbert von Willstein, Robert von Hohenecken beispielsweise einen „Venuskeil“ (S. 173), was schlicht das männliche Geschlechtsteil bedeutet. Eine ähnliche sprachliche Anspielung macht auch Schlick, der ebenfalls Berta begehrt. Im Gespräch mit Adelbert sagt er über sie: „ich wollt dir den Pflug gekeilt haben“ (S. 205), auch er will Berta umbringen. Keilen kann pfälzisch plagen oder quälen bedeuten, ist aber auch überregional belegt. Eindeutige pfälzische Idiome verwendet Hahn nur an drei Textstellen. Das Wort „Marzebille“ (S. 187) ist mundartlich als Substantiv nicht belegt, es kann aber durchaus eine dialektale Zusammensetzung von pfälzisch Warze (dann müsste ein Druckfehler angenommen werden) als Metapher für Frau und dem pfälzischen Bille als einem doppelseitigen Werkzeug zum Bearbeiten von Mühlsteinen verstanden werden, immerhin hat sich Hahn bekanntlich mit der Mühlentechnik später intensiv befasst. Darüber hinaus führt das Goethe-WörterbuchGoethe-Wörterbuch den Namen Marzebille auf und erklärt ihn als „Zusammenziehung des Namens Marie Sybilla“, es sei ein „usueller appellativischer Personenname für Klatschbase“,38 der im Verzeichnis der Dramatis Personae der Satire Hanswursts HochzeitHanswursts Hochzeit Erwähnung findet, doch war dieser von GoetheGoethe, Johann Wolfgang 1775 geschriebene Text zu Hahns Lebzeiten noch nicht veröffentlicht, erst 1836 erfolgte die Publikation.39 Auch die böhmische Sage MarzebillaMarzebilla kennt den gleichlautenden Namen, wenngleich ihre Verwendung bei Hahn eher unwahrscheinlich ist:

      „In der Gegend von Preßnitz befindet sich ein Berg, Namens ‚Bartelwulfenberg‘. Hier soll vor Jahren ein Schloss gestanden haben. Der Besitzer desselben hatte eine Tochter, die in ein Nonnenkloster ging. Hier hatte sie eine Liebschaft mit einem Ritter und kam zu Falle. Sie entfloh und starb im Elend. Seit dieser Zeit lässt sie sich nun im Kaiserwalde bei Preßnitz öfter sehen und ist allgemein bekannt unter dem Namen Marzebilla. […]“40.

      Das Wort „Wäcklein“ (S. 190) ist vermutlich ein Druckfehler und muss Wecklein heißen, was die Diminutivform für Weck ist und Brötchen heißt. Und schließlich „Knittel“ (S. 201) bedeutet im Pfälzischen der Traubenklotz.

      Robert von HoheneckenRobert von Hohenecken spielt im 15. Jahrhundert. Doch ist die Angabe der gespielten Zeit nebensächlich, da der Autor alle historischen Details willentlich ignoriert. So zum Beispiel, dass Berta von kleinen Turnieren berichtet, die um ihretwillen veranstaltet worden seien (vgl. S. 171). Enne wird als eine junge Mennonitin bezeichnet, die es freilich im 15. Jahrhundert noch gar nicht gab, der Gründer dieser Freikirche Menno Simons wurde erst 1496 geboren; in HahnHahn, Ludwig Philipps Gegenwart spielten die Mennoniten eine wichtige Rolle in den Glaubensdiskussionen zwischen Zweibrücken und Trippstadt. Bemerkenswert ist die Frage, die Enne stellt und die durchaus doppeldeutig ist: „Hat der Hahn schon gekräht?“ (S. 176) Oder Kartoffeln werden als einzige Nahrungsgrundlage der Bauern erwähnt, doch wurde die Pflanze erst Mitte des 16. Jahrhunderts in Deutschland eingeführt. Für ein Sturm und DrangSturm und Drang Drama bleibt es unerheblich, ob die Daten und Fakten stimmig sind, sie dienen nur als Staffage für den bedeutungsvollen Gegenwartsbezug. Die Orte sind alle historisch belegt, größtenteils existieren die Dörfer und Burgruinen heute noch. Hohenecken ist inzwischen ein Stadtteil von Kaiserslautern. Als weitere regionale Orts- und Gewandnamen werden genannt: Annweiler, Waschlauter und Kaltenbach (S. 154), Lamprecht (S. 155), Fischbach und Nabenberg (S. 155), Johanniskreuz und Leimen (S. 157), St. Martin, (Kaisers-)Lautern und Frankenweid (S. 158), Lauberhof (S. 161), Aspach (S. 164, = Aschbacherhof, Kirchenruine St. Blasius in Asbach, gehörte historisch zum Amt Wilenstein), Hirschsprung (S. 169), Hornungsdelle und Stölzenberg (= Stolzenberg, heute ein Naturschutzgebiet, S. 177), Schopp und Schmalenberg (S. 180), Einsiedel (S. 181), Enkenbach (S. 200), Bann und Mispelstein (S. 201). Diese Regionalisierung zieht sich durch das gesamte Stück, es macht den Robert von Hohenecken freilich nicht zu einer Heimattragödie, sondern Hahn will mit dieser Anbindung an regionale und authentische Namen unterstreichen, dass sein Thema aus der unmittelbaren Lebenswirklichkeit hervorgegangen ist. Es unterstreicht den Anspruch auf Authentizität. Die Koloquinte (vgl. S. 202), die Robert von Hohenecken in der vierten Szene des fünften Akts erwähnt, womit seine Speisen „gewürzt“ (S. 202) seien, ist ein Bitterkürbis, auch Teufelsapfel genannt, und ist giftig. Seit dem 16. Jahrhundert ist diese Pflanze im heutigen Südwesten Deutschlands bekannt. Der u.a. durch seinen Hinweis auf den historischen FaustFaust, Johannes (Georg) bekannt gewordene Wormser Stadt- und Leibarzt Philipp BegardiBegardi, Philipp beschreibt sie in seinem Index sanitatis. Eyn Schöns und vast nützlichs Büchlin / genāt Zeyger der gesundheyt / […]Index sanitatis von 1539.

      Die dritte Szene im ersten Akt zeigt Ritter Adelbert von Willstein, wie er über Reichtum und Liebe räsoniert. Lieber wolle er auf alles Geld der Welt und sogar auf eine Kaiserkrone verzichten, er wolle lieber in einer Hütte im Wald als in einem Schloss wohnen, wenn er darum seine Liebe Berta von Flörsheim erhielte. Damit ist bereits eine Konfliktlinie vorgezeichnet, es geht im Stück nicht um ritterliche Tugenden oder politische Konstellationen im großen Maßstab eines Götz von BerlichingenGötz von Berlichingen, sondern es geht in erster Linie um eine Liebestragödie. Denn Berta wird auch vom benachbarten Ritter Robert von Hohenecken begehrt. In diese Liebeskonstellation ist also zugleich der Konflikt zwischen den beiden männlichen Protagonisten und Repräsentanten des Adels eingeschrieben. Liebe wird zu einem Besitzverhältnis. Berta wird von beiden Rittern als Objekt begriffen, über dessen Besitz gestritten werden kann. Die Ritter tragen damit einen Konflikt ihrer GeschlechterrollenGeschlechterrollen aus, der keineswegs nur die Frühe Neuzeit kennzeichnet, sondern genau ein zentrales sozial- und mentalitätsgeschichtliches, eben ein kulturgeschichtliches Thema des 18. Jahrhunderts darstellt. Im Kern geht es um die Frage, ob die Grundlage einer partnerschaftlichen Beziehung eine Liebesheirat oder eine Konvenienzehe darstellt. Die Autoren des Sturm und DrangSturm und Drang engagieren sich literarisch für das Modell einer uneingeschränkten Liebesheirat. In der fünften Szene begegnen sich die beiden Ritter erstmals. Mitten im Gespräch zwischen den Rittern trifft die Nachricht ein, die Hohenecker hätten Vieh gestohlen und einen Gefolgsmann von Adelbert erschossen. Nun wird das Gespräch feindselig, die Ritter beginnen, sich gegenseitig zu belauern. Eine alte Fehde zwischen den beiden droht wieder aufzubrechen. Für Robert ist dieser räuberische Übergriff Ausdruck seines Zorns darüber, dass Adelbert und Berta als Paar zusammenkommen wollen. Selbst Bertas Tod will er in Kauf nehmen, um seinen Besitzanspruch auf sie zu unterstreichen. Sie wird zur Handelsware, da Robert seinem Nachbarn anbietet, zukünftig Frieden und Freundschaft mit ihm zu pflegen, wenn er ihm Berta überlässt. Dass eine kriegerische Auseinandersetzung bar jeglicher Vernunft ist, erkennt Adelbert, gleichwohl befürwortet er einen militärischen Gegenschlag gegen Robert. In manchen Fehden sei „der Hirnlose am glücklichsten“ (S. 162). Der gesamte erste Akt dient der expositorischen Darlegung der Voraussetzungen für den Showdown zwischen Adelbert und Robert, der sich sehr schnell abzeichnet.

      Im zweiten Akt erfährt man die Binnenperspektive von Berta. Sie hält sich in einem Eichenwäldchen


Скачать книгу