Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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Vers aus Psalm 73, 25: „Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde“, wenn sie bekennt: „Hätt ich meinen Adelbert, fragt’ ich nichts nach Himmel und Erden, fragt’ ich nichts nach Purpur und Gold“ (S. 164). Also auch Berta würde auf ihren durch ihre adlige Geburt vermachten Besitz verzichten wollen, wenn sie eine Liebesbeziehung mit Adelbert eingehen dürfte. In der sechsten Szene des zweiten Akts lässt Robert erstmals seine kraftgenialische Interjektion Ha! hören und über Berta klagt er: „Was hab ich dir denn Leids gethan, Berta! daß du mein nicht achtest, oder was findest du an mir, das dir misfällt? Bin ich denn so häßlich und krippelhaft, daß du dich meiner schämen müstest? […] Berta würde – sie müste mich lieben“ (S. 169). Aus diesem Konjunktiv wird sehr schnell ein imperativischer Indikativ: Berta muss Robert lieben! Dieser erträgt aber die Zurückweisung durch Berta nicht. In der siebten Szene begegnen sich die beiden, und Robert bezeichnet sich als „rasend […] aus Liebe zu dir“ (S. 170), womit er bereits die Verantwortung für sein bevorstehendes Handeln zurückweist. Er nimmt Berta gefangen und verschleppt sie auf sein Schloss. Robert will Bertas Liebe erzwingen. Nun wird also der Liebesimperativ von einem aristokratischen Mann formuliert, anders als in HahnHahn, Ludwig Philipps Graf Karl von AdelsbergGraf Karl von Adelsberg. Robert stellt die begehrte Frau in einen Schuldzusammenhang, er begründet sein Handeln mit deren Zurückweisung. Für Berta hingegen ist Robert ein „Fräuleinräuber“ (S. 172), der ihr Gewalt androht in einer Formulierung, die fast schon an ein späteres GoetheGoethe, Johann Wolfgang-Zitat aus dessen ErlkönigErlkönig (1782) denken lässt: „Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt“. Bei Hahn heißt es: „und gehst du nicht freywillig mit, so führ ich dich mit Gewalt davon“ (S. 172). Berta weist diese Drohung entschieden zurück, ist sich aber bewusst, dass ihre weibliche Geschlechterrolle ihr keinerlei Handlungsalternative zulässt. Dennoch verbalisiert sie diesen historischen Sachverhalt, indem sie den individuellen Einzelfall für das männliche Geschlecht generalisiert: „so leicht es euch Männern auch ist, über den Leib eines Weibes zu siegen, so – und zehentausendmal schwerer, ist der Sieg über ihre Neigung. Ich liebe dich nicht“ (S. 172).

      Das Thema der Sozialkritik, das von Adelbert und Berta durch ihren möglichen Verzicht auf Reichtum und Privilegien bereits angedeutet worden war, findet im dritten Akt seine Fortsetzung. Adelbert reitet mit seiner Gefolgschaft aus und trifft auf Bauern, die zur Burg Hohenecken gehören und mutmaßen, dass Adelbert sie ausrauben wolle und deshalb schnell ihr Hab und Gut verstecken. Adelbert reagiert auf diesen Vorgang mit den Worten: „Ich suche mein Leben [gemeint ist Berta, M.L.-J.] hier, und keine armselige Beute, und find ich das nicht, was kann dem todten Leichnam die Habseligkeit der ganzen Welt nüzen? Er modert, und läg er in Gold“ (S. 181). Die umgekehrte Perspektive, also den Blick von unten, entfaltet der Trippstadter Bauer Fuchs, der in einer langen Rede auf die soziale Ungleichheit hinweist und die ‚armen Bäuerlein‘ gegen die ‚reichen Herren‘ in Stellung bringt (vgl. S. 184). Würde in der Bibel stehen, dass die Bauern immer nur Kartoffeln essen müssten und seien Wild und Fisch nur für die Reichen? Der reiche Bauer Schlick bezeichnet die Liebesfantasien von Berta im vierten Akt als „romantisch“ (S. 187); das ist ein früher Wortbeleg für das Modell einer romantischen Lieberomantische Liebe, lange vor Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrichs frühromantischem Roman LucindeLucinde (1799). Über Berta urteilt er geringschätzig, womit er Robert von Hohenecken seine Liebe zu Berta ausreden möchte, sie habe „sonsten nichts hinten und nichts vornen“ (S. 189). Aber mit diesem „nonnennmässigen“ (S. 189) des Aussehens und der Haltung begründet Robert seinen Liebeswahnsinn („rasend“, S. 189).

      Die vierte Szene des vierten Akts zeigt Robert von Hohenecken an den Grenzen des Wahnsinns. Er fantasiert eine Liebe, die auf Gewalt und Verleugnung gründet. Hahn zitiert wie schon im Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa ein religiöses Bild, das an Petrus erinnern soll, als er JesusJesus dreimal verleugnete, wenn er in einem Monolog in der vierten Szene des vierten Akts zwischen seiner Sturm und DrangSturm und Drang-Interjektion Ha! und dem Hinweis, dass er gleich „bitterlich weinen“ (S. 192) werde, hin und her schwankt. Das Kraftgenialische in seiner Person demaskiert sich auf diese Weise selbst und es wird deutlich, dass Kraft und das goethesche Selbsthelfertum bei ihm Rollen sind, derer er sich bedient, um seinen Liebesimperativ durchzusetzen. Es fehlt ihm jegliche politische oder gesellschaftlich relevante Qualität. Robert überschätzt sich selbst vollkommen. Der Selbsthelfer mutiert in seiner Person zu einer Autoaggression, die ihn am Ende sich selbst töten lässt. Er fantasiert sich Berta als arm und mittellos, gar nackt solle sie zu ihm kommen und fragt sich: „Was ist denn nun an meinem Anspruch Gottloses oder Unbilliges? Bin ich ein Barbar oder ein Räuber?“ (S. 192) Der Hinweis auf sein „zärtliches Herz“ (S. 192) versucht, das mit einem empfindsamEmpfindsamkeiten Codewort einzufangen, was sich längst nicht mehr kontrollieren lässt: seinen irrationalen Besitzanspruch auf Berta. Dies wird an späterer Stelle noch deutlicher, als er Berta erklärt, dass weinen „eine Schande für einen Mann“ (S. 197) sei. Robert entscheidet sich für eine Mischung aus „Verzweiflung und Wuth“ (S. 193), mit der er diesen Anspruch durchsetzen will. Es kommt schließlich zum Zweikampf zwischen den beiden Rittern. Was für den einen sein „Recht“, ist für den anderen sein „Besiz“ (S. 194). Berta bestätigt wiederholt ihre Zuneigung zu Adelbert, für sie ist diese ein Werk Gottes. Eine solche „zärtliche Liebe zu zerreissen, die Gott gestiftet hat, ist Teufelsgeschäft“ (S. 195). Berta argumentiert also theologisch, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit Adelbert verheiratet ist, während die beiden Männer ihren GeschlechterrolleGeschlechterrollenn treu bleiben und die Frau verdinglichen und zum Liebesbesitz erklären. Berta weist damit auch Adelberts Wunsch, sie solle sich retten, indem sie sich unterwerfe, entschieden zurück. HahnHahn, Ludwig Philipp entwickelt diese dramatische Situation tragisch noch weiter, als Adelbert sich dafür entscheidet, lieber sterben als auf Berta verzichten zu wollen. Die Regieanweisung lässt ihn „traurig“ (S. 196) abgehen. Da Berta Robert schwach gesehen hat, nimmt er dies zur Begründung sie zu ermorden, verwirft diese Tötungsfantasie aber schnell wieder, er wendet diese Aggression nun gegen sich selbst, er will sich töten. Zuvor aber fordert er einen einzigen Kuss von ihr.

      Am Ende der sechsten Szene tritt Adelbert mit seinem Schwert in der Hand auf und will sich mit Robert in einem ritterlichen Zweikampf messen. Der weicht dem aus, er sucht die schlafende und gefesselte Berta auf und „küst Sie“ (S. 207). Er holt damit nach, was er von ihr gefordert hatte. Die Zurückweisung durch Berta ist für ihn eine tödliche Kränkung, die er nicht länger ertragen kann. Er setzt sein Schwert auf dem Boden auf und lässt sich hineinfallen, aber nicht ohne dabei Berta, die aufwacht, theatralisch zum Herschauen aufzufordern. Sein Tod ist für ihn ein „Versöhnopfer“ (S. 207), dessen überhöhte Bedeutung er mit einer Träne Bertas hervorkehrt. Danach folgt die Bitte um MitleidMitleid, um einen mitleidsvollen Blick und um ein Lächeln. Der Forderungskatalog Roberts will kein Ende nehmen, denn als Adelbert dazukommt, verlangt er von diesem Verzeihung für seinen Umgang mit Berta. Am Ende verzeiht ihm Adelbert und Robert stirbt. Am nächsten Tag wollen Berta und Adelbert bereits heiraten; diese Heirat versteht Berta pikanterweise als einen Verzicht auf ihre wiedergewonnene „Freyheit“ (S. 210). Diese dramatische Zuspitzung lebt von ihrer Übertreibung. HahnHahn, Ludwig Philipp geht es nicht um eine realistische Beschreibung psychischer und sozialer Konflikte, sondern um deren Überzeichnung durch das Pathos von Sprache und Handlung. Darin eine parodistische Absicht erkennen zu wollen und Robert von HoheneckenRobert von Hoheneckenals Parodie eines Ritterdramas zu verstehen, ist sicherlich nicht falsch. Auch in diesem Punkt ist Hahn der Sturm-und-DrangSturm und Drang-Dramatik verpflichtet.

      Joseph Martin Kraus Tolon (1776)

      Der aus dem Odenwald stammende Dichter und Komponist Joseph Martin KrausKraus, Joseph Martin (1756–1792) veröffentlichte im Jahr 1776 anonym ein Drama mit dem Titel TolonTolon. Ein Trauerspiel in drei Aufzügen (Frankfurt und Leipzig bey Johann Joachim Keßler). In dem Sammelband Deutsches TheaterDeutsches Theater mit verschiedenen Schauspielen des 18. Jahrhunderts ist in Band 62 als Nr. 3 ein text- und seitenidentischer Nachdruck des Tolon erschienen. Inzwischen wurde auch eine schwedische Übersetzung des Tolon veröffentlicht in der schwedischen Zeitschrift Hesperos, Band 12: Tolon: ett sorgespel i tre akter ([Gusselby:] Ordbrand 2016, 99 Seiten). Weitere Nachdrucke oder Übersetzungen, gar ein Aufführungsdatum sind nicht bekannt. Ob der Tolon von


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