Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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Bürger exponieren Ugolino und Erzbischof Ruggieri Ubaldini als handlungstragende Antipoden des Stücks. Ein Machtkampf zwischen ihnen scheint unausweichlich. Ugolinos Vetter Ruzzellai, der zu seinen Freunden zählt, will von ihm erfahren, welche „wichtige Sache“ (S. 17) Ugolino plane. Zugleich macht dieser Dialog deutlich, dass Ugolino durchaus machtbewusst und selbstsüchtig ist und auch intrigiert. Er will Ruzzellai nicht zum Mitwisser haben und fragt in einem Bild, „was den Tieger so wild mache? – Nicht wahr, die Freyheit? Denn siehst du nicht, wie er so zahm ist, wenn er im eisernen Kefig sitzt?“ (S. 17) Wen meine Ugolino, fragt Ruzzellai, der erklärt und damit den politischen Ausgangspunkt des Stücks ausspricht: „Unser Staat ist ein gefesseltes Thier, ohne Freyheit, in seine Sclaverey so verliebt, daß es beständig an der Kette leckt, als wenn sie in Honig getaucht wäre“ (S. 17).

      In der vierten Szene liest man Ugolinos ersten Monolog. Er lässt die Zuschauer und Leser wissen, was er vorhat und spricht sich selbst Mut zu. Die Worte, die er dabei wählt, zeigen, dass er nicht als Ehrenmann und nur aus lauteren politischen Absichten handeln will. In seiner Selbstwahrnehmung ist ihm seine Heimatstadt Pisa Dank schuldig, denn nur er allein habe sie „vom Joch des Tyrannen losgekauft, mit meinem Blut losgekauft“ (S. 19). Daraus leitet er seinen Führungsanspruch ab, er will das neue Stadt- und Staatsoberhaupt werden. HahnHahn, Ludwig Philipp hält sich bei der Charakterisierung von Ugolinos politischen Ambitionen durchaus an die historischen Fakten. Die innerfamiliäre Gegenspielerin zu Ugolino ist seine Frau Gianetta. Sie erkennt ihre zunehmende Veränderung und reflektiert diese kritisch und sie beklagt sich darüber, dass sie Ugolino nicht an seinen geheimen Plänen teilhaben lässt. Sie bezeichnet sich selbst als „ein gottloses, ehrsüchtiges“ (S. 22) Weib, womit sie aber vor allem das entscheidende Handlungsmotiv Ugolinos unterstreicht. Sie ahnt die nun einsetzende katastrophale, tragische Entwicklung für ihre Familie und für die Stadt.

      Der zweite Akt beginnt wieder mit einem Monolog Ugolinos, der den Standesunterschied zwischen sich als einem Vertreter des Stadtadels und den Senatoren, die handwerklichen Berufen nachgehen, betont. Seiner Frau eröffnet er, dass er den Erzbischof „durch Gewalt“ zu einem „Huldigungseyd“ (S. 25) zwingen wolle. Er befürchtet, dass Ruggieri seinen Sturz vorbereite. Selbst seinen engsten Freunden stößt Ugolino durch sein sprunghaftes, beleidigendes und aggressives Gebaren vor den Kopf. Der Vertraute Ruzzellai verrät ihm, dass der Senat über Ugolinos Pläne im Bilde sei, doch Ugolino lässt Ruzzellai festnehmen. Immer mehr entwickelt sich Ugolino zur Karikatur eines Selbsthelfers, wie ihn GoetheGoethe, Johann Wolfgang im zehnten Buch von Dichtung und WahrheitDichtung und Wahrheit als Handlungstypus einer Sturm-und-DrangSturm und Drang-Figur bezeichnet hat.27 Die Figur des Götz von Berlichingen dient als Beispiel dafür. Ugolino tritt zwar – durchaus auch sprachlich durch die häufigen Interjektionen Ha! – als Kraftkerl auf, doch im Grunde ist er der Anti-Held des Sturm und Drang. Ugolino nennt sein Gewissen und damit die Instanz, die sein eigenes Handeln kritisch hinterfragen könnte, den „Argwohnsteufel“ (S. 32), er dämonisiert damit die Gewissensfreiheit und lehnt jegliche Kontrolle politischen Handelns durch ein individuelles, religiös und ethisch fundiertes Gewissen ab. Die Spiegelgeschichte, die Hahn wie in einer Erzählung einfügt, nimmt den weiteren tragischen Verlauf vorweg: Der Sohn Gaddo hat einen kleinen Vogel gefunden, und sein älterer Bruder Anselmo will diesen fliegen sehen. Im freien Herumfliegen in einem geschlossenen Zimmer, von dem Anselmo und Gaddo sprechen, liegt die Analogie: Ugolino meint frei zu sein, in Wirklichkeit aber ist er Gefangener seiner politischen Machtgier und wird bald zum realen Gefangenen des Erzbischofs. In der zweiten Szene des zweiten Akts bringt der Sohn Francesco die Nachricht von der Gefangennahme des Vaters. Nun lässt Anselmo den Vogel fliegen und spricht ihm seine „Freyheit“ (S. 35) zu – aus dem Textverlauf geht aber nicht eindeutig hervor, ob sich dies schon im Freien oder noch im Zimmer abspielt. Kurz darauf werden auch die drei Söhne Ugolinos gefangen genommen.

      Ugolino bedient sich wieder der Tiger-Metapher, nun ist „der Tieger ein feuerspeyendes giftiges Ungeheuer worden! – Kurz! alles hat sein natürliches Wesen verlassen und ist in ein bösartiges Thier ausgeartet“ (S. 38), später wird übrigens sein Sohn Anselmo als „der junge Tieger“ (S. 64) bezeichnet. Ugolino sieht seine Mitmenschen nur noch als Gefahr, von denen eine elementare Bedrohung ausgeht, gegen die er sich zur Wehr setzen muss. Er delegiert damit die Verantwortung für sein Handeln an Andere und an die Zeitläufte und inszeniert sich so selbst als derjenige, der reagiert, rettet und verteidigt. Allerdings unterliegt diese Denkfigur dem Trugschluss, dass er selbst von dieser Verwandlung ins Animalisch-Böse ausgenommen sei, wenn tatsächlich „alles“ im Sinne von alle gemeint ist. Die Sprache Ugolinos bedient sich mehr und mehr elliptischer, parataktischer Ausdrucksformen, Gedankenstriche über Gedankenstriche häufen sich (vgl. beispielsweise III/4). Parallel zu Ugolinos politischem Scheitern gerät auch die Ehe zwischen ihm und Gianetta in eine Schieflage. Er pathologisiert die Anteilnahme seiner Frau, er nennt ihr Seufzen eine „Krankheit“, ein „melancholisches Weib“ (S. 41) sei ihm unerträglich. In wiederholten Imperativen, die seine patriarchale Haltung auch im binnenfamiliären Bereich betont, verwahrt er sich gegen Gianettas Vorwürfe und Anteilnahme. Da sie krank sei, solle sie zu Bette gehen, und Ugolino begleitet diese Empfehlung nicht fürsorglich, sondern imperativisch: „Merk dir das!“ (S. 41) Seine Erkenntnis, er sei „ein Scheusal, ein Mörder, ein Ungeheuer!“ (S. 41), kommt offensichtlich zu spät, wenn es denn eine Erkenntnis ist und nicht Ausdruck von Selbstironie. Er erklärt schließlich seiner Frau doch, was vorgefallen ist. Der Senat hat ihn zum „Meuterer“ und „Stöhrer der öffentlichen Ruhe“ (S. 42) erklärt. Nun ist er ein Gefangener. Ugolinos bis dahin aggressive, stabile Gefühlslage bricht zusammen und er beginnt „bitterlich“ (S. 42) zu weinen. Der Gebrauch dieses Adjektivs lässt die Deutung zu, dass HahnHahn, Ludwig Philipp hier – wie später auch im Robert von HoheneckenRobert von Hohenecken – absichtsvoll an Petrus denken lässt, der JesusJesus dreimal verleugnete (vgl. Mt 26, 75). Diese kurze Textpassage spiegelt sprachlich den Affektverlauf Ugolinos wider, in acht Zeilen gelingt es Hahn, den Wechsel vom hartherzigen und kampfbereiten zum mitleidsvollen und weinenden Mann zu beschreiben. Erst danach, als er vom Raub seiner Kinder erfährt, charakterisiert Ugolino sich selbst als „rasend“ (S. 43) und nimmt damit das Attribut eines Kraftkerls des Sturm und DrangSturm und Drang für sich in Anspruch.

      In der achten Szene wird Ugolino entwaffnet und gefesselt auf die Bühne geführt, in der neunten Szene treffen erstmals der Erzbischof Ruggieri Ubaldini und der Graf aufeinander. Auf der Handlungsebene könnte das Stück nun enden, doch HahnHahn, Ludwig Philipp bemüht noch einmal denselben Umfang, um das tragische Geschehen weiter zu steigern. Im vierten Akt wird dem Publikum schon der Hungerturm am Bühnenrand gezeigt, der als SymbolSymbol für gescheiterte Machtambitionen gelten kann. In einer Gerichtsverhandlung wird Ugolino vom Senat verhört. Doch statt sich zu verteidigen, besteht er darauf, dass der Erzbischof anwesend sein solle. Diese Szene bestätigt, dass Ugolino immer noch mit seinen politischen Gegnern spielt und er den Senat als republikanische Institution nicht ernst nimmt. Das kulminiert in dem Vorwurf, die Senatoren seien „Feyertagsmacher“ (S. 55), die Fensterreden hielten. Ein vernünftiger Mensch könne sie nicht „fürchten“ (S. 55), also nicht ernst nehmen und nicht respektieren. Für Ugolino ist offensichtlich, dass er sein „Vaterland zu inniglich geliebt habe!“ (S. 56), darin bestehe sein Verbrechen. In der zweiten Szene begegnen sich die beiden Antagonisten wieder. Ruggieri bekräftigt das Todesurteil über Ugolino. Dieser nimmt für sich ein finales charakterologisches Argument in Anspruch, er sei so und könne nicht anders sein (vgl. S. 58) und wehrt damit einen Glaubenssatz des Sturm und Drang ab: „Man kann, was man will; / Man will, was man kann!“28 Diese Formel geht zwar auf LavaterLavater, Johann Caspar zurück, aber sie ist erst durch den Sturm-und-Drang-Apostel Christoph KaufmannKaufmann, Christoph populär geworden. Lavater hatte in seinen Physiognomischen FragmentenPhysiognomische Fragmente als eine Übersteigerung von IndividualitätIndividualität das wahre, volle und ganze GenieGenie definiert, „das kann, was es will, und nur das will, was es kann“29, wohingegen der durchschnittliche Mensch nur kann, „was er kann, und ist, was er ist“30. Somit erweist sich HahnHahn, Ludwig Philipps Ugolino als ein Durchschnittsmensch, gar als ein Anti-Genie. Anders hingegen sein Sohn Anselmo, der in Gefangenschaft von seiner Freiheit träumt und auf den Rat seines Bruders hin großmütig zu sein wie sein Vater antwortet: „Das kann ich, wenn ich will! […] aber zum freyen Mann hat mich Gott gemacht“ (S. 63) und nicht der Erzbischof. Gott habe ihm Hände


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