Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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      Hahns literarisches Werk umfasst Dramen, Singspiele, Balladen, Gedichte und Erzählungen, Zeitungsprojekte und Gebrauchstexte. Eine vollständige Übersicht findet sich bei Werner.12 Allerdings muss zu dieser Druckübersicht noch das Gedicht hinzugefügt werden, das im Altenburgischen IntelligenzblattAltenburgisches Intelligenzblatt vom 2. November 1819 (möglicherweise wegen einer länger dauernden Drucklegungsphase der Zeitschrift) erst fünf Jahre nach Hahns Tod erschienen ist. Es ist unterzeichnet mit „Der Westricher Bänkelsänger“, ob das eine Titulatur ist, die HahnHahn, Ludwig Philipp für sich selbst in Anspruch genommen hat, oder ihm von den Herausgebern der Zeitschrift zugewiesen wurde, ist nicht mehr zu entscheiden. Das Gedicht ist nach der Angabe in den Lyrischen GedichtenLyrische Gedichte (1786, S. 50–53), worin es aufgenommen wurde, unter dem Titel Ein Liedchen, das kein Mädchen gerne singen wirdEin Liedchen, das kein Mädchen gerne singen wird, im Jahr 1769 entstanden. Weshalb es nach Hahns Tod nochmals nachgedruckt werden sollte, ist nicht bekannt.13 Den Band der Lyrischen Gedichte ziert eine Vignette des französischen Kupferstechers Jean Baptiste PillementPillement, Jean Baptiste (1728–1808). Die neu herausgegebenen Gedichte zeigen eine repräsentative Auswahl der ‚lyrischen Handschrift‘ Hahns.14 Das reicht vom Gelegenheitsgedicht, dem Widmungsgedicht, dem volksliedhaften Ton bis hin zum poetologischen Bekenntnis (Wie ich denkeWie ich denke). Besonders bemerkenswert ist Hahns „Parodie“ – so nennt er das Gedicht in der gattungstypologischen Beschreibung im Untertitel – Bei der Gruft Herzogs Christian, des ViertenBei der Gruft Herzogs Christian, des Vierten. Hahn parodiert darin Christian Friedrich Daniel SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniels Gedicht Die FürstengruftDie Fürstengruft (1781), die selbst schon als Parodie der realpolitischen Unrechtsverhältnisse in Württemberg gedacht war. Vor dem Hintergrund, dass Schubart zu Hahns Förderern gehörte, kann dies als Ausdruck einer Eintrübung dieses Freundschaftsverhältnisses verstanden werden.

      Vermutlich erfuhren die drei Dramen Der Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa (1776), Graf Karl von AdelsbergGraf Karl von Adelsberg(1776) und Robert von HoheneckenRobert von Hohenecken (1778) eine geringe Auflage. Heutzutage sind nur noch wenige Exemplare in öffentlichen Bibliotheken nachweisbar. Das Urteil der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts ist falsch und ungerecht, doch konnten sich die Geschmacksurteile der führenden Germanisten dieser Zeit behaupten. 1838 heißt es in einem zeitgenössischen Nachschlagewerk über Hahn: „Ein keineswegs talentloser, aber doch unklarer Dichter, der, von der Sturm- und Drangperiode in der deutschen Literatur fortgerissen, auch mit dieser verschollen ist.“15 Das endgültige Urteil über HahnHahn, Ludwig Philipps literarische Qualität fällte der Germanist Erich SchmidtSchmidt, Erich 1879, als er Hahn „ein Affe GoetheGoethe, Johann Wolfgang’s und KlingerKlinger, Friedrich Maximilian’s“ nennt, „sein Dichten gehört in die Pathologie der Geniezeit“.16 Ein Vor-Urteil, das dringend revidiert gehört.

      Der Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa (1776) ist Hahns erstes Drama und – soweit dies rekonstruierbar ist – auch sein erster literarischer Text, der zur Veröffentlichung gelangt. Das Drama erscheint in Ulm in der Druckerei von Johann Conrad WohlerWohler, Johann Conrad. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Christian Friedrich Daniel SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel (1739–1791), der Herausgeber der Deutschen ChronikDeutsche Chronik, den Druck vermittelt hat. Demzufolge könnte es zuvor einen mutmaßlich brieflichen Kontakt zwischen Hahn und Schubart gegeben haben. In Schubarts Korrespondenz ist allerdings kein brieflicher Beleg hierfür erhalten. Erich Schmidt behauptet einen längeren Aufenthalt Hahns in Ulm, wo er Schubart kennengelernt habe, was aber nicht belegt ist.17 Viel wahrscheinlicher ist, dass der Kontakt zwischen Hahn und Schubart über den gemeinsamen Dichterfreund Maler MüllerMaler Müller (1749–1825) in Mannheim hergestellt wurde, der schon 1765 zur Zeichenausbildung in Zweibrücken war, 1774 erstmals ein Gedicht im Göttinger MusenalmanachGöttinger Musenalmanach veröffentlicht und dadurch die Aufmerksamkeit – auch diejenige Schubarts – der Sturm-und-DrangSturm und Drang-Autoren bekommen hatte, und der sich ab 1775 in Mannheim aufhielt. In einem Brief vom 27. November 1776 an Müller schreibt Schubart: „Genies sind sichtbare Gottheiten, […]. Wie viel herrliche Gedanken hat KlingerKlinger, Friedrich Maximilian ohne Würkung verspritzt; da liegen sie nun im Mist und kannst lange warten, biß Aesops Hahn kommt, und das Edelgestein aufscharrt.“18 Ist das eine Anspielung auf Ludwig Philipp Hahn? Bereits am 25. August 1775 hatte Schubart den in Mannheim lehrenden Anton von KleinKlein, Anton von darum gebeten: „Dürft’ ich Sie nicht um einige literarische Neuigkeiten aus der Pfalz bitten? Sie können nicht glauben, wie mager mir die Neuigkeiten von der Pfalz einlaufen.“19 Dass von KleinKlein, Anton von den Kontakt zu Maler MüllerMaler Müller hergestellt hat, darf angenommen werden, aber wie verhielt es sich mit HahnHahn, Ludwig Philipp? Wusste von Klein von Hahns literarischen Ambitionen? Ob sich Hahn und SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel persönlich kennengelernt und ob sie sich in Ulm getroffen haben, ist nicht klar. Bis heute wird über Hahn kolportiert: „Eine Zeit lang hat er sich vielleicht in Ulm aufgehalten, wo damals Schubart lebte, der Hahns ‚Aufruhr‘ bei Wohler daselbst herausgab“20. Aber immerhin konnte nachgewiesen werden, dass der Vorbericht des Dramas tatsächlich aus Schubarts Feder stammt. Man stützte sich dabei auf die Angabe von Albrecht WeyermannWeyermann, Albrecht in dessen Buch Neue historisch-biographisch-artistische Nachrichten von Gelehrten und Künstlern, auch alten und neuen adelichen und bürgerlichen Familien aus der vormaligen Reichsstadt UlmNeue historisch-biographisch-artistische Nachrichten (Ulm 1829). Unter dem Eintrag Schubart, Nr. 2 „Vorreden zu“, findet sich in der Tat Hahns Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa. Allerdings ist dies letztlich kein Beweis für Schubarts Autorschaft. Ich konnte einen noch älteren Beleg finden, auf den sich möglicherweise Weyermann bezog, in Meusels Lexicon der […] verstorbenen Schriftsteller (1811, Bd. 11, S. 481), wo Schubart als Herausgeber von Hahns Stück genannt wird. Woher die Zuschreibung aber ursprünglich kommt, ist unklar. Schubart schreibt also ein begleitendes Vorwort zu Hahns Drama Der Aufruhr zu Pisa, er stellt damit Hahns Erstling in den Kontext der zeitgenössischen, avantgardistischen Literatur, der Literatur des Sturm und DrangSturm und Drang.

      1768 erschien von Heinrich Wilhelm von GerstenbergGerstenberg, Heinrich Wilhelm von (1737–1823) die fünfaktige Tragödie UgolinoUgolino. LessingLessing, Gotthold Ephraim konnte zuvor das an ihn im Februar 1768 geschickte Ugolino-Manuskript lesen, Gerstenberg lag an seinem Urteil. Im Antwortbrief vom 25. Februar 1768 wies Lessing darauf hin, dass der körperliche Schmerz am schwierigsten literarisch darzustellen sei. Die Tatsache, als Zuschauer auf der Bühne Kinder hungern und sterben und alle beteiligten Personen dazu unschuldig leiden zu sehen, führt Lessing zu einer bemerkenswerten Feststellung. Noch nie habe er bei der Lektüre einer Tragödie das Gefühl gehabt, dass ihm das MitleidMitleid mit den Figuren zur Last geworden sei. Dieses Unbehagen am MitleidMitleid rühre daher, dass der Leser nichts über die Gründe für das unschuldige Leiden erfahren würde, die Figuren litten, ohne dass einsichtig geworden wäre, weshalb. Außerdem sei der Leser zu früh über den Ausgang des Stücks ins Bild gesetzt, bereits nach der Exposition wisse er, dass Ugolino und seine drei Kinder sterben müssten. LessingLessing, Gotthold Ephraim gibt GerstenbergGerstenberg, Heinrich Wilhelm von zu bedenken, dass das Stück, das ursprünglich mit Anselmos Tod aufhören sollte, doch in Ugolinos Selbstmord enden könne, um die Affektblockierung bei Lesern oder Zuschauern aufzulösen. Dies sei „die kürzeste die beste Art ein Ende zu machen“21. Gerstenberg nahm die Kritik an und änderte die Schlussszene, doch mit einer dramaturgisch entscheidenden Änderung: Ugolino tötet sich nicht selbst, sondern droht nur mit seinem Selbstmord. Im letzten Augenblick gelingt ihm die zivilisatorische Bändigung, er stirbt den Hungertod in christlicher Verklärung. Nicht zu Unrecht wurde darin eine neostoizistische Haltung der Hauptperson, wie sie von den christlichen MärtyrertragödieMärtyrertragödien des 17. Jahrhunderts bekannt war, gesehen. Ugolino droht von der Macht der Leidenschaft überwältigt zu werden und sich selbst zu töten, doch hält er sich im letzten Augenblick zurück, er reflektiert über seine beabsichtigte Tat als Katholik und nach bürgerlicher Denkungsart. Schließlich ergibt er sich in sein Schicksal, stirbt des Hungers und dem Zuschauer eröffnet sich eine heitere Aussicht. Gerstenberg skizziert damit sehr genau das Verlaufsschema der Erregung und der Bändigung von Leidenschaften der voraufklärungskritischen Literatur der 1760er-Jahre.

      Der historische Hintergrund für Gerstenbergs


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