Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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verstanden wird.2 Unverzichtbar ist dabei die Beherrschung der entsprechenden Kommunikationsformen, und dies erklärt die eminente Bedeutung, die der Rhetorik bei WeiseWeise, Christian zukommt. Weises politische Methode, wie er sie selbst nennt und die gleichermaßen höfische Reden und bürgerliche Reden meint, ist demzufolge „zentriert in der effektiven Anwendung des iudicium, also der richtigen Einschätzung der subjektiven und objektiven Bedingungen der Redesituation durch den Sprecher“3. Jährlich hatten seine Schüler eine lockere Trilogie aufzuführen: ein Drama, das einen biblischen Stoff zum Inhalt hatte, ein Historienstück und ein Lustspiel. Das protestantische Schuldramaprotestantisches Schuldrama erfährt im Schaffen Weises zweifelsohne einen Höhepunkt.

      Weise gilt in der Literaturgeschichte als ein Autor des Übergangs zwischen SpätbarockSpätbarock und FrühaufklärungFrühaufklärung. Dieser Übergangscharakter ist in besonderer Weise seinem Drama MasanielloMasaniello eigen, er macht es, historisch gesehen, so ausgesprochen interessant.4 Lange Zeit galt Weise als das barocke Gegenbild zur schwülstigen Literatur eines LohensteinLohenstein, Daniel Caspar von und HoffmannswaldauHoffmannswaldau, Christian Hoffmann von. Erst seit den 1970er-Jahren beginnt sich ein differenzierteres Bild von Weise und seinem Werk durchzusetzen. Die maßgebliche Grundlage hierzu schuf die seit 1971 erscheinende Kritische Weise-Ausgabe der Sämtlichen Werke.

      Christian Weise greift mit seinem Drama Masaniello auf ein historisches Ereignis zurück, den neapolitanischen Aufstand der Unterprivilegierten von 1647, die sich unter der Führung des Fischers Tommaso AnielloAniello, Tommaso gegen Abgabenwillkür und steuerliche Pressionen zur Wehr setzten.5 Aniello wurde 1620 geboren und starb 27-jährig als Anführer (‚generalissimo‘) der Aufständischen infolge einer Verschwörung. Dieser historische Bezug wirft die Frage nach WeisesWeise, Christian Quellen ebenso auf wie die nach Weises Verständnis von Geschichte und der Rolle des GeschichtsdramasGeschichtsdrama.

      Zunächst zu seinen Quellen, die exakt rekonstruiert wurden6: Alessandro GiraffiGiraffi, Alessandro verfasste wenige Monate nach dem Aufstand in Neapel vom Juli 1647 die Chronik Le rivoluzioni di NapoliLe rivoluzioni di Napoli. Von Johann Georg SchlederSchleder, Johann Georg wurde diese Schrift in sein Theatrum EuropaeumTheatrum Europaeum (1663) in einer wortgetreuen Übersetzung übernommen.7 Weise bezog seine Kenntnisse über den Aufstand und dessen Hauptfigur Masaniello aus Schleders Theatrum Europaeum, unter anderem benutzte er es auch im Schulunterricht in Zittau.8 35 Jahre nach dem Aufstand schrieb Weise sein Drama. Alessandro Giraffis Bericht über den Aufstand ist nicht frei von Parteilichkeit, so verherrlicht er den Kardinal Ascanio Filomarino, er denunziert Vizekönig und Adel und er versucht gegenüber Masaniellos politischem Handeln Neutralität zu bewahren.9 Doch von dieser politischen Bewertung des Geschichtsschreibers übernimmt der Dichter Weise nichts. Sehr differenziert hebt er schon in der Leseranrede zum Masaniello die unterschiedliche Vorgehensweise von Historiker und Poet hervor und reklamiert für sich ausdrücklich die poetische Freiheitpoetische Freiheit, sich nicht um historische Genauigkeit bemühen zu müssen. Man dürfe sich als Leser nicht ärgern, betont er,

      „wenn der Historie dergleichen Umstaͤnde angedichtet werden / welche sich weder aus der Bibel / noch aus andern Buͤchern koͤnnen beweisen lassen. […] Doch die Freyheit eines Gedichtes bringet es so mit / daß man das jenige nach Gefallen suppliret, welches bey dem Geschichtsschreiber / als unnoͤthig ausgelassen worden. […] Also / was moͤglich ist / und was ohne scheinbare Absurditaͤt haͤtte darbey geschehen koͤnnen / das mag man ungehindert einmischen / oder man muͤste solche Historien gar liegen lassen.“ (S. 9)10

      Über den Masaniello sei indes so viel von „Historici“ (S. 9) geschrieben worden, dass man als Dichter sich schwer tue, etwas hinzuzufügen oder wegzulassen. Doch WeiseWeise, Christian löst dieses Problem elegant. Dichten heißt für ihn, „aus nichts etwas machen können“ (S. 9), womit er seinen freien Umgang mit dem historischen Stoff rechtfertigt. Weise befolgt damit konsequent die sich von AristotelesAristoteles herleitende Unterscheidung zwischen DichterDichter und GeschichtsschreiberGeschichtsschreiber. In dessen Poetik heißt es im neunten Kapitel, es sei nicht Aufgabe des Dichters „mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich […] dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte“11.

      WennPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) man also Weises MasanielloMasaniello als ein Geschichtsdrama bezeichnen will, dann allenfalls in dem Sinne, dass es sich eines historischen Sujets annimmt. Die Charakterzeichnung der Figuren, die politische Beurteilung Masaniellos – immerhin handelt es sich bei ihm ja um die Titelfigur des Stücks – und die dramaturgische Ausgestaltung unterliegen Weises eigenem, für das SpätbarockSpätbarock sehr individuellen, poetologischen Verständnis. Der geschichtliche Stoff hat für Weise in erster Linie exemplarisch-didaktischen Charakter. Am geschichtlichen, literarisch exponierten Beispiel lassen sich für ihn VerhaltensmusterVerhaltensmuster und BewusstseinsformenBewusstseinsformen politischen Handelns aufzeigen und in der Inszenierung einüben. Immerhin war Weise bemüht, seinen Schülern eine praxisorientierte Ausbildung angedeihen zu lassen. Die meisten seiner annähernd 13000 Schüler, die er während seiner langjährigen Rektoratszeit unterrichtete, kamen aus bürgerlichen Verhältnissen, nur ein Graf, fünf Barone und 92 Adlige waren darunter.12 Die Schüler wurden unter anderem durch die Literatur auf ihre zukünftige Rolle als Staatsdiener vorbereitet. Weise – und darin drückt sich mehr als nur der übliche BescheidenheitstoposTopos aus – lehnt es in den Curiösen Gedancken Von deutschen VersenCuriöse Gedancken Von deutschen Versen (1692) brüsk ab, als Dichter bezeichnet zu werden: „ich habe die Ehre gehabt ein Professor Poeseos zu seyn: doch wer mich einen Poeten genennet hätte / […] / der würde schlechten Danck bey mir verdienen“13. In dieser Schrift betont er auch nochmals das „instrumental-Wesen“14, also den instrumentellen Charakter der Poesie zur Vorbereitung auf ein verantwortungsvolles Berufsleben im Dienst des Staates oder der Kirche. Seine Maßgabe lautet: „Welche Construction in prosâ nicht gelitten wird / die sol man auch in Versen darvon lassen“15, das war zweifelsohne revolutionär. Der Verzicht auf Versschemata und auf Reimschemata kennzeichnet auch den MasanielloMasaniello, sieht man von den beiden Tenoristen ab, die anstelle eines Vorredners die Bühne betreten (vgl. S. 17f.) und dem fast schon in Stichomythien (einzeilige, gereimte Wechselrede) gehaltenen Schluss, worin die moralische Lehre des Stücks resümiert wird (S. 176f.). In seiner Abhandlung Von Verfertigung der Komödien und ihrem NutzenVon Verfertigung der Komödien und ihrem Nutzen (1708) stellt Weise lapidar fest: „ich finde keinen casum im menschlichen Leben, da die Leute mit einander Verse machen“16.

      Christian WeiseWeise, Christians Masaniello erschien 1683 unter dem Titel: Christian Weisens | Zittauisches | THEATRUM | Wie solches | Anno M DC LXXXII. | præsentiret worden / | Bestehende | in drey unterschiedenen Spielen. | 1. | Von Jacobs doppelter Heyrath. | 2. | Von dem Neapolitanischen Re- I bellen MASANIELLO. | 3. | In einer Parodie eines neuen Peter | Sqvenzes von lautern Absur- | dis Comicis. | Zittau / | In verlegung Johann Christoph Miethens / | Druckts Michael Hartmann / 1683. Noch im selben Jahr folgte die Einzelausgabe des am 11. Februar 1682 erstmals gespielten Stückes. Schauspieler waren die Schüler von Weises Zittauer Gymnasium.

      Bereits das Proömium der beiden Tenoristen macht die Absicht des Verfassers in dreierlei Hinsicht deutlich: Erstens verlangt das Publikum von der Tragödie die Darstellung einer tugendhaften Handlung und will unterhalten werden. Was „nach Tugend schmecket“ (S. 17), soll in der TragödieTragödie gelobt, was untugendhaft ist, soll in der KomödieKomödie verlacht werden. Dies entspricht dem zeitgenössischen, herrschenden Geschmack und den Vorstellungen einer konventionellen Lob-Tadel-PoetikPoetikLob-Tadel-Poetik.17 Zweitens ist damit bereits der Hinweis auf den „froͤhliche[n] Wechsel“ (S. 17) der Textsorten, der Stilarten und die Aufhebung strenger Gattungsgrenzen gegeben, wie sie die BarockpoetikBarockpoetik verlangt. Weise gestattet sich von Beginn an ausdrücklich diese poetologische Freiheitpoetologische Freiheit. Drittens soll den Schülern als den Aufführenden und den Zuschauern ein niedriges Merkmal des „Politisch reden“ (S. 17), und damit ist hier die kleinbürgerliche Herkunft Masaniellos gemeint, vor Augen gestellt und zu Gehör gebracht werden. Dargestellt wird dies in der Form des mittleren Stils in reim- und versfreier Prosa. Die Absicht


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