Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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Zurechnungsfähigkeit ist bei nur wenigen historischen Kindsmörderinnen nachzuweisen. Die eigentliche Tat geschieht bei GotterGotter, Friedrich Wilhelm hinter der Bühne. Danach stürzt Medea mit dem Ausruf hervor: „Es ist geschehen – geschehen – Schlummert sanft ihr Lieben! euch ist wohl – zerbrochen ist euer Kerker –“34. Später wird sie Jason vorwerfen, dass er sie als Medea verkannt habe, womit der Autor auf eben dieses Bild der Medea-Frau als Kindsmörderin anspielt. Jason hätte aus der Mythologie wissen können, welchen Ausgang die Medea-Geschichte nimmt. Natürlich ist dies, oberflächlich betrachtet, höchst unlogisch und unhistorisch argumentiert, da Gotter den Mythos ja neu erzählt. Doch der Text hält gerade dieses Paradox als Spannung aufrecht. Aus Verzweiflung tötet sich Jason am Ende selbst und unterläuft damit Medeas Vorhaben, ihn absichtsvoll am Leben zu lassen. Dieses Motiv von Jasons Selbstmord hatte CorneilleCorneille, Pierre in seiner MédéeMédée (1635), die sich ansonsten an Senecas MedeaMedea orientierte, in das abendländische Medea-Thema eingeführt.

      Ein „Schweinslederband“, den er zufällig im Zimmer seiner Sommerfrische vorfand, schreibt GrillparzerGrillparzer, Franz in seiner Autobiografie, habe ihn im Sommer 1817 auf die Medea-Spur geführt. Also ein prachtvoll gebundener Band von HederichHederich, Benjamins Mythologischem Lexikon in einem Nachdruck der bearbeiteten Ausgabe von 1770. Grillparzers Vorarbeiten zur Medea begannen am 29. September 1818 und wurden am 27. Januar 1820 abgeschlossen. Lange Zeit zählte Grillparzers Medea-Figur zu den begehrtesten Frauenrollen überhaupt des zeitgenössischen Theaters.35 Seit 1986 liegt der Text in einer zuverlässigen Edition von Helmut Bachmaier vor. Atethesen, Konjekturen, Zweifelsfälle gibt es nur wenige. Auch CsokorCsokor, Franz Theodor verweist beiläufig am Ende seines MusilMusil, Robert-Gedenkartikels auf Grillparzers Medea.36 Wir wissen, dass GrillparzerGrillparzer, Franz für seine ArgonautenDie Argonauten-Trilogie, deren dritter Teil die Medea darstellt, umfangreiche Quellenstudien betrieben hat. Über Hederichs lexikologisches Wissen hinaus beschäftigte er sich mit der euripideischenEuripides Medea, mit SenecasSeneca Medea-Drama und anderen Quellen.37 Am Burgtheater selbst wurden in den Jahren 1815 und 1817 die Medea-Dramen von Julius von SodenSoden, Julius von und Friedrich Wilhelm GotterGotter, Friedrich Wilhelm gespielt. Ebenso fällt die Aufführung von CherubinisCherubini, Luigi Medea-Oper in diese Zeit. An seiner Figur interessierte GrillparzerGrillparzer, Franz vor allem ihr Charakter und die Art und Weise, wie Medea „zu der für eine neuere Anschauungsweise abscheulichen Katastrophe geführt wird“38. Liest man seine Medea losgelöst von der Trilogie, wird sie zum analytischen Drama, da die Gründe, die zur Katastrophe führen, dem Text vorgängig sind. Und diese Gründe sind nicht der Kindermord, sondern sie sind von Beginn an in die Jason-Medea-Beziehung eingeschrieben. Der erste Teil der Trilogie heißt Der Gastfreund und wird von Grillparzer im Untertitel als ein Trauerspiel in einem Aufzug genannt. Doch der Titel ist bereits Ironie, denn Phryxus, der fremde Gast mit dem goldnen Vlies, wird vom Gastgeber Aietes, Medeas Vater, ermordet. Medea wächst in einer kriegerischen Gesellschaft auf. Töten und vernichten, sich ängstigen und Angst machen durch Zauber und durch Götterdrohung sind ihr täglich Brot. Die sozialen Beziehungen sind hochgradig aggressiv, und dies nicht nur verbal. So sagt Aietes zu Medea, nach Ankunft der Argonauten: „’S sind Fremde, sind Feinde“ (V. 102), und seine Tochter rät lapidar: „So geh hin und töte sie!“ (V. 104). Als Phryxus Medeas gewahr wird, preist er sie in der Topik des klassischen Frauenlobs und schließt mit den Worten: „Halb Charis steht sie da und halb Mänade“ (V. 249). Der Göttin der Anmut, Charis, steht die Mänade konträr gegenüber, die orgiastische, wilde, rauschhaft-triebhafte Frau, deren männliche Brutalität, rohes Fleisch zu essen und wilde Tiere zu jagen, fasziniert. Bereits dies zeigt, dass der männliche Blick die Frau halbiert. Der gebrochene Blick erzeugt die gebrochene Frau. Genia Schulz hat in ihrem wichtigen Beitrag zur Medea-Forschung herausgearbeitet, dass in dieser Halbierung der Frau durch den männlichen Blick sich die Teilung der weiblichen Identität ausdrückt.39 Der zweite Teil der Trilogie heißt Die Argonauten und exponiert mit Blick auf den dritten Teil die Dominanz Jasons über Medea. Dieser Medea wird kein Raum für die Entwicklung einer Identität und Individualität gelassen. Jason definiert die Sprach- und Handlungsmuster für Medea, welche diese lediglich zu bestätigen hat. Die Medea schließlich stellt den dritten Teil der Trilogie dar. Die Zahl der Dramatis personae ist gering gehalten. Kreon, der König von Korinth, seine Tochter Kreusa, Jason, Medea sowie Medeas Amme Gora bilden das eigentliche Figurenensemble. Bereits in der ersten Regieanweisung des ersten Aktes hebt Grillparzer die Bedeutung des Dunklen hervor, der Akt spielt im Dunkeln. Licht und Dunkel, Helligkeit und Schatten bekommen eine symbolische Bedeutungsymbolische Bedeutung. Das eigentlich Helle im gesamten Stück ist der Schlossbrand, nur das Unglück, die Katastrophe produziert Licht. Selbst am Ende sagt Medea noch, der Erde Glück sei nur ein Schatten. Das tragische Tun Jasons und Medeas vollzieht sich im Schatten von Aufklärung und Vernunft.Grillparzer, Franz40 Medea vergräbt die Insignien der Macht, das Vlies sowie rituelle Gerätschaften, die „Macht“ und „Wissenschaft“41 bedeuten, sie lässt sie im Dunkel der Erde verschwinden. Das Verschwinden der kulturellen Herkunft gleicht einem ungeschehen Machen, was in der Tiefe des Dunkels versenkt wird, wird verdrängt. Ihren Mann charakterisiert Medea mit den Worten:

      „Nur er ist da, er in der weiten Welt

      Und alles andre nichts als Stoff zu Taten.

      Voll Selbstheit, nicht des Nutzens, doch des Sinns,

      Spielt er mit seinem und der andern Glück.

      Lockt's ihn nach Ruhm so schlägt er einen tot,

      Will er ein Weib, so holt er eine sich

      Was auch darüber bricht, was kümmert's ihn!

      Er tut nur Recht, doch recht ist was er will.

      Du kennst ihn nicht, ich aber kenn ihn ganz

      Und denk ich an die Dinge, die geschehn,

      ich könnt' ihn sterben sehn und lachen drob“42.

      Der Tötungswunsch ist evident. Die tiefe Entfremdung der beiden Partner ist Ergebnis des ursprünglichen Gewaltverhältnisses, das in den Tod des Anderen mündet und darin endet. Sich selbst charakterisiert Medea bezeichnenderweise im Sprachgestus der verinnerlichten Rollenzuweisungen so: „ich bin ein entsetzlich, greulich Wesen, / Mir selbst ein Abgrund und ein Schreckensbild“43. GrillparzersGrillparzer, Franz Anliegen in der MedeaMedea gilt nicht mehr Männertaten, sondern einem weiblichen Täterprofil. Darin liegt der entscheidende Unterschied zu den beiden ersten Teilen der Trilogie. So erklärt sich auch die oft beklagte Handlungsarmut dieses Stücks, denn eine Handlung im herkömmlichen Sinn gibt es nicht mehr, die Männertaten der ersten beiden Teile der Trilogie sind vorbei, sie kehren allenfalls im retrospektiven Gespräch wieder. Nun geht es allein um die psychische Entwicklung der Frau Medea hin zur Tat, also um die Motivierung ihres tragischen Handelns. Im vierten Akt wird der Tötungsimpuls von Medea selbst verbalisiert. Auf die Frage Goras, was Medea tun wolle, gibt sie die klare Antwort, „laß sie mich töten“44. Danach fällt der klassische Satz „Medea bin ich wieder“.45 Medea hat ihre ursprüngliche Identität wiedergefunden, allerdings zum Preis der Auslöschung der gemeinsamen Geschichte mit Jason und ihren Kindern. Grillparzers Medea ist ein Text über die Tragödie der wortlosen Kommunikation. Kulturelle Kommunikationslosigkeit und geschlechterdifferenteGeschlechterdifferenz Wortlosigkeit zeitigen im Ergebnis das, wogegen sich die Arbeit der AufklärungAufklärung gewandt hat: die individuelle und politische Katastrophe. Grillparzer bringt dies in einem Epigramm aus dem Jahre 1848 auf den Punkt:

      „Der Weg der neuern Bildung geht

      Von Humanität

      Durch Nationalität

      Zur Bestialität“46.

      In der Schlussszene des Stücks wird dieses exemplarische aneinander Vorbeireden deutlich.47 Grillparzers Medea ist also nicht die Frau, als die sie einmal beschrieben wurde, ein „braves Weibchen romantischen Geblüts, ein Pusselchen, deren Einfalt noch von ihrer Tugend übertroffen wird“48. GrillparzerGrillparzer, Franz entwickelt vielmehr in analytischer Beispielhaftigkeit die vielschichtigen Gründe für Medeas Tat.49 Diese betreffen das sprachliche und psychische Gewaltverhältnis zwischen Jason und Medea, die Muttersubstitution (durch Kreusa),


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