Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

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da sie ein Gefühl des Wunderbaren im Zuschauer und Zuhörer erregten. Diese Mythenmenschen seien „stärkerer LeidenschaftenLeidenschaften, edlerer Entschließungen und kühnerer Thaten fähig“22 als wir. Und so verwundert es nicht, wenn Wieland unter anderem Medea als eine geeignete Theaterfigur erwähnt.

      Mit den Medea-Dramen von EuripidesEuripides und SenecaSeneca ist der Kindsmord in der abendländischen Literatur präsent. Weshalb gab es in Deutschland bis 1775 keine eigenständigen Medea- Adaptionen, obwohl beispielsweise in Flugschriften des 16. und 17. Jahrhunderts der Kindsmord immer wieder als Thema aufgegriffen wird?23 An dieser historischen Nahtstelle ist eine erstaunliche Forschungslücke in Literatur- und Geschichtswissenschaft zu konstatieren. Der Übergang von den fiktionalisierten oder fiktional überhöhten Texten der Flugschriften hin zu den an Einzelfällen sich orientierenden Moritatentexten ist nicht untersucht. In der Flugschriftenliteratur steht die anschauliche und damit abschreckende Übertreibung im Vordergrund. In den illustrierten Flugblättern, in Bänkelsangliedern, in Urgichten, welche als Flugblatt vor der Hinrichtung verkauft wurden und die Tat sowie das Urteil narrativ darstellten, in Balladen, in Volksliedern und in Sagen wurden Kindsmorde und Kindsmörderinnen beschrieben.24 Erst in der Literatur des 18. Jahrhunderts werden die literarischen Texte über die Medea-Frau und die Realhistorie des Kindsmords zusammengeführt. Die LiteraturLiteratur ist es, die erstens dafür sorgt, dass das Thema Kindsmord im kulturellen Gedächtnis gegenwärtig bleiben wird. Und es wird zweitens wieder die Literatur sein, die von hier aus, von ihrem ureigensten Medium des Fiktiven aus, die historische Veränderung schafft, dass Kindsmord als gesellschaftliches Problem begriffen wird, dessen Lösung weder in der Pathologisierung noch in der Mythisierung der Kindsmörderin liegen kann. Daraus folgt methodisch, dass bei der Erarbeitung dieses Themas zwischen den Ebenen der fiktionalen und der nicht-fiktionalen Texte gleichberechtigt gewechselt werden kann und insofern das Urteil zurückzuweisen ist, dass „zur Aufschlüsselung der sozialen Wirklichkeit der Kindsmörderin […] der ‚schöne‘ Diskurs“25 wenig beitrage.

      Im 30. Stück seiner Hamburgischen DramaturgieHamburgische Dramaturgie (1769) schreibt LessingLessing, Gotthold Ephraim, Medea wirke geradezu „tugendhaft und liebenswürdig. Denn alle die Grausamkeiten, welche Medea begeht, begeht sie aus Eifersucht. Einer zärtlichen, eifersüchtigen Frau will ich noch alles vergeben; sie ist das, was sie sein soll, nur zu heftig“26. Darin verbirgt sich eine subtile Verschiebung der Wahrnehmung. Lessings Frauenbild, wenn man dies als repräsentativ für seine Zeit annehmen will, vermag eine zärtlich liebende und eifersüchtige Medea zu rechtfertigen, mehr noch, es ist bereit, Verständnis für eine Tat wie den Kindsmord aufzubringen, wenn das Tatmotiv in einer empfindsamen Haltung gründet. Lessing antizipiert damit ein aufgeklärtes Verständnis der Medea-Frau, wie es sich in der Realhistorie des 18. Jahrhunderts erst im Anschluss an die Mannheimer Preisfrage von 1780 in der Öffentlichkeit findet. Lessing betreibt die Aufklärung der Medea-Frau. Einen Ansatz hierzu findet man bereits vierzehn Jahre zuvor in einem Drama Lessings, mit dem er das deutsche Bürgerliche Trauerspiel entscheidend fundierte. Gleichsam beiläufig agiert Lessings Figur jene Kriterien für eine verständnisvolle Beurteilung aus. Zärtlich empfindend und rasend eifersüchtig gebärdet sie sich. In dem Bürgerlichen TrauerspielBürgerliches Trauerspiel Miß Sara SampsonMiss Sara Sampson (1755) sagt die eifersüchtige und enttäuschte Marwood zu ihrem Liebhaber Mellefont, mit dem sie die gemeinsame Tochter Arabella hat:

      „Sieh in mir eine neue Medea! […] Oder wenn du noch eine grausamere Mutter weißt, so sieh sie gedoppelt in mir! Gift und Dolch sollen mich rächen. Doch nein, Gift und Dolch sind zu barmherzige Werkzeuge! Sie würden dein und mein Kind zu bald töten. Ich will es nicht gestorben sehen; sterben will ich es sehen! Durch langsame Martern will ich in seinem Gesichte jeden ähnlichen Zug, den es von dir hat, sich verstellen, verzerren und verschwinden sehen. Ich will mit begieriger Hand Glied von Glied, Ader von Ader, Nerve von Nerve lösen und das Kleinste derselben auch da noch nicht aufhören zu schneiden und zu brennen, wenn es schon nichts mehr sein wird als ein empfindungsloses Aas. Ich – ich werde wenigstens dabei empfinden, wie süß die Rache sei!“27

      Marwood wird diese Tat nicht begehen. Der Autor LessingLessing, Gotthold Ephraim hat die Gewaltfantasien der Figur nur beschrieben, er hat sie diskursiviert, er hat zur Sprache gebracht das, was der Medea-Mythos für ihn beinhaltete, nämlich die grausame Mutter. Die Integration der Medea-Figur in ein Bürgerliches TrauerspielBürgerliches Trauerspiel durch Lessing holt das literarisch nach, was sich realhistorisch längst vollzogen hat. Kindsmord ereignet sich auch in der bürgerlichenbürgerlich Schicht und ist kein Unterschichtenphänomen. Schon wenige Jahre später werden junge Autoren des Sturm und DrangSturm und Drang wie WagnerWagner, Heinrich Leopold, LenzLenz, Jakob Michael Reinhold, Maler MüllerMaler Müller, SprickmannSprickmann, Anton Matthias, SchillerSchiller, Friedrich, MeißnerMeißner, August Gottlieb, StäudlinStäudlin, Gotthold Friedrich, aber auch GemmingenGemmingen, Otto Heinrich von und WuchererWucherer, Friedrich Wilhelm an diesem Punkt anknüpfen.

      In der darauffolgenden Szene bereut Marwood ihre Worte:

      „Wer bringt mich zu so unnatürlichen Ausschweifungen? Sind Sie es nicht selbst? Wo kann Bella sicherer sein als bei mir? Mein Mund tobet wider sie, und mein Herz bleibt doch immer das Herz einer Mutter. Ach, Mellefont! Vergessen Sie meine Raserei und denken zu ihrer Entschuldigung nur an die Ursache derselben“28.

      Marwood macht den Mann ursächlich für ihre Gewaltfantasien verantwortlich und benennt damit ein Tatmotiv für einen möglichen Kindsmord, das in den historischen Verhörprotokollen der Kindsmordprozesse nur selten von den Frauen in dieser Klarheit geäußert wird: Es ist die Enttäuschung über oder der Hass auf den Kindsvater. In den meisten Fällen, bei denen dieses Motiv eine Rolle spielt, gründet es sich auf ein nicht eingehaltenes Eheversprechen. Die Schwangere sieht sich plötzlich mit familiären und sozialen Problemen allein gelassen, die zu lösen ihre individuellen Möglichkeiten übersteigt. Marwoods Gewaltfantasie macht deutlich, dass die Frau nicht nur aus Vorsatz tötet, sondern im Kind auch oder gerade den Vater töten will. Eine Verschiebung des Aggressionsobjekts vom Vater auf das Kind wird in der kriminologischen und täterpsychologischen Literatur heutzutage als wichtiges Tatmotiv angenommen.29 Der als Trauma erfahrene Verlust des Partners durch Trennung drängt die Kindsmörderin, den Partner im gemeinsamen Kind zu rächen. Dieser Aspekt der binnenpsychischen Tatmotivierung spielt aber in den meisten Kindsmordprozessen keine Rolle bei der Erklärung des Tatmotivs. Wieder ist es die LiteraturLiteratur, welche die Möglichkeiten bereithält und erprobt, die Verschiebung der Aggressionen, die ursprünglich dem Kindsvater galten, nun aber am Kind selbst ausagiert werden, zu erklären.

      In Deutschland ist die MedeaMedea von Friedrich Wilhelm GotterGotter, Friedrich Wilhelm die erste eigenständige Bearbeitung des Medea-Themas, die über eine Übersetzung der euripideischen Vorlage hinausgeht. Einen ersten deutschsprachigen Übersetzungsversuch hatte Postel 1695 veröffentlicht.Euripides30 Wenn wir von dem 18. Jahrhundert als dem bürgerlichenbürgerlich Zeitalter sprechen, so ist das plötzliche Auftauchen des Medea-Themas an die Entstehung von bürgerlicher Öffentlichkeit in der AufklärungAufklärung gekoppelt. Die Aufklärung ermöglicht die Konturierung und Darstellung einer neuen Medea, die in LessingsLessing, Gotthold Ephraim Sara SampsonMiss Sara Sampson, in GotterGotter, Friedrich Wilhelms MedeaMedea (1775) und in WagnersWagner, Heinrich Leopold KindermörderinDie Kindermörderin (1776) ihren Ausgang nehmen. Die Literatur trägt das Thema in die Öffentlichkeit, sie erschließt kulturgeschichtlichkulturgeschichtlich gesehen die Medien der fiktionalen und der nicht-fiktionalen Texte dem Thema und schafft damit ein öffentliches, bürgerliches Bewusstsein, denn die Adressaten dieser Texte sind Bürgerliche. Dies gelingt ihr, indem sie die Grenzen zwischen Mythologie, literarischer Fiktion und Realhistorie diffundiert. Bei Gotter hat Medea ein Sendungsbewusstsein, aus dem sie einen Sendungsauftrag ableitet. Medea instrumentalisiert diesen Auftrag der Hofmeisterin gegenüber, um ihre eigentliche Tötungsabsicht zu camouflieren. Bevor Medea die Tat ausführt, hat Gotter einen Dialog zwischen ihr und den beiden Söhnen dazwischen geschaltet. Medea schreckt vor ihrer eigenen Grausamkeit zurück, aber gerade der ältere Sohn ermutigt sie in ihrer Gewaltfantasie, „wir wollen mit dir sterben, liebe Mutter“31. Erstmals tritt eine Medea auf, deren Skrupel in Selbstbezichtigungen übergehen, sie nennt sich „die abscheulichste der Mütter!“32 Dem setzt sie aber umgehend ein „Noch bist du Medea!“33 entgegen, das SenecaSenecas ‚Medea


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