Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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den er mit dem WeltfreundDer Weltfreund verbindet. Es heißt:

      „O kommt mir nah!

      Kommt mir nah!

      Ich bin eine heiße, rotglühende Platte

      Rollt euch und zerfallt

      Wie dünne Blätter!

      Oder folgt mir!

      Folgt mir!

      […]

      Lärmt und rast!

      Rast und lärmt!

      Meine Stimme ist gewaltig,

      Edel und hoch!

      Wie steigt sie schon

      Ueber eure schmutzige Mittellage.“ (E, S. 91f.)

      Das Insistierende und Repetierende der einzelnen Verse hebt den Anspruch, eine neue und eine eigene Stimme in der frühexpressionistischenExpressionismus Lyrik zu sein, unmissverständlich hervor. In Hundertfaches Dasein fasst dies Werfel mit einer Formel zusammen, die seine Haltung auf den Punkt bringt: „Denn Existenz ist Mittel, Wirkung alles“ (E, S. 94).

      In Mitleid mit manchen Worten fängt Werfel die Stimmung des Perspektivenwechsels und der neuen lyrischen Sprechweise ein. „Ihr armen Worte, abgeschabt und glatt“ (E, S. 100), heißt die erste Zeile, die direkt mit den letzten Zeilen korrespondiert, welche sich wieder der Klage-Interjektion bedienen: „Oh, dann von Mitleid durchschüttert, schüf ich aus euerm mißachteten Klang / Am liebsten den hehrsten, heißesten Gesang“ (E, S. 100).

      Das Gedicht Du braver Mensch! rekapituliert gleichsam die Bedeutung der Interjektion. Gleich sieben Mal taucht das ‚o‘ auf und leitet damit das frühexpressionistische O-Mensch-Pathos ein, auch wenn diese Initiation von der Forschung für das Gedicht An den Leser in Anspruch genommen wird.84 Der brave Mensch wird mit dem guten und treuen Wort verknüpft, so dass ein neuer Mensch unausgesprochen auch ein neues Wort fordert.

      Die Auswahl in G schließt mit dem Gedicht Ich habe eine gute Tat getan, das auch das viertletzte Gedicht in E darstellt. Das Gedicht kann als WerfelsWerfel, Franz autopoetologischer Rückblick verstanden werden. Im Rückblick auf seinen ersten Gedichtband wählt er nicht jene Gedichte aus, die zeitgenössisch initial-expressionistischExpressionismus gewirkt haben, sondern jene, die für ihn sein lyrisches Debüt resümieren. Die gute Tat, die er getan hat, besteht eben darin, jenes Initial oder jene – nach Genette – Matrix zu geben, mit deren Hilfe expressionistische Lyrik entstehen und sich vernetzen konnte. Zunächst ist der Titel Ich habe eine gute Tat getan aber auch eine Allusion auf die Worte des Apostels PaulusPaulus im Zweiten Brief an TimotheusZweiter Brief des Paulus an Timotheus: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten“ (2. Tim 4, 7). Natürlich kann das Gedicht auch als ein nur unschwer zu dechiffrierendes Liebesgedicht gelesen werden. Darüber hinaus beansprucht es aber lyrikgeschichtlich gesehen eine besondere, eben expressionistische Individualitätsmarke, es enthält auch die Absichtserklärung, zukünftig „tausend gute Taten“ (E, S. 105) tun zu wollen. Und wiederum aus der Retrospektive Werfels betrachtet ist es genau dies, mit seiner Lyrik diese Taten getan zu haben. Das lyrische Ich des Gedichts genießt die Allliebe, die Erkenntniswonne, Gefühle und Wohlwollen, Befriedigung und Dankbarkeit erfährt es – dies sind Worte des Gedichts. Das Ich resümiert: „Das Buch, das ich lese / Blättert von selbst sich auf“ (E, S. 106), es ist das Buch expressionistischer Lyrik, in dem der junge Werfel blättert und das ihn in seinen Bann zieht. Die letzten Verse dieses umfangreichsten Gedichts aus dem Weltfreund lauten:

      „Ich habe eine gute Tat getan,

      Voll Freude und Wohlwollens bin ich

      Und nicht mehr einsam

      Nein, nicht mehr einsam.

      Frohlocke, mein Herz!“ (E, S. 107)

      In G kommt beim Vers „Und nicht mehr einsam“ lediglich noch ein Komma hinzu und heißt demnach: „Und nicht mehr einsam,“ (G, S. 28). Der Ton bleibt durchaus psalmodisch und der Wortlaut verweist unter anderem auf Psalm 13, 6. Ich habe eine gute Tat getan bilanziert also aus der Sicht des späten Werfel seine Leistung. Diese besteht darin, dass er die Öffnung dieser expressionistischenExpressionismus Matrix im WeltfreundDer Weltfreund vollzieht. Die Gedichte aus diesem Band sind vor allem autopoetologische Ichphantasien, welche versuchen, die zunehmende Dissoziation von Ich und Welt in der ModerneModerne sprachlich einzufangen.

      Die Themen des WeltfreundsDer Weltfreund kreisen um den Verlust der Kindheit (vor allem im ersten Teil), um Natur, Liebe und Selbstvergewisserung. Besonders diese Frage nach dem ‚Wer bin ich?‘ und danach, wie ein zeitgemäßes lyrisches Sprechen aussehen kann, ist in den programmatisch zu nennenden, mindestens autopoetologischen Texten sichtbar. Die Wahl des Metrums ist nicht spektakulär. Die meisten Gedichte bedienen sich des Jambus, einige als Oden oder Hymnen angelegte Gedichte greifen auf andere Metren aus. Über die Bedeutung des Reims schreibt WerfelWerfel, Franz in seinem 1938 entstandenen und in G aufgenommenen Sonett Der Reim:

      „Der Reim ist heilig. Denn durch ihn erfahren

      Wir tiefe Zwieheit, die sich will entsprechen.

      Sind wir nicht selbst mit Aug’-, Ohr-, Lippenpaaren

      Gepaarte Reime ohne Klang-Gebrechen?

      Das Reimwort meinst du mühsam zu bestechen,

      Doch wird es unversehens offenbaren,

      Wie Liebeskräfte, die zerspalten waren,

      Zum Kuß des Gleichklangs durch die Fernen brechen.

      Allein nicht jede Sprache hat geheiligt

      Den reinen Reim. Wo nur sich deckt die Endung,

      Droht leeres Spiel. Der Geist bleibt unbeteiligt.

      Dieselben Silben lassen leicht sich leimen.

      Doch Stämm’ und Wurzeln spotten solcher Blendung.

      Im Deutschen müssen sich die Sachen reimen.“ (G, S. 184)

      Dieser Notwendigkeitsbehauptung, dass sich „die Sachen“ reimen müssten, steht aber schon im WeltfreundDer Weltfreund die Erkenntnis aus dem Lied vom himmlischen Wort entgegen, wonach manchmal auch gilt: „Der liebste Reim scheint leer“ (E, S. 51).

      Gleich das erste Gedicht des Bandes mit dem Titel Das leichte und das schwere Herz (vgl. E, S. 7f.) offeriert fünf Mal ein ‚o‘. Gemeint ist aber eher ein ‚oh‘, denn die Interjektion gilt vor allem dem beklagten Verlust der Kindheit. Das wird im Gedicht Kindersonntagsausflug (vgl. E, S. 15f.) deutlich, wo WerfelWerfel, Franz in der Tat drei Mal das ‚oh‘ anführt. Bis dahin hat er aber bereits sieben Mal ‚o‘ gebraucht. Die Bilanz dieses Interjektionsgebrauchs sieht so aus: Werfel verwendet 38 Mal die Interjektion ‚o‘ und 13 Mal die Interjektion ‚oh‘, zusammen also 51 mal die Interjektionen ‚o‘/‚oh‘. Es scheint mir also durchaus berechtigt zu sein, hier von einer massiven Verwendung dieser Interjektionen und damit von einem signifikanten Bedeutungsanspruch der ‚o’-s und ‚oh’-s zu sprechen. Dieser Interjektion – ich fasse beide Subklassen nun zusammen – eignet eine poetologische Bedeutung. Bereits das Eröffnungsgedicht Das leichte und das schwere Herz setzt den Akzent der Bewunderung mit fünf ‚o‘-Interjektionen, wobei alle fünf auf das leichte Herz bezogen sind.

      Die Bedeutung des Perspektivenwechsels, der mit dem Verlust der Kindheit verknüpft ist, beschreibt das Gedicht Der Kinderanzug. Was sich im Titel harmlos gibt, öffnet in den Schlusszeilen eine gewaltige Einsicht. Der Perspektivenwechsel ermöglicht einen anderen Blick auf alles Andere, auch wenn das Ich gleich bleibt (von der für die Literaten der Wiener ModerneWiener Moderne so bedeutenden Erkenntnis des Physikers und Philosophen Ernst MachMach, Ernst, wonach das Ich erkenntnistheoretisch gerade nicht mehr gesichert, sondern lediglich ein Bündel unterschiedlichster Eindrücke sei, ist Werfel nicht berührt):

      „Eins fällt mir ein: oft schaut ich gebückt


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