Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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auch deutlich, dass Musil, wie nur wenige, philosophische Fragestellungen an den Vorgaben der LiteraturLiteratur bemisst.

      Franz WerfelWerfel, Franz Der WeltfreundDer Weltfreund (1911)

      Zu den Gemeinplätzen über die expressionistischeExpressionismus Literatur, insbesondere über die expressionistische Lyrik, gehört, dass die Autorinnen und Autoren eine neue Formensprache und eine neue Ausdrucksweise gesucht hätten. Kein Geringerer als Gottfried BennBenn, Gottfried hat diese Suche nach einer ‚neuen Sprache‘ in einem Interview von 1956 so beschrieben: „Meine Generation war eben dazu bestimmt, die alten Formen, die seit GoetheGoethe, Johann Wolfgang galten, noch bei GeorgeGeorge, Stefan und RilkeRilke, Rainer Maria waren, zu zerbrechen und eine neue Sprache zu schaffen“1. Es ist also weniger der ‚neue Mensch‘, der zunächst gesucht wird, als vielmehr die ‚neue Sprache‘, die gefunden wird.

      Das betrifft auch den Gebrauch des Vokals ‚o‘, der seine symbolische Bedeutung natürlich aus dem Bekenntnis des jüdisch-christlichen Gottes nach der Offenbarung des Johannes bezieht: ‚Ich bin das A und das O‘ (vgl. Offb 22, 13), was bedeutet: der Anfang und das Ende, denn hier ist das ‚O‘ als langes ‚O‘, also als Omega zu lesen, und das ist der letzte Buchstabe im griechischen Alphabet. Umgangssprachlich ist diese Wendung ‚das A und O‘ längst angekommen, um die Bedeutung einer Aussage oder eines Sachverhalts zu unterstreichen.

      Franz WerfelWerfel, Franz gilt mit seinem ersten Gedichtband Der WeltfreundDer Weltfreund von 1911 als einer der Initiatoren dieser neuen Sprache. Seine Gedichtsprache steht bis heute im Verdacht einer ‚ungeordneten‘, rhetorisch aufgeladenen Sprechweise. Das hat schon Oskar LoerkeLoerke, Oskar bemängelt, er spricht in seinem Tagebuch in einer Eintragung vom 5. Juli 1925 von dem „rhetorischen Werfel“2. Letztlich ist auch dies eine Geschmacksentscheidung, denn welche Gedichtsprache bedient sich nicht in der einen oder anderen Form des rhetorischen Wissens? Doch bei Franz Werfel tritt hinzu, dass er sich dieser rhetorischen Sprechweise durchaus bewusst ist. So schreibt er etwa in dem Weltfreund-Gedicht An mein Pathos:

      „Darum lobe ich selbstgefällige Würde

      Meine erhabene, abendsgeübte Rhetorik.

      […]

      Und mich feit vor Selbstmord und üblen Gedanken

      Faltenwurf und Kothurn und tragisches Sprechen!“ (E, S. 97)3

      Der einzelne Vokal hat kulturgeschichtlichkulturgeschichtlich natürlich eine immense Bedeutung, dies erkannte schon Walter BenjaminBenjamin, Walter. Er schrieb in seinem Aufsatz ABC-Bücher vor hundert JahrenABC-Bücher vor hundert Jahren, der am 12. Dezember 1928 in der Beilage für die Frankfurter Zeitung mit dem Adressatinnentitel Für die Frau erschien, Folgendes über die Bedeutung von Buchstaben:

      „Kein Königspalast und kein Cottage eines Milliardärs hat ein Tausendstel der schmückenden Liebe erfahren, die im Laufe der Kulturgeschichte den Buchstaben zugewandt worden ist. Einmal aus Freude am Schönen und um sie zu ehren. Aber auch in listiger Absicht. Die Buchstaben sind ja die Säulen des Tores, über dem ganz gut geschrieben stehen könnte, was Dante über den Pforten der Hölle las, und da sollte ihre rauhe Urgestalt die vielen Kleinen, die alljährlich durch dieses Tor müssen, nicht abschrecken. Jeden einzelnen dieser Pilaster behing man also mit Girlanden und Arabesken.“4

      Erst die „europäische Aufklärung“5 entdeckte die BuchstabenBuchstaben als Kulturobjekt und entwickelte das Bewusstsein einer KulturgeschichteKulturgeschichte der Buchstaben. Benjamin weiter:

      „[…] Abordnungen aller A’s, B’s, C’s usw. erschienen, […]. Wenn Rousseau sagt, daß alle Souveränität vom Volk stammt, so bekunden diese Tafeln es laut und entschieden: ‚Der Geist der Buchstaben stammt aus den Sachen. Uns, unser So-und-Nicht-anders-Sein, haben wir in diesen Buchstaben ausgeprägt. Nicht wir sind ihre Vasallen, sondern sie sind nur unser lautgewordener gemeinsamer Wille‘.“6

      Das wohl bekannteste Gedicht über den o-Vokal in der deutschen Lyrikgeschichte ist Ernst JandlsJandl, Ernst ottos mopsottos mops (1970). Die Dichterin Friederike MayröckerMayröcker, Friederike schrieb 1976 über diesen Text:

      „Je öfter wir diesem Gedicht begegnen desto sicherer sind wir darüber daß hier immer von neuem eine Verwandlung sich vollzieht, die so wunderbar immer von neuem glückt wie kaum anderes das je in dieser Sprache geschrieben wurde. Nämlich: von der Liebe zum Vokal zur Wirklichkeit des Bilds; vom Glauben an das O zur Offenbarung Poesie.“7

      JandlsJandl, Ernst ottos mopsottos mops ist längst zu einem Klassiker der durchaus auch humorvollen experimentellen Lyrik geworden, der „eben aus dem Vokal o gebaut [ist]“8, es lautet folgendermaßen:

      „ottos mops trotzt

      otto: fort mops fort

      ottos mops hopst fort

      otto: soso

      otto holt koks

      otto holt obst

      otto horcht

      otto: mops mops

      otto hofft

      ottos mops klopft

      otto: komm mops komm

      ottos mops kommt

      ottos mops kotzt

      otto: ogottogott.“9

      1982 veröffentlichte MayröckerMayröcker, Friederike in ihrem Gedichtband Gute Nacht, guten MorgenGute Nacht, guten Morgen das Ende der 1970er-Jahre geschriebene Gedicht dieses trockene Gefühl von Schlaflosigkeitdieses trockene Gefühl von Schlaflosigkeit.10 Darin fädelt die Dichterin die disparaten Gedichtteile an einer ‚o‘-Vokalkette regelrecht auf. Begriffe wie Trockene, Schlaflosigkeit, violenfarben, Wohlbefinden, Kamelwolle, dorfmäszig, Poesie, pyromanisch, Gladiolen schaffen eine Lautkontinuität, die durch beziehungsreiche Vokal- und Diphthongassoziationen über kleinere Zeileneinheiten hinweg zusätzlich verstärkt wird. Mayröckers ‚violenfarbene Nächte‘ eröffnen den Blick auf ‚Nachtviolen‘, die sich wiederum als ein musik- und literaturgeschichtlicher Hinweis lesen lassen.11 Der Österreicher Johann MayrhoferMayrhofer, Johann (1787–1836), der als Zensor im Wiener k.u.k. (oder mit MusilsMusil, Robert Mann ohne EigenschaftenDer Mann ohne Eigenschaften gelesen: im kakanischen) Bücherrevisionsamt tätig war, veröffentlichte 1824 einen kleinen Lyrikband. Darin findet sich ein Gedicht mit dem Titel NachtviolenliedNachtviolenlied, dessen erste Strophe lautet:

      „Nachtviolen, Nachtviolen!

      Dunkle Augen, Seelenvolle,-

      Selig ist es sich vertiefen

      In das sammtne Blau.“12

      Entlang dieser nur selektiven Beobachtungen ließe sich durchaus eine kratylische Geschichte des ‚o‘-Vokals schreiben. Zu literarischen Ehren gelangte das große ‚O‘ in Paulin Reage’sReage, Paulin (das ist Anne DesclosDesclos, Anne) erotischem Bestsellerroman Die Geschichte der ODie Geschichte der O (fr. 1954). Hier ist „die O.“ eine anonymisierte Frau, die in sadomasochistischer Partnerschaft die diversen Stufen einer solchen Verdinglichung des weiblichen Körpers durchläuft. Zugleich ist der Vokal ‚o‘ aber auch Symbol des ewigen Kreislaufs des BegehrensBegehren. Die Verfilmung in der Regie von Just Jaeckin (1975) verhalf dem Roman zu großer Bekanntheit.

      Statt einen einzigen Vokal wie das ‚o‘ freizustellen, hervorzuheben und mit symbolischer Bedeutungsymbolische Bedeutung aufzuladen, gibt es in der LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte vereinzelte gegenteilige Versuche, wonach Vokale oder bestimmte BuchstabenBuchstaben konsequent aus einem fiktionalen Text getilgt werden, sie also in ernst gemeinter programmatischer, satirischer oder in aleatorisch-spielerischer Absicht weggelassen werden. Zu erinnern ist etwa an die 1788 erschienenen Gedichte ohne den Buchstaben RGedichte ohne den Buchstaben R von Gottlob Wilhelm BurmannBurmann, Gottlob Wilhelm (1737–1805). Doch erst der in der deutschsprachigen Literatur heute völlig vergessene Autor eines satirisch-aleatorischen Textes Friedrich Heinrich BotheBothe, Friedrich Heinrich (1771–1855) versucht erstmals konsequent in der Romanprosa


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