Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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Erste, welcher dafür zu halten schien, daß der Zweck meiner Reise, gewissermaassen eine Nationalangelegenheit wäre. Ich reisete nicht, wie ein Musikus gemeiniglich zu reisen pflegt, um Geld zu verdienen, sondern es zu verzehren, musikalische Talente und Verdienste aufzusuchen, wo ich solche nur finden konnte, um solche meinen Landsleuten bekannt zu machen. Herrn Schubart schien dieses einzuleuchten, und er gab sich alle mögliche Mühe, sowohl meine Ohren als meinen Wunsch zu vergnügen. Er ist von der Bachischen Schule; aber ein Enthusiast und ein Original von Genie. Viele von seinen Sachen sind in Holland gestochen, und sind voller Feuer und Geschmack. Auf dem Clavier spielte er mit grosser Feinheit und vielen Ausdruck. Seine Hand ist brillant, und seine Phantasie sehr reich. Er hat einen vollkommnen Doppeltriller in der Gewalt, wohin nur wenige Clavierspieler gelangen.

      Er war einige Zeit Organist zu Ulm, und hatte da ein schönes Orgelwerk unter Händen; hier aber hat er nur eine sehr erbärmliche. Da, wo er itzt hin verpflanzt ist, kennt man ihn wenig: die gemeinen Leute halten ihn für närrisch, und die übrigen bekümmern sich nicht um ihn.

      Wir theilten uns auf eine seltsame Art unsre Gedanken mit. Ich war noch nicht so weit in der Sprache gekommen, und auch zu ungeduldig, seine Ideen zu wissen, um im Deutschen mit ihm Schritt zu halten, und er sprach weder Französisch noch Italiänisch, konnte aber ziemlich Latein sprechen, weil er in der Jugend für die Kirche bestimmt war; und ich erstaunte darüber, wie schnell und leicht er alles im Latein ausdrücken konnte, was er wollte; bey ihm war es wirklich eine lebende Sprache. Ich gab ihm den Plan von meiner Geschichte der MusikMusik auf Deutsch, und er, um mich zu überzeugen, daß er recht gut meine Mein[u]ng verstünde, übersetzte ihn, da[s] ist, er las ihn mir auf der Stelle lateinisch vor. Meine Aussprache des Lateins, wenn ich auch gewohnt gewesen wäre, es zu sprechen: würde ihm nicht verständlich gewesen seyn. Allein da er Italiänisch verstund, ohne es gleichwohl sprechen zu können, so führten wir unsre Unt[e]rredung in zwo verschiedenen Sprachen, Lateinisch und Italiänisch. Die Fragen, die in einer Sprache gethan wurden, erhielten die Antwort in der andern. Auf diese Art waren wir den ganzen Tag über sehr gesprächig, während dessen er nicht allein vieles auf der Orgel, dem C[l]avecimbel, Pianoforte und Clavier spielte; sondern mir auch das Theater und alle Merkwürdigkeiten zu Ludewigsburg zeigte, und mir den Charakter aller Musiker am Hofe und in der Stadt aufschrieb. Und gegen Abend war er so gefällig, drey oder vier Bauren in seinem Hause zu versammlen, um solche Nationalmusik singen und spielen zu lassen, nach welcher ich ein grosses Verlangen bezeigt hatte.“76

      Im Register zum Buch wird SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel als „Organist zu Würtenberg“77 geführt. Schubart wird seit Januar 1777 gefangen gehalten, er hätte also einen Druck nicht begleiten können, in den Briefen finden sich keine Anhaltspunkte, dass er sich damit beschäftigte, zumindest sind keine entsprechenden Briefe überliefert. Andererseits kann man einwenden, dass Etwas von und über MusikEtwas von und über Musik fürs Jahr 1777 schon vor Januar 1777 im Manuskript abgeschlossen und der Kontakt zum Verlag der Eichenbergschen Erben in Frankfurt am Main hergestellt worden war.

      Und schließlich drittens: An einer anderen Textstelle spricht der Verfasser davon, „ich bin Papa“: „Laßts euch deswegen nicht verdriessen lieben Leute, wenn ihr, kaum daß ihr Dreßlers Theaterschule wieder in seinen locum aufm Bücherbrett verwiesen habt, gleich wieder ein raisonnirendes Werkchen (ich bin Papa – folglich kann ich dem Ding einen Namen geben wie ich will) in die Hände kriegt […]“78. Im metaphorischen Sinn kann das natürlich bedeuten, dass der anonyme Verfasser sich auf seine Text-Urheberschaft beruft. Versteht man die Textstelle hingegen buchstäblichbuchstäblich, hätte sich KrausKraus, Joseph Martin dadurch öffentlich zu einem unehelichen Kind bekannt – das ist sehr unwahrscheinlich. SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel hingegen war seit dem 10. Januar 1764 mit Helena SchubartSchubart, Helena (1744–1819) verheiratet, hatte eheliche Kinder (den Sohn Ludwig AlbrechtSchubart, Ludwig Albrecht (1765–1811) und die Tochter JulianaSchubart, Juliana (1767–1801) und, will man der Andeutung seines Sohnes folgen, auch zwei uneheliche Kinder, sein Vater „hatte zweimal die ganze Kraft seiner Constitution vonnöthen, um sich das galante Andenken vom Halse zu schaffen, womit sie [= „die großen und zum Theil schönen Damen“] ihn beehrten“79. Selbst das Verb „quaxen“80 im Sinne von ‚quaken‘, ‚unreflektiert daherreden‘, das am Ende des Textes offensichtlich als dialektaler Ausdruck Verwendung findet, kann keinen eindeutigen Beleg für die eine oder andere Zuschreibung bieten. Denn quaxen ist sowohl im süddeutschen Sprachraum nachgewiesen als auch im Nassauischen.81

      Was mich schließlich außer den sprachlichen, fachwissenschaftlichen und biografischen Auffälligkeiten sehr zu einer Zuschreibungsthese verleiten könnte, ist eine Bemerkung in der einzig nachweisbaren, äußerst kritischen Rezension dieser Musikschrift. In der Litteratur- und Theater-ZeitungLitteratur- und Theater-Zeitung vom 5. Juni 1779 ist zu lesen: „Wir könnten den Verfasser nennen, und ihn öffentlicher Verachtung Preis geben; weil er aber selbst für gut befunden, das Incognito zu behalten, läßt uns dies hoffen, er werde, so wie er näher an vierzig kömmt, gesetzter und vernünftiger werden, und die Sünden seiner Jugend bereuen; wozu der Himmel seinen Segen verleihen wolle.“82 Warum ruft der Rezensent das 40. Lebensjahr auf? KrausKraus, Joseph Martin ist Jahrgang 1756, im Jahr 1778 ist er also 22 Jahre jung, SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel hingegen wird am 24. März 1779 40 Jahre alt, steht also beim Erscheinen der Schrift in seinem 40. Lebensjahr. Um es noch einmal zu betonen: All das ist kein Beweis. Das Beispiel soll lediglich die schwierige Kategorie der Zuschreibung gerade auch im Falle Schubarts in Erinnerung rufen. Und dieser Aufgabe hat sich jede Schubart-Ausgabe zu stellen.

      Das zweite Beispiel, an dem die Denkfigur der Zuschreibung diskutiert werden kann, betrifft das Thema Politik und Revolution. Schubart wird eine Schrift zugeschrieben, die folgenden Titel hat: Das Wetterleuchten über Europa am Ende des Jahrhunderts gesehen im Jahr 1788Das Wetterleuchten über Europa. (Aus den Papieren eines verstorbenen Geistersehers.) Mit beyläufigen Anmerkungen und Zusätzen. Maltha und Cairo 1799. Daneben existiert noch eine text- und seitenidentische Ausgabe mit dem zusätzlichen Vorsatz- oder Titelblatt Die Todtenglocke der Europaeischen PolitikDie Todtenglocke der Europaeischen Politik. (Oder das Wetterleuchten über Europa.) 1788–1799.83 Dem Buch ist folgendes Motto vorangestellt: „Diese Schrift athmet Großsinn und Großgefühl. Kein Mann von Herz und Kopf wird sie ohne Nutzen lesen. Es ist ein elektrischer Funke, der aussprüet, um Licht um sich zu werfen; zu erhellen als Kometschein wo Nacht und eingewurzelte Vorurtheile thronen!“84 Im Einzelnen sind das größtenteils Nachdrucke von Schubarts journalistischen Arbeiten, mit kürzeren, verbindenden Kommentaren (von seinem Sohn LudwigSchubart, Ludwig Albrecht?), Goedeke nennt es „Zusammenstellung von politischen Artikeln aus der Vaterländ. Chronik 1788“85. Eine exakte Analyse steht noch aus. Die Entdeckung des Revolutionärs Schubart in der Rezeption beginnt also im Jahr 1799, vielleicht mit der Vermarktung seiner zur Revolutionspublizistik nobilitierten journalistischen Arbeiten der 1770er-Jahre. Darin finden sich Äußerungen wie „welch ein unerhörter Despotißmus auf uns ruhete, als die Revolution in Frankreich ausbrach“86. Die Handelsbeschränkungen und kleinstaatlichen Zollpraktiken – er spricht sogar von „Mauth-Terrorismus“ – seien „ein mächtiger Vorläufer zur Revolution“ gewesen.87 „Der Deutsche hat kein Vaterland mehr!“88 Über Europas Sittenzustand liest man: „Die Axt hat deine älteste Eichen gefällt; – Europa! und der Arm der Kultur hat deine Wälder gelichtet. Alles ist so neu, so verändert, so schwächlich, so gekünstelt! Von Eisrinden haben die Aufklärer einen Aufklärungstempel errichtet, darinn der Priester wie der Anbeter – fröstelt! Kurz, da sie sich für Weise hielten, sind sie alle zu Narren worden.“89 SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel urteilt eindeutig: „Seit vierhundert Jahren wächst der Despotismus in Europa, vornemlich in Deutschland!“90 Der Freiheitsbegriff Schubarts umfasst die religiöse Freiheit, die künstlerische Freiheit und die politische Freiheit. Sein Sohn schreibt, er „blieb der Sache der Freyheit […] unerschütterlich treu“91; „ein Hauptzug in seinem Bilde, war glühendes Freiheitsgefühl“92, so wird er charakterisiert. Den württembergischen HerzogKarl Eugen, Herzog von Württemberg nennt LudwigSchubart, Ludwig Albrecht übrigens ‚einen kleinen Despoten‘, der seinen Vater an größeren Entfaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten gehindert habe, andernfalls hätte Schubart „nicht blos rhapsodisch gearbeitet“ und nicht auf umfangreichere „Meisterwerke“ verzichtet.93 Und


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