Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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des Entdeckers – und Pädagogen“11 Schriften ediert habe. Dieses Urteil zielt in erster Linie auf die Edition der Schriften von LenzLenz, Jakob Michael Reinhold; die erzieherische Absicht Bleis hätte vor allem darin bestanden, der zeitgenössischen Literatur ihre historische Herkunft vor Augen zu halten. Dieses Urteil bedarf in zwei Punkten der Ergänzung. Einmal geht es BleiBlei, Franz in seinem antiquarischen Furor auch darum, die Geschichte einer deutschen Nationalliteratur kenntlich zu machen. Dies muss, bei aller Sympathie für Blei, kritisch festgehalten werden. Ich verweise in diesem Zusammenhang nur auf die kurze Vorbemerkung zu den Fünf SilhouettenFünf Silhouetten in einem Rahmen. Blei schreibt dort:

      „Ich habe […] auf Beziehungen zu weisen gesucht, die über das oft nur episodisch Bedeutsame einzelner hinausgehend in die neuere Zeit weisen und in dieser noch lebend wirken. […] Alles dieses sind Elemente des deutschen Schrifttum, die eine noch nicht verbrauchte Tradition zum Anfang brachten und bestimmten“12.

      Und im HeinseHeinse, Wilhelm-Porträt desselben Buches heißt es noch deutlicher:

      „Die Traditionen eigenen Stammesgefühls sind dem stämmereichen Deutschen unbekannt; so ist er allem Fremden ohne Widerstand zugänglich, ja verliert sich völlig in ihm, wenn er von der eigenen Scholle gelöst wird“13.

      Der zweite Punkt, an dem man jenes Urteil sinnvoll ergänzen kann, betrifft die bemängelte philologische Sorgfalt der Edition oder Editionen. Hier gilt es, für Bleis philologische Unschuld zu plädieren. Bei genauerem Hinsehen erweist sich seine Lenz-Ausgabe nämlich als ein Titanenwerk, das uns noch heute Respekt abverlangt. Und dabei hatte ebenfalls im Jahr 1909 eine editorische Parallelaktion begonnen. Ernst LewyLewy, Ernst startete seine Ausgabe Jakob Michael Reinhold Lenz: Gesammelte Schriften (4 Bände, Berlin: Paul Cassirer 1909), doch genügt diese in keiner Weise editionsphilologischen Mindestansprüchen. Zudem war seine Edition von vornherein als Liebhaber-Ausgabe konzipiert. Demgegenüber könnte man Bleis Ausgabe als den Versuch bezeichnen, den Autor Jakob Michael Reinhold Lenz aus dem Bann des wissenschaftlichen Fachzirkels herauszulösen und einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Immerhin war die erste, wenngleich wissenschaftlich völlig indiskutable, rezeptionsgeschichtlich gleichwohl bedeutende Edition Gesammelte Schriften von Jakob Michael R. Lenz (3 Bände, Berlin), von Ludwig TieckTieck, Ludwig herausgegeben, bereits 1828 erschienen. Und 1909 erschien schließlich auch die deutsche Übersetzung der russischen Lenz-Monografie von RosanowRosanow, Matvej N. (Leipzig 1909, 11901), ein bis heute wegen seiner Materialfülle unverzichtbares Buch.14

      Die Bandaufteilung von Bleis Lenz-Ausgabe sieht folgendermaßen aus: Band 1: Die Gedichte, Der Hofmeister, Anmerkungen übers Theater, Amor vincit omnia (München, Leipzig: Georg Müller 1909). Band 2: Die Lustspiele nach dem Plautus, Der neue Menoza (München, Leipzig: Georg Müller 1910. (Belegt ist auch eine Ausgabe von demselben Druckstock Berlin: Propyläen-Verlag 1920). Band 3: Dramen, dramatische Fragmente, Coriolan (München, Leipzig: Georg Müller 1910). Band 4: Schriften in Prosa, worunter die moralisch-theologischen Vorträge von Lenz und seine ästhetisch-philologischen Schriften zu rechnen sind (München, Leipzig: Georg Müller 1910). Band 5: Schriften in Prosa, im Unterschied zu Band 4 sind hier die fiktionalen Texte von Lenz enthalten, wie Zerbin oder die neuere Philosophie, Der Waldbruder, Der Landprediger und andere. Außerdem enthält der Band acht Briefe von und an Lenz sowie ein Regestenverzeichnis („alle Briefe von ihm, an ihn, über ihn“, Bd. 5, S. 395) mit Dokumenten (München, Leipzig: Georg Müller 1913). Das Versprechen einer in Aussicht gestellten Lenz-Bibliografie in Band 5 konnte Blei nicht einlösen.

      Auf den ersten Blick unterliegt die Korpusorganisation der Ausgabe einem gattungsdistinkten Gliederungsprinzip, doch messen schon die jeweiligen Bandtitel den einzelnen Lenz-Texten höchst unterschiedliche Bedeutung zu. Auch BleiBlei, Franz hielt es für gerechtfertigt, zahlreiche kleinere Arbeiten von LenzLenz, Jakob Michael Reinhold, die bis dahin noch nicht veröffentlicht worden waren und aus der Spätzeit des Sturm-und-Drang-DichtersSturm und Drang stammen, nicht zu drucken (vgl. Bd. 4, S. 398f.). Blei nennt diese Arbeiten „Paperasse“ (Bd. 4, S. 398) und begreift sie als Elaborate von Lenz’ spätem Wahnsinn.

      Blicken wir auf die immer noch maßgebliche heutige, gebräuchliche Lenz-Ausgabe von Sigrid Damm15, so muss festgestellt werden, dass Damm auf insgesamt 26 Einzeltexte – vorwiegend aus dem Spätwerk – verzichtet, welche die LenzLenz, Jakob Michael Reinhold-Ausgabe von BleiBlei, Franz bereits gebracht hatte. Es ist also nach wie vor unerlässlich, neben der Ausgabe von Sigrid Damm die Blei-Ausgabe zur Hand zu nehmen. Natürlich wollte Franz Blei keine historisch-kritische oder wenigstens textkritische Ausgabe der lenzschen Werke veranstalten. Insofern verwundert es auch nicht, dass er in den Lautstand eingriff, Orthografie und Interpunktion modernisierte und ihm dort, wo er erstmals Handschriften von Lenz veröffentlichte, auch kapitale Lesefehler unterliefen. Doch man sollte sich hüten, vorschnell den Stab über Blei zu brechen. Natürlich sind die Transkriptionsfehler von ‚Monstruum‘ für ‚Menstruum‘, von ‚herrlicherm Triebe‘ für ‚herrlicherm Leibe‘ usf. keine Bagatellen und natürlich ist es ärgerlich, wenn aus ‚Freiheit‘ ‚Feigheit‘ und aus ‚philosophisch‘ ‚philologisch‘ wird.16 Um ein besonders kritisches Beispiel anzuführen: Blei kompiliert die beiden handschriftlichen Fassungen der Literatursatire von Lenz mit dem Titel Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum, unterliegt dabei aber einem gravierenden Irrtum. Im Kommentar zur Druckvorlage schreibt er: „Die Stellen, welche nur die ältere Fassung des Pandämonium enthält sind in unserem Druck in eckige Klammern gesetzt“ (Bd. 3, S. 457). Tatsächlich druckt Blei aber in eckigen Klammern in seiner Pandämonium-Ausgabe Varianten nach der jüngeren Handschrift H2. Darüber hinaus ist die Wiedergabe der älteren Handschrift H1 gezeichnet von Lesefehlern und zweifelhaften orthografischen Modernisierungsversuchen. Ich möchte die Verdienste von Blei keinesfalls schmälern, doch hatte seine Edition des Pandämonium Germanikum zur Folge, dass einige Editoren nach ihm seine kodikologische Altersangabe einfach übernommen haben. Erst Titel und Haug (1966/67) und in deren Folge Damm (1987) druckten die tatsächlich ältere Handschrift, allerdings unterlaufen auch ihnen einige eklatante Transkriptionsfehler. Unverständlich bleibt nach wie vor, weshalb die meisten Editoren das Titelwort Germanikum stets mit ‚c‘ anstatt mit ‚k‘ schrieben, hätte doch eine Autopsie der Handschriften, die von zahlreichen Editoren in ihren Kommentaren zum Druck wortreich beschworen wurde, leicht aufweisen können, dass es hierüber keinerlei Unklarheit gibt. Germanikum wird von Lenz in H1 und H2 jeweils mit ‚k‘ geschrieben. Hier bildet Bleis Textwiedergabe beispielsweise die rühmliche Ausnahme. Ob es sich bei den angeführten Lesefehlern allerdings um typische Fehllesungen Bleis handelt, die auf seine „große Schludrigkeit“17 im Umgang mit den Texten zurückzuführen sind, ist doch eher zweifelhaft. Denn jeder, der sich mit Lenz-Handschriften beschäftigt hat, weiß, wie schwierig einzelne Texte und Textstellen gelegentlich zu lesen sind, wie oft der Schriftträger verderbt ist. Und Bleis Anspruch ist es nicht, eine kritische Edition zu liefern. Vielmehr besteht, wie er in seiner dreieinhalb Seiten umfassenden Einleitung schreibt, sein leitendes Interesse an einer Neuausgabe der Werke von Lenz in folgenden zwei Fragen:

      „Gab er [Lenz] dem Form, was ihn bewegte und bewegt er mich? Ist des Dichters Leidenschaft gewordenes Denken so, daß es auch mein Denken zur Leidenschaft entzündet? Für mich gebe ich Antwort auf diese Frage mit der neuen Herausgabe von des Dichters Schriften“ (Bd. 1, S. VIII).

      Abgesehen davon, dass diese Worte von für das Editionsgeschäft seltener erfrischender Sinnlichkeit sind, kann man Bleis Einleitung zu seiner Lenz-Ausgabe auch als einen Versuch der literarhistorischen Rehabilitierung dieses Autors verstehen. BleiBlei, Franz gibt zu bedenken, dass LenzLenz, Jakob Michael Reinhold im Schatten GoethesGoethe, Johann Wolfgang stand und unter der Fixierung der bürgerlichen Literaturgeschichtsschreibung auf die Höhenkammliteratur zu leiden hatte. Über Goethe schreibt er: „Was im Schatten dieses mächtigen Baumes wuchs, mußte von stärkerer Konstitution sein, als sie Lenz besaß“ (Bd. 1, S. VII). Die Literatur des Sturm und DrangSturm und Drang versteht Blei als Emanzipationsprodukt der aufsteigenden bürgerlichen „Klasse“ (Bd. 1, S. VI):

      „Von diesem Lenz will ein Stück nichts als die Nachteile der Privaterziehung, ein anderes die Notwendigkeit bestimmter Soldatenehen beweisen, ein drittes


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