Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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(Bothe) (1803) weist er zwar die Autorschaft des nachfolgend zitierten Textes zurück, doch ist diese Angabe mehr als zweifelhaft.13 Sein Kurzroman mit dem Titel Dadel didel dudel variiert in sechs Kapiteln nur diese drei Worte in ihrer Reihenfolge, jedes Kapitel enthält also lediglich diese drei Worte, so dass der Wortlaut der Varianzen insgesamt 18 Mal wiederkehrt.14 An den Roman schließt Bothe eine Selbstrezension an:

      „Obenstehender Roman des Herrn Dadel ist einer der besten, den wir in der sentimentalen Gattung haben. Welche höchst süße Variazionen des holden Ich! Aus jeder Zeile spricht der liebenswürdige Herr Dadel heraus! In jeder Zeile lebt ein Wohlklang, den nur die Hand eines solchen Meisters verleihen konnte. Die bewundernswerthe Ichheit (wenn wir so sagen dürfen) giebt dem Roman eine Einheit und Selbstständigkeit, die sich gewaschen haben. Was ihm dagegen an Mannichfaltigkeit fehlt, das ersetzt er durch Nachdruck.“15

      Darauf folgt ein Kapitel über die Nachahmer des Dadel-didel-dudel-Romans und über seine Rezension:

      „Der Nachahmer.

      D-d-l d-d-l d-d-l.

      Roman in Briefen.

      Erster Brief.

      Hans an Peter.

      Dadl didl dudl.

      Zweyter Brief.

      Peter an Hans.

      Didl dadl dudl.

      Dritter Brief.

      Hans an Greten.

      Dudl dadl didl.

      Vierter Brief.

      Grete an Hans.

      Dadl dudl didl.

      Fünfter Brief.

      Vetter Michel an Hans.

      Didl dudl dadl.

      Sechster Brief.

      Hans an Vetter Michel.

      Dudl didl dadl.

      Ende.“16

      Und auch dieses Nachahmungsgedicht rezensiert BotheBothe, Friedrich Heinrich selbst, wiederum satirisch:

      „Obiger Roman des Herrn Dadl gehört gleichfalls zu der sentimentalen Gattung. Beym ersten Anblick glaubt man einige Aehnlichkeit mit dem vorhin rezensirten Roman des Herrn Dadel zu sehn. Aber es ist bloßer Schein. Leute, wie Herr Dadl und Herr Dadel ahmen nicht nach. Will ja ein Starrkopf sich von der Idee nicht abbringen lassen, so wird er wenigstens zugeben, daß Herr Dadl Herrn Dadel bey weiten [!] an Präzision und nachdrücklicher Kürze übertrifft. Dadl didl dudl! Wie viel nachdrücklicher als Herrn Dadels Dadel didel dudel! Und dann die Familiengleichheit, die Wirheit, daß ich mich so ausdrücke, der schreibenden Personen! Wahrlich hier trifft das Sprichwort ein. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es wieder heraus. Oder: Wie du mir, so ich dir. Doch wir müssen uns mit Gewalt zurückhalten mehr über ein Werk zu sagen, über das man nie genug sagen kann.“17

      Einen umfänglicheren Versuch wagte im Jahr 1813 Franz RittlerRittler, Franz (1782–1837). Doch auch sein Roman ohne ‚r‘ mit dem Titel Die Zwillinge. Ein Versuch aus sechszig [!] aufgegebenen Worten einen Roman ohne R zu schreibenDie Zwillinge ist völlig in Vergessenheit geraten, immerhin galt das R, wie es in ShakespeareShakespeare, Williams Romeo and JulietRomeo and Juliet heißt, als „dog’s name“18, da es in der elisabethanischen Aussprache dem Knurren eines Hundes geähnelt haben soll. In der Nachschrift zum Roman bietet RittlerRittler, Franz an, einen „noch weit schwierigeren Versuch zu wagen, nähmlich in einem kleinen Romane ohne ABC, einen abermahligen Beweis der Biegsamkeit und Reichhaltigkeit unserer Muttersprache aufzustellen“19. Zu diesem leipogrammatischen Selbstversuch kam es allerdings nicht mehr. In jüngerer Zeit hat Judith W. TaschlerTaschler, Judith W. in ihrem Roman ohne URoman ohne U (Wien 2014) ganz auf den Vokal ‚u‘ verzichtet – zumindest als Titelmotiv. In der französischen Literatur finden diese Versuche in Georges PerecPerec, Georges einen krönenden und zugleich populären, vorläufigen Abschluss. Er veröffentlichte 1969 einen ‚Roman ohne e‘, La disparitionLa disparition.20 Das ‚e‘ gehört in der deutschen und der französischen Sprache zu den am häufigsten verwendeten Buchstaben.

      Anders sieht es bei der Verwendung von ‚o‘ und ‚oh‘ als Interjektionen aus. Wenn man heute Franz WerfelsWerfel, Franz frühe Gedichte liest, dann geschieht dies meist unter dem Aspekt expressionistischerExpressionismus Ausdruckskraft und Gestaltungsmöglichkeiten. Und in der Tat, den markanten Differenzpunkt in Werfels Lyrik zu finden zwischen expressionistischen Texten und der späteren Lyrik, ist durchaus problematisch. Welche Bedeutung hat es also, wenn Werfel in der Erstausgabe des WeltfreundsDer Weltfreund vorwiegend ‚o‘ gebraucht und diese Interjektion dann aber in der Ausgabe letzter Hand in ‚oh‘ umwandelt?

      Grammatisch gesehen handelt es sich bei dem ‚o‘ lediglich um eine sekundäre Interjektion oder um einen Vokativ. Auch das Deutsche WörterbuchDeutsches Wörterbuch der Brüder GrimmGrimm, WilhelmGrimm, Jacob hilft hier nicht weiter. Es verzeichnet jenseits der grammatischen Stellung und der sprachhistorischen Entwicklung unter „O!“ die Bemerkung, es sei eine „interjection des ausrufs der verschiedenartigsten affecte“, oder eine „interjection an ausrufe angehängt“.21 Außerdem sei „O! oh! oha!“ eine „interjection, zuruf an pferde und andere zugthiere stillzustehn“22. Im Allgemeinen gilt von Interjektionen Folgendes: Interjektionen dienen zum Ausdruck von inneren Befindlichkeiten, Gefühlen, Affekten. In der Grammatikografie wird ‚o‘ als Ausdruck der Verwunderung und ‚oh‘ als Ausdruck der Klage oder des Kummers beschrieben.23 Folgt man dem herkömmlichen sprachwissenschaftlichen Verständnis von Interjektion nach dem Handbuch der Lexikologie, so wird Interjektion folgendermaßen definiert: „Aufgrund ihrer semantischen Eigenschaften können Interjektionen in pragmatischer Hinsicht expressive (Ausdruck von Emotionen und Körperempfindungen des Sprechers), reaktive (Reaktionen auf Hörerhandlungen), appellative und darstellende Funktionen besitzen“24.

      In rhetorikgeschichtlicher Hinsicht ist für die Interjektion dies bedeutsam: „Erst von den lateinischen Grammatikern und Rhetorikern wird der Begriff I[nterjektion] als Bezeichnung einer lexikalischen Restkategorie eingeführt“25. Einen geschichtlichen Überblick über die Bedeutung der Interjektion als einem rhetorischen Stilmittel bietet das Historische Wörterbuch der Rhetorik.26 „‚Interiectio est pars orationis affectum animi significans‘. Die Interjektion ist ein Redeteil, der den Zustand der Seele, die Gemütsstimmung, das Gefühl – eben den Affekt bezeichnet“27. Interjektionen sind demnach das „Residuum der Emotionalität der Sprache“28.

      Demgegenüber macht die Linguistik die sprachliche Seite von Interjektionen geltend. Sie werden, wie andere Wortarten auch, erlernt und sind Ausdruck eines illokutiven Akts. Allerdings wird demgegenüber kritisch festgehalten, die Interjektion friste „in den Grammatiken des 20. Jhs. weiterhin nur ein Schattendasein, in dessen Halbdunkel sich kaum mehr als der Erkenntnisstand der Vor-Aufklärung präsentiert“29. Die Einsicht in den „dialogischen Charakter“30 der Interjektion sei über zwei Jahrtausende verstellt geblieben. Beim ‚o‘ unterscheidet man eine Kurzform und eine Langform, die Ausdruck von positiver Betroffenheit und diese wiederum Ausdruck von Bewunderung ist.31 Die Verwandtschaft mit dem grammatischen Vokativ ist allerdings noch zu erkennen.

      „Das o in der Anrede findet sich heute kaum noch. Sein Gebrauch ist auf feste Formeln beschränkt, die als stereotypisierte Wendungen insgesamt unter besonderer Bindung an feste Vorkommenskonstellationen eingesetzt werden, wie ‚Oh mein Gott!‘ u.ä. Es sind z.T. der religiösen Sprache entnommene, ihr aber vollständig entfremdete Ausdrucksverbindungen. Der vokativische Charakter der ganzen Formel ist mit der Lösung aus ihrem Ursprungszusammenhang verloren gegangen. Entsprechend kann der Gebrauch des oh als Teileinheit des Komplexausdrucks schwerlich als Beleg für vokativisches oh angesehen werden.

      Ansonsten gilt das vokativische oh als eine Form, die antiquiert ist. […]

      Dieses Schwinden des vokativischen oh erweist sich – beim Blick auf seine Geschichte – als Umkehrung der Einführung


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