Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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      Man kann resümieren, dass Bleis Lenz-Ausgabe „eine neue Phase der Lenz-Rezeption“18 eröffnet hat. Sie muss für alle Lenz-Interessierten und Lenz-Forscher zur Lektüre und zur Textarbeit immer noch herangezogen werden. Dies wird so lange der Fall sein, bis endlich die Forderung nach einer historisch-kritischen Lenz-Ausgabe eingelöst werden kann. In seinem Lenz-Essay von 1911 gelingt BleiBlei, Franz eine treffende poetische Charakterisierung des Dichters: „Er hatte keine Schale für sein Feuer, mußte es in den Händen tragen und verbrannte sie“19. Und im Bestiarium einige Jahre später schreibt er über die aufgeklärte Gesellschaft, die dem künstlerischen Individuum misstraue, es domestiziere, „weil sie die ausbrechende Bestie seiner unberechenbaren Phantasie fürchtet“20. Blei betont, dass dieser „Konservativismus“21 nicht Ausdruck des Künstlers selbst sei und führt folgende Beispiele an:

      „Man denke an Christian GüntherGünther, Christian, der sich in keinerlei schlesische Dichterschule finden konnte und um seines Gedichtes willen lieber verreckte, statt als Stadtschreiber überflüssige Reimereien zu verfertigen. Man erinnere sich an Lenz – aber mit der Figur dieses sich auflehnenden Hofmeisters sind wir schon in einer wesentlich anders gerichteten Zeit: Eine neue Ethik des Künstlers hebt an, profitierend vom religiösen Zusammenbruch der Zeit und der wirtschaftlichen Neugestaltung der Gesellschaft: es beginnt die Literatur“22.

      Blei begreift diese Zeit als Krisenzeit, deren Autor Lenz die Zerfallssymptome klar erkennt und beschreibt. „Die kapitalistische Welt kann eine Literatur, aber sie kann keine Dichtung haben“23, wie es im achten Exkurs des BestiariumsBestiarium geheißen hatte. Mit seiner LenzLenz, Jakob Michael Reinhold-Ausgabe hat Franz Blei dem Dichter jedenfalls ein Denkmal gesetzt und dafür gesorgt, dass die bürgerliche Literaturgeschichtsschreibung24 seiner Zeit nicht länger einen der bedeutendsten Autoren des Sturm und DrangSturm und Drang ignorieren konnte. Der Prozess der Rehabilitierung von Jakob Michael Reinhold Lenz hatte begonnen.

      Robert Musil: Ein Essayfragment

      Bei dem Textfragment Gut und glückselig?Gut und glückselig? von Robert MusilMusil, Robert (1880–1942) handelt es sich vordergründig um den Entwurf zu einer Rezension des Buches Das GuteDas Gute (1926) von Paul HäberlinHäberlin, Paul (1878–1960); der Text befindet sich im Nachlass Robert Musils, eine Publikation erfolgte erst 1987. Auch war unbekannt, dass Musil mit der Philosophie Häberlins vertraut war. Das Textfragment umfasst insgesamt sechs handbeschriebene Blätter, mit etlichen Marginalien und Korrekturen versehen. Der genaue Fundort ist als Nachlassmappe I/6, 119–125, dokumentiert. Auf der ersten Seite des Fragments befinden sich im ersten Drittel des Blattes einige Bemerkungen zum Humanismus. Vermutlich ist dieser kleine Textabschnitt Kommentar zu einer Lektüre Musils aus den zwanziger Jahren. Denn mit der gleichen Handschrift, durch einen Horizontalstrich über das ganze Blatt vom ersten Text abgesetzt, beginnt der Rezensionsentwurf. Da Häberlins Buch Das Gute 1926 erschienen ist und Musil seinen Text mit den Worten beginnt: „Es ist mir vor einem Jahr ein Buch gegeben worden“, kann folglich dieser Entwurf zu einer Rezension frühestens 1927 geschrieben worden sein. Der Text bricht nach Besprechung des Kapitels II. 4 mit dem Titel Fortschrittsethik am Ende des zweiten Teils von Häberlins Buch ab. Die Vermutung liegt nahe, dass Musil die weitere Lektüre oder zumindest seinen eigenen Text nicht mehr fortsetzte aufgrund anderer Arbeiten. In diese Zeit fällt die Textgestaltung des ersten Bandes seines Epochenromans Der Mann ohne EigenschaftenDer Mann ohne Eigenschaften.

      Für die Arbeitsweise Musils ist bezeichnend, dass er von einem gegebenen Text aus – in diesem Falle Häberlins Buch – zunächst einmal seine eigenen Gedanken zum Thema entwickelt und dann erst zum Referenztext zurückkehrt. So beziehen sich ausschließlich auf Häberlins Buch lediglich die letzten drei Seiten des Essayfragments. Ob dieses Fragment vielleicht als Besprechung für eine Tages- oder Wochenzeitung oder Zeitschrift gedacht war, konnte nicht ermittelt werden. Hingegen scheint die Annahme überzeugender zu sein, dass es sich bei dem vorliegenden Textfragment um ein Essayfragment handelt, wobei Musil den konkreten Anlass einer Buchbesprechung als Ausgang für einen eigenen, größeren Essay nahm. Ähnlich ging Musil etwa auch 1921 vor in seinem Essay Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sindGeist und Erfahrung, der im März 1921 in Der Neue MerkurDer Neue Merkur erschienen ist. Für das Phänomen des fließenden Übergangs zwischen Rezension und Essay ist eine Äußerung Musils charakteristisch. Am 10. Dezember 1924 schreibt er an Ephraim FrischFrisch, Ephraim (1873–1942) unter Bezug auf seine Besprechung des Buches Der sichtbare MenschDer sichtbare Mensch von Béla BalázsBalázs, Béla (1884–1949): „ Ich hatte eine Rezension von Balázs’ wirklich außerordentlich interessanter […] Filmdramaturgie ‚Der sichtbare Mensch‘ versprochen, aber unter der Arbeit ist mir ein Essay daraus geworden, der nur noch dem Vorwand nach eine Besprechung ist und in Wirklichkeit eine Abhandlung wichtiger Kunstfragen“1. Mit dem Begriff des Textfragments soll lediglich angezeigt werden, dass es offen bleiben muss, ob es sich nun um ein Essayfragment oder um eine nicht fertiggestellte und liegen gebliebene Rezension handelt.

      „Die Philosophie Häberlins ist vermutlich die einzige dieses Jahrhunderts, die das kühne Wagnis einer Seinslehre auf rein apriorischer Basis unter vollkommenem Verzicht auf Verwendung empirischer Daten und empirischer Generalisationen unternimmt“2. Was angesichts dieser Feststellung befremden mag, ist die Tatsache, dass gerade ein Denker wie Robert MusilMusil, Robert sich mit HäberlinsHäberlin, Paul Philosophie auseinandersetzt. Dies erhellt sich, wenn man die Denkhaltung Häberlins wie diejenige von Musil unter dem vom Text vorgegebenen Aspekt der Dialektik von Ethik und ÄsthetikÄsthetik betrachtet, ohne dabei dem Missverständnis, man müsse Abhängigkeiten nachweisen und Einflüsse feststellen, Platz einzuräumen. Die Verflechtung von Ethik und Ästhetik äußert sich bei Häberlin wie auch bei Musil als Untrennbarkeit. Was dennoch geschieden wird, wird künstlich geschieden, wird als Einheit gebrochen und klafft als Bruch, anstelle von Ästhetik als Nur-Literatur, anstelle von Ethik als Nur-Moral. Denn die „Qualitas“ (Häberlin) oder die „Eigenart“ (Musil) der Dichtung bestimmen beide Denker als das Ineinanderfallen von Ästhetik und Ethik. Spricht Häberlin von der leitenden Idee der KulturKultur als einer „Idee des richtigen Lebens“3, so entspricht dies Musils Vorstellung, „daß nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens“4. Und wird die Richtigkeit als Eindeutigkeit von Häberlin verstanden, gipfelnd in der Formulierung: „richtiges Leben ist eindeutiges Leben“5, so bricht sich darin Musils Forderung nach jener „Utopie der Exaktheit“6, die die Moral als doppelbödig entlarvt und den Menschen wieder auf das tieferliegende Fundament des ethischen Verhaltens setzt. Indem diese Utopie der Moral die Forderung der Exaktheit stellt, gewinnt sie in ihrem Verlust Ethik zurück. Diese Landgewinnung im ortlosen Raum, also in der Utopie, fasst HäberlinHäberlin, Paul begrifflich als ethisches und ästhetisches Prinzip.

      Bei MusilMusil, Robert wird schon in sehr frühen Notizen (ca. 1904/05) – sie finden sich im Nachlass unmittelbar vor diesem Essayfragment zu Häberlin – deutlich, dass er um eine Antwort auf die Frage nach dem Wert und Unwert von Dichtkunst ringt, dass er das Ethos von der Moral scheidet und dass er darüber philosophiert, wie sich das Ethische in der Dichtkunst überhaupt ästhetisch gestalten und darstellen lässt. Was Häberlin als das „Heimweh nach der Einheit des Seins“7 bezeichnet, jenes ursprüngliche und einzige Problem der Philosophie, wie richtiges Leben möglich sei,8 bestimmt Musil als Aufgabe der Dichtung: „Prototypen von Geschehensabläufen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann“9. Er definiert das Gebiet der Dichtung als das „der ethischen und ästhetischen Beziehungen, das Gebiet der Idee“10. Die „Formel der Erfahrung“11 muss gesprengt werden, um überhaupt zur Erkenntnis jenes anderen Menschseins vorstoßen zu können.

      Auch bei Häberlin werden Erkenntnis und Erlebnis so miteinander verwoben, dass sich nicht das eine gegen das andere ausgespielt wird, sondern Erkenntnis eine Art von Erlebnis, Erlebnis eine Art von Erkenntnis ist und beide nur in der Arbeit am Begriff miteinander verbunden werden können. Häberlin setzt dies auf die Weise ins Werk, dass er die Philosophie als grundsätzlich apriorische gegen die Wissenschaft abgrenzt, die bei ihm stets empirische Wissenschaft bedeutet und der Philosophie diese Arbeit am Begriff zuweist. Musil hingegen grenzt die Dichtung gegen die Wissenschaft ab und stellt dabei das Apriorische als mögliches Empirem dar.


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