Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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Omega drei Mal in der gotischen Bibelübersetzung, der sogenannten Wulfilabibel aus dem vierten Jahrhundert, deren Vorlage der griechische Text war, auf. Im Althochdeutschen kommt es gar nicht vor. Erst ab 1125 ist es wieder im Mittelhochdeutschen belegt. Ab dem 14. Jahrhundert wird es vermehrt auch in weltlichen Texten gebraucht. Diese interiectio admiratio liegt wohl, wenn man dies etwas verallgemeinert, in den meisten Fällen eines ‚o‘-Gebrauchs vor.33

      WerfelsWerfel, Franz Lyrik ist vor allem vor dem Hintergrund bekannt, dass er ein wichtiger Beiträger für Kurt PinthusPinthus, Kurt’ expressionistischeExpressionismus Lyrikanthologie MenschheitsdämmerungMenschheitsdämmerung (1920) gewesen ist. Immerhin ist der Autor darin mit insgesamt 27 einzelnen Gedichten vertreten, vier davon stammen aus dem WeltfreundDer Weltfreund. Im Einzelnen sind dies Der dicke Mann im Spiegel (vgl. E, S. 21), Der schöne strahlende Mensch (vgl. E, S. 87), Ich habe eine gute Tat getan (vgl. E, S. 105) und An den Leser (vgl. E, S. 110). Die Auswahl traf der Herausgeber Pinthus. In den biografisch-bibliografischen Angaben zum Autor Werfel, die ebenfalls der Herausgeber Pinthus zusammengestellt hat, schreibt er, er habe im Lektorat des Kurt Wolff-Verlags 1912 in Leipzig zusammen mit Werfel und Walter HasencleverHasenclever, Walter „ein Sammelzentrum“ gebildet, „wo viele junge Autoren der expressionistischen Generation und ihr nahestehende ältere Dichter freundschaftliche Aufnahme und Förderung fanden“34. In seiner Einleitung verleiht Pinthus seiner Freude darüber Ausdruck, dass Werfel und DäublerDäubler, Theodor, Lasker-SchülerLasker-Schüler, Else, HeymHeym, Georg, TraklTrakl, Georg, StadlerStadler, Ernst, BennBenn, Gottfried und GollGoll, Ivan „sozusagen zu expressionistischen Klassikern aufgerückt sind, die man verehrt und studiert“35.

      Die Bedeutung Werfels für den Prager Kreis ist bei weitem noch nicht genügend erhellt. Franz KafkaKafka, Franz beispielsweise ist von Werfels ersten Gedichten mehr als beeindruckt. Er notiert am 23. Dezember 1911 anerkennend in sein Tagebuch: „Durch Werfels Gedichte hatte ich den ganzen gestrigen Vormittag den Kopf wie von Dampf erfüllt. Einen Augenblick fürchtete ich, die Begeisterung werde mich ohne Aufenthalt bis in den Unsinn mit fortreißen“36. Kafka spürte, welch epochale Wirkung dieses neue lyrische Sprechen hatte. Ähnlich schreibt er auch in einem Brief an Felice BauerBauer, Felice vom 12. Dezember 1912: „Weißt du, Felice, Werfel ist tatsächlich ein Wunder; als ich sein Buch Der WeltfreundDer Weltfreund zum ersten Mal las (ich hatte ihn schon früher Gedichte vortragen hören), dachte ich, die Begeisterung für ihn werde mich bis zum Unsinn fortreißen. Der Mensch kann Ungeheueres“.37 Und wenige Wochen später, am 1./2. Februar 1913, liest man:

      „Werfel hat mir neue Gedichte vorgelesen, die wieder zweifellos aus einer ungeheueren Natur herkommen. Wie ein solches Gedicht, den ihm eingeborenen Schluß in seinem Anfang tragend, sich erhebt, mit einer ununterbrochenen, inneren, strömenden Entwicklung – wie reißt man da, auf dem Kanapee zusammengekrümmt, die Augen auf!“38

      Später, im Dezember 1922, wird KafkaKafka, Franz an WerfelWerfel, Franz schreiben, dieser sei ein „Führer der Generation“39.

      Auch Rainer Maria RilkeRilke, Rainer Maria hält in einer Fußnote zu Beginn seines Aufsatzes Über den jungen DichterÜber den jungen Dichter, der mutmaßlich im Sommer 1913 geschrieben, aber erst 1931 veröffentlicht wurde, fest: „Für den Verfasser war die vielfach beglückende Beschäftigung mit den Gedichten Franz Werfels gewissermaßen die Voraussetzung zu diesem Aufsatz. Es sei daher auf Werfels beide Bände Gedichte (Der Weltfreund und Wir sind) an dieser Stelle hingewiesen“40. Es ist sicherlich zutreffend, von „Rilkes admiration“41 zu sprechen.

      Hohe literarische Ehren wurden Franz WerfelWerfel, Franz in Robert MusilsMusil, Robert Epochenroman Der Mann ohne EigenschaftenDer Mann ohne Eigenschaften (1930/1932)42 zuteil. Darin wird eine Dichterlesung geschildert, die ein gewisser Friedel Feuermaul alias Franz Werfel abhält.43 MusilMusil, Robert scheint Werfels frühe Gedichtbände gekannt und ihnen einigermaßen wohlwollend gegenübergestanden zu haben. Genau zu belegen ist das allerdings nicht.44 Nach dem Ersten Weltkrieg ging Musil aber zunehmend auf Distanz zu Werfel und die anfängliche Wertschätzung wich einer kritischen bis ironischen Betrachtung. Das gipfelt in Musils bemerkenswerter Formulierung im Tagebuch vom Februar 1930 (Tagebuchheft 31), in der sich eine Mischung aus Neid, Angst, Idiosynkrasie und Überheblichkeit und zugleich eine tiefe Frustration ausdrückt: „Meine Schwierigkeit: Was habe gerade ich in einer Welt zu bestellen, in der ein Werfel Ausleger findet!“45 Allerdings ist dieser Ausruf in erster Linie eine impulsive Reaktion – also eine Art langgezogene Affektinterjektion ‚oh!‘ – auf das Huldigungsbuch Franz Werfel. Versuch einer ZeitspiegelungFranz Werfel. Versuch einer Zeitspiegelung (Wien 1926) von Peter Stephan JungkJungk, Peter Stephan. Und Musils Notiz ist vergleichsweise harmlos, verglichen mit Thomas MannsMann, Thomas entsetzlicher Bemerkung in seinem Tagebucheintrag vom 1. September 1933 anlässlich von Theodor LessingsLessing, Theodor (1872–1933) Ermordung durch die Nazis: „Mir graust vor einem solchen Ende, nicht weil es das Ende, sondern weil es so elend ist und einem Lessing anstehen mag, aber nicht mir“46. Eine erste persönliche Begegnung zwischen Werfel und Musil fand vermutlich im Frühjahr 1918 im Kriegspressequartier in Wien statt, für das beide als Soldaten arbeiteten. Dort traf er auch mit Franz BleiBlei, Franz und Paris GüterslohGütersloh, Paris zusammen. Diese beiden und Werfel hielt Musil für „die einzigen Köpfe im KPQ. Sie werden nun als der Abhub hingestellt“47, wie er im Tagebuch beklagt.

      Musil rezensierte die Wiener Premieren der beiden Werfel-Stücke BocksgesangBocksgesang (1921)48, dessen Uraufführung im Wiener Raimundtheater am 15. März 1922 erfolgte, und Spiegelmensch. Magische TrilogieSpiegelmensch (1920)49, die Erstaufführung fand im Wiener Burgtheater am 26. April 1922 statt. Am 15. März 1922 (und nicht am 26. April 1922!)50 distanziert sich Musil im literarischen Feld der Zeit von WerfelWerfel, Franz. Er veröffentlicht seine Theaterkritik des SpiegelmenschenSpiegelmensch und nutzt den Begriff des SymbolsSymbol, um das Undichterische an Werfels Stück BocksgesangBocksgesang zu kritisieren: „Der SinnSinn, der im Gestalteten nicht steckt, muss im Mitgestalteten stecken. Um es kurz zu sagen, das Spiel muß ein Symbol sein. Denn Symbol ist etwas, durch das der unausgesprochene Sinn elementar mitgestaltet wird; wogegen Allegorie bloß eine Anspielung auf bekannte Gestalten wäre […]“51. Werfels Stück erschöpfe sich im Opernlibrettohaften und erreiche die Tiefe des Symbolischen nicht. Es ist offensichtlich, dass MusilMusil, Robert hier normativ verfährt, möglicherweise hielt er seine Darlegung für das Beispiel eines deskriptiven Diskurses. Das macht auch folgendes Zitat aus derselben Theaterkritik deutlich: „Denn Sich-hineinversetzen ist die eine Hälfte der Dichtung, die andere Hälfte ist das Gegenteil: In sich hineinversetzen, Wille, Sinngebung. […] Es beginnt die Deutung“52. Und weiter schreibt er: „Werfel führt seit Jahren einen energischen Kampf um vertiefte Bedeutung; er führt ihn meiner Ansicht nach zu klug, zu wenig gegen sich selbst […]“53. Von dem Literaturwissenschaftler Wolfdietrich Rasch ist ein Gespräch aus dem Jahr 1932 mit Musil überliefert, worin er Folgendes über WerfelWerfel, Franz gesagt haben soll: „Von Werfel sprach er des öfteren, bestätigte auch, daß er mit dem Dichter Feuermaul in seinem Roman gemeint sei. Werfel hatte für Musil die Bedeutung eines Gegenbildes. Er gab gelegentlich zu, daß er ihm persönlich vielleicht nie gerecht werden mochte, aber er sei eben für ihn ‚nicht glaubwürdig‘, Beispiel eines talentvollen und doch unechten Dichtertums […]“54.

      Den einzelnen Filiationen zwischen Musil und Werfel nachzugehen, ist hier nicht der Ort.55 Allerdings ist die literarische Figur des Friedel Feuermaul in Musils Roman Der Mann ohne EigenschaftenDer Mann ohne Eigenschaften eine unmittelbare Reaktion des Schriftstellerkollegen auf den Lyriker, der mit seinen WeltfreundDer Weltfreund-Gedichten den Boden für expressionistischesExpressionismus Pathos bereitet hat. Musil kann es nicht lassen, darauf in der genannten Mischung aus Neid, Missgunst, Arroganz und heller Analyse zu reagieren und den Dichter Feuermaul als Alter Ego von Franz Werfel in seinem Roman zu positionieren. Die entsprechenden Feuermaul-Kapitel erscheinen 1932. Darin lässt er Ulrich sagen, Feuermaul sei „begabt, jung, unfertig“56, sein Erfolg würde ihn verderben. Auf der anderen Seite ist Friedel Feuermaul alias Franz WerfelWerfel, Franz im Mann ohne EigenschaftenDer Mann ohne Eigenschaften gerade jene Person, durch die ‚die krönende Idee‘ der Parallelaktion in Diotimas Salon gefunden wird. Der Dichter Feuermaul wird durch eine Frau Drangsal protegiert. Als General Stumm von Bordwehr Ulrich


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