Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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Feuermaul „ist der, der sagt: der Mensch ist gut. […] Frau Professor Drangsal protegiert halt die These, daß der Mensch gut ist, und man sagt, das sei eine europäische These, und Feuermaul soll eine große Zukunft haben“57. Diotima wird diese europäische These wenig später als „Mode“58 bezeichnen. Feuermaul habe manchmal „schöne Einfälle, aber er kann nicht zehn Minuten warten, ohne einen Unsinn zu sagen“59. In zehn Jahren sei Feuermaul aber eine internationale Größe. Dieses 36. Kapitel des Romans beleuchtet die Figur Feuermaul aus unterschiedlichen Perspektiven, aber stets unvorteilhaft. So sauge er etwa mit der Gier eines Kalbes, das mit der Schnauze an den mütterlichen Euter stoße, an seiner Zigarre. ‚Der Mensch sei gut‘ sei eine „ewige Wahrheit“60, sagt Feuermaul selbst; von Tuzzi wird er als ein „Erzpazifist“61 verdächtigt; Hans Sepp nennt ihn einen „Streber“62, auf den die Menschen hereingefallen seien. Und im 37. Kapitel wird ihm ironisch zwar konzediert, er sei kein Schmeichler, habe aber „nur zeitgemäße Einfälle am rechten Platz“63 und letztlich rede er den Menschen doch nach dem Mund. Man hat zu Recht die Figur des Friedel Feuermaul nicht als eine literarische Randfigur gelesen, sondern ins Zentrum einer Textanalyse gerückt und sie als SymbolSymbol des Missverhältnisses von Politik und Literatur im Roman gewertet.64 Feuermaul-Werfel sei Symbol jener Bewegung, „die alle Krisen der Gesellschaft im Medium der ‚Kultur‘ zu überwinden sucht“65, er sei die „symbolische Gestaltung der Gesellschaftskrise im Kulturellen“66.

      Eine knappe statarische Lektüre der WeltfreundDer Weltfreund-Gedichte ergibt folgendes Bild der Fakten. Ab 1909 veröffentlicht WerfelWerfel, Franz Gedichte. Es folgt ein einjähriger Militärdienst. Ab Oktober 1912 ist er als Lektor im Kurt Wolff-Verlag Leipzig tätig. Werfels erster Gedichtband Der Weltfreund, dessen Handschrift im Schiller Nationalmuseum Marbach a.N. liegt, erscheint im Dezember 1911 im Verlag von Axel Juncker in Berlin-Charlottenburg. Dieser Verlag bot jungen Lyrikern und Lyrikerinnen wie Else Lasker-SchülerLasker-Schüler, Else mit StyxStyx (1901) eine Plattform zum Debüt. Unter anderem sind auch Rainer Maria RilkeRilke, Rainer Maria mit dem Band Das Buch der BilderDas Buch der Bilder (1902), Johannes SchlafSchlaf, Johannes mit Das SommerliedDas Sommerlied (1905), René SchickeleSchickele, René mit Der Ritt ins LebenDer Ritt ins Leben (1906), Max BrodBrod, Max mit Der Weg des VerliebtenDer Weg des Verliebten (1907) und Tagebuch in VersenTagebuch in Versen (1910) und Max MellMell, Max mit Das bekränzte JahrDas bekränzte Jahr (1911) vertreten.

      Insgesamt enthält Werfels Weltfreund 116 Seiten. Eine zweite Auflage wurde 1912 gedruckt. 1920 war es bereits die vierte Auflage mit bis dahin neun bis 13 Tausend Stück. Das lyrische Debüt war ein „außerordentliche[r] Erfolg“67. Es muss offen bleiben, ob Werfels Titel Der WeltfreundDer Weltfreund eine Replik auf den WeltfeindWeltfeind von Karl KrausKraus, Karl darstellt.68 Einzelne Gedichte sind bereits in den Jahren ab 1908 entstanden und wurden kurz zuvor in literarischen Zeitschriften vorabgedruckt, u.a. in der FackelDie Fackel von Karl Kraus im April, Juli und Dezember 1911.69 Den Einfluss insgesamt von Walt WhitmanWhitman, Walt (1819–1892) sinnvoll nachzuweisen, bleibt problematisch.70 Eher in den Sinn kommt hier dessen Gedicht O Captain! My Captain!O Captain! My Captain!71 Und ob der WeltfreundDer Weltfreund tatsächlich als ein Zyklus verstanden werden kann, darf bezweifelt werden.72 Werfel betreut im Verlag die expressionistischeExpressionismus Zeitschrift Der jüngste TagDer jüngste Tag mit.73 Der Gedichtband Der WeltfreundDer Weltfreund erscheint im Dezember 1911, „gleichsam über Nacht war der junge Sohn eines Handschuhfabrikanten aus Prag zu einem der meistgenannten Lyriker deutscher Sprache geworden“74. Die weiteren Gedichtbände heißen Wir sindWir sind (Leipzig 1913), EinanderEinander (Leipzig 1915), Der GerichtstagDer Gerichtstag (München 1919), BeschwörungenBeschwörungen (München 1923), GedichteGedichte (Franz Werfel) (Berlin, Wien, Leipzig 1927) und Schlaf und ErwachenSchlaf und Erwachen (Berlin, Wien, Leipzig 1935).

      Für WerfelsWerfel, Franz Lyrik wird oftmals ein messianischer Grundton in Anspruch genommen. Das gilt sicherlich nicht für den Weltfreund, worin sich kaum Gedichte mit religiösen, jüdisch-christlichen Bezügen und einer explizit religiösen Semantik finden. So stelle beispielsweise in dem Gedicht Jesus und der Äser-Weg (1913) „eine äußerste Steigerung, ja Übersteigerung der von Baudelaire wie von Nisami thematisierten Konfrontation mit dem Widerwärtigen [dar] und wird vollends zur ästhetischen Zumutung – die allerdings in RilkeRilke, Rainer Maria einen entschiedenen Verteidiger fand“75. Natürlich verleiht die Analogie zwischen Christus als dem Messias und dem messianisch auftretenden Dichter vielen expressionistischen Gedichten (wie auch den Autoren in ihrem Selbstverständnis) ein messianisches Profil. Ob man aber den „forciertesten Ausdruck“76 hiervon bei Franz Werfel, genauer in den Gedichten des Bandes Der Weltfreund (1911) findet, darf bezweifelt werden. Im Gedicht Ich bin ja noch ein Kind erhebe Werfel sogar einen „heilsgeschichtlichen Anspruch“, „der Dichter will […] ein anderer Mose sein“.77

      Betrachten wir den Wechsel von ‚o‘ zu ‚oh‘ bei WerfelsWerfel, Franz Auswahl für die Gedichtausgabe letzter Hand von 1946, dann betrifft das bei den sieben übernommenen Gedichten nur das Gedicht An den LeserAn den Leser. Dieser Text ist die Initialzündung für das, was als O-Mensch-Pathos im Sinne einer identifikatorischen Formel des ExpressionismusExpressionismus in die Wissenschaft eingegangen ist. Ihr inszenatorischer Anteil wird dabei nicht übersehen. Es stellt sich aber angesichts der Bearbeitung durch Werfel selbst die Frage: wird das ‚o‘ zum ‚oh‘? Im Erstdruck von 1911 hat es folgenden Wortlaut:

      „Mein einziger Wunsch ist, Dir, o Mensch, verwandt zu sein!

      Bist du Neger, Akrobat, oder ruhst du noch in tiefer Mutterhut,

      Klingt Dein Mädchenlied über den Hof, lenkst Du Dein Floß im Abendschein,

      Bist Du Soldat, oder Aviatiker voll Ausdauer und Mut.

      Trugst Du als Kind auch ein Gewehr in grüner Armschlinge?

      Wenn es losging, entflog ein angebundener Stöpsel dem Lauf.

      Mein Mensch, wenn ich Erinnerung singe,

      Sei nicht hart und löse Dich mit mir in Tränen auf!

      Denn ich habe alle Schicksale durchgemacht. Ich weiß

      Das Gefühl von einsamen Harfenistinnen in Kurkapellen,

      Das Gefühl von schüchternen Gouvernanten im fremden Familienkreis,

      Das Gefühl von Debutanten, die sich zitternd vor den Soufleurkasten [!] stellen.

      Ich lebte im Walde, hatte ein Bahnhofamt,

      Saß gebeugt über Kassabücher und bediente ungeduldige Gäste.

      Als Heizer stand ich vor Kesseln, das Antlitz grell überflammt

      Und als Kuli aß ich Abfall und Küchenreste.

      So gehöre ich Dir und Allen!

      Wolle mir, bitte, nicht widerstehn!

      O, könnte es einmal geschehn,

      Daß wir uns, Bruder, in die Arme fallen!“ (E, S. 110f.)

      In der Ausgabe letzter Hand von 1946 ändert WerfelWerfel, Franz die Interjektion und nun heißen die entsprechenden Verse 1 und 19: „Mein einziger Wunsch ist, Dir, oh Mensch, verwandt zu sein!“, und: „Oh, könnte es einmal geschehn“ (G, S. 17).78 Im Erstdruck schließt sich an das Gedicht An den LeserAn den Leser noch dieses an: An den Leser in der Nacht, womit Werfel seinen Gedichtband Der WeltfreundDer Weltfreund beschließt. Auch darin taucht die Formel „O Mensch, ich bin dir gut!“ (E, S. 112) auf, allerdings übernimmt der Autor den Text nicht in seine letzte Gedichtausgabe. Galt das ursprüngliche ‚o‘ in Werfels ersten Gedichten noch als meist admirativer Auf- und Ausruf, so wird es in der Fassung letzter Hand von 1946 zu einem Klagelaut ‚oh‘.

      An den Leser ist ein „exemplarischer Beleg für einen dominanten Effekt der rhetorischen Verwendung des Wortes“79. Auf dieses Gedicht, und damit auf Werfel, soll also das O-Mensch-Pathos zurückgehen. Es ist aber mehr als nur ein rhetorischer Effekt. Ernst TollerToller, Ernst hat das später in seiner Autobiografie Eine Jugend in DeutschlandEine


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