Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

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Eigentümer des Stücks förderten tatsächlich das maschinengeschriebene Originalmanuskript mit geringfügigen handschriftlichen Korrekturen zu Tage, dessen Entstehung Brandys mit dem Jahr 1947 angibt. Der Text von Csokors Medea postbellica wurde von mir im Musil-Forum 2005/2006 erstmals veröffentlicht.

      Franz Theodor Csokor wurde am 6. September 1885 in Wien geboren und starb dort am 5. Januar 1969.2 Nach dem Studium der Kunstgeschichte und Germanistik war er kurze Zeit als Dramaturg in St. Petersburg tätig. 1915 wurde er einberufen, von 1916 an war er Mitarbeiter im Pressebüro des k.u.k.-Kriegsarchivs. 1933 wurden seine Bücher von den Nazis indiziert, 1938 emigrierte er. Nach Aufenthalten in Polen – mit der polnischen Literatur verband ihn ein besonderes Verhältnis, er übersetzte unter anderem die Ungöttliche KomödieUngöttliche Komödie von Zygmunt KrasińskiKrasiński, Zygmunt, die 1946 in Wien uraufgeführt wurde –, Rumänien und Jugoslawien gelangte er 1944 nach Rom. Nach dem Krieg kehrte er nach Wien zurück und wurde 1947 zum Präsidenten des österreichischen PEN-Clubs gewählt. Neben Prosa, Gedichten, Hörspielen, Essays und Übersetzungen verfasste Csokor vor allem Dramen und gilt bis heute als wichtiger Vertreter des österreichischen ExpressionismusExpressionismus. Zu seinen Werken zählen die Dramen Hildebrands Heimkehr (1905), Die Sünde wider den Geist (1918), Der Baum der Erkenntnis (1919), Ballade von der Stadt (1928), Gesellschaft der Menschenrechte (1929), Besetztes Gebiet (1930), Gottes General (1939), Die Kaiser zwischen den Zeiten (1965) und Alexander (1969). Noch 1994 beklagte die polnische Germanistin und Csokor-Expertin Brygida Brandys das mangelnde Interesse an Csokors Werk seitens der Literaturwissenschaft,3 obwohl der Autor „für viele in Österreich wie im Ausland schon zu Lebzeiten ein Klassiker“4 geworden war.5 Primus-Heinz Kucher sprach vom „vergessenen Expressionisten“6 CsokorCsokor, Franz Theodor. Nicht das gesamte, sehr umfassende und keineswegs vollständig veröffentlichte Werk Csokors sollte unter diesem literaturgeschichtlichen Label firmieren, sondern die „expressionistischenExpressionismus Filiationen“7 des Werks sollten gebührender wahrgenommen und gewürdigt werden.8 In der umfangreichen Epochenmonografie Geschichte der literarischen Moderne (München 2004) taucht der Name Csokor gar nicht mehr auf.9 Dass Robert MusilMusil, Robert für Csokor einer der wichtigen österreichischen Autoren der ModerneModerne darstellte, sei der Vollständigkeit halber erwähnt. Immerhin arbeiteten beide auch einige Zeit gemeinsam im österreichsichen PEN zusammen. Musils Achtung für den Kollegen hielt sich aber in Grenzen. In seinem Tagebuch notiert er: „An einen zukünftigen Literärhistoriker : Mein Herr! Ich erwarte Sie. Denn bei der zunehmenden Entfernung von der älteren Literatur wird es unvermeidlich, daß ich auch wie Csokor … daran kommen“10. 1950 veröffentlichte Csokor eine Gedenkrede anlässlich von Robert Musils 80. Geburtstag.11

      Um Csokors Medea postbellicaMedea postbellica literaturgeschichtlich justieren zu können, seien nur einige wenige Aspekte einer LiteraturLiteraturgeschichte- und KulturgeschichteKulturgeschichte des Medea-Mythos benannt.12 Das literarhistorische Medea-Thema ist mit dem literatur- und kulturgeschichtlichen Thema über den Kindsmord verknüpft. Bisher las die germanistische LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft das Kindsmord-Thema als Gegenstand stoff- und motivgeschichtlicher Untersuchungen,13 sozialgeschichtlicheSozialgeschichte und kulturwissenschaftlich interessierte Studien in der Literaturwissenschaft waren die Ausnahme,14 während die Rechtsgeschichte schon vor Jahrzehnten ein Standardwerk vorgelegt hatte,15 und die geschichtswissenschaftliche Forschung zu diesem Thema in den vergangenen Jahrzehnten erheblich zugenommen hat16. In dieser Verknüpfung spiegelt sich ein kulturwissenschaftlicher Ansatz, der auf die Verschränkung von LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte und KulturgeschichteKulturgeschichte abzielt und zu folgenden drei Ergebnissen einer Engführung von Medea-Texten und Kindsmordthema in der Literatur gelangt. Erstens, das Schreiben und Veröffentlichen über Kindsmord reagiert nicht allein auf die historisch-sozialen Fakten, sondern treibt das Bewusstsein für die soziale Realität dieser Fakten erst hervor. Die zunehmende Literarisierung des Medea-Themas (im Sinne des Kindsmord-Themas) schafft eine zunehmende gesellschaftlich-öffentliche Sensibilisierung. Einen Höhepunkt dieses Prozesses können wir in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts feststellen. Den Autoren gelingt das, was von der Literatur nur in den wenigsten Momenten erwartet werden kann, sie schaffen die Wahrnehmung für ein Thema, dessen sich schnell andere Rationalitätsformen der Wissenschaft wie der Medizin, der Anthropologie, der Theologie, der Moralphilosophie, der Lexikografie, der Historiografie und der Jurisprudenz extensiv annehmen. Die auffällige Zunahme unterschiedlichster Wissenschaftsinteressen an dem Medea-Thema ab der Mitte des 18. Jahrhunderts hat ihre Wurzel in seiner Literarisierung. Zweitens, in den Medea-Texten zeigen sich zudem spezifische kulturgeschichtlichekulturgeschichtlich Prägungen, welche die LiteraturLiteratur dokumentiert und die auch durch die Literatur produziert, distribuiert und transformiert werden können. Diese Prägungen sind beispielsweise darin zu erkennen, dass Medea für die Literatur keine geschichtliche Figur ist, sondern einen Kollektivsingular darstellt, der für Ängste und für Leidenschaften, für Fehlverhalten des Individuums und für Fehlverhalten der Gesellschaft steht und somit einen symbolischensymbolisch Nennwert erhält. Der Rückgriff der Literatur auf den Medea-Mythos und den damit verbundenen Namen Medea erklärt sich aus der Tatsache, dass Medea längst zu einem kulturgeschichtlichen Emblemkulturgeschichtliches Emblem avanciert ist. Drittens, ein weiterer Aspekt des mythologischen, literarischen Medea-Themas liegt darin, dass es auch dem Bild von der ledigen Dienstmagd als der typischen, nämlich klassischen Kindsmörderin deutlich widerspricht. Dies hat zum einen den Grund in der sozialen Intention, den nicht-adligen Schichten vor Augen zu führen, dass Kindsmord ein schichtenübergreifendes gesellschaftliches Problem darstellt, dessen Lösung freilich schichtendistinkt bleibt. Zum anderen greift die Exponierung des Kindsmordthemas in den europäischen Hochadel, wenn wir als solchen die mythologischen Dynastien bezeichnen wollen, auf die nach wie vor erfolgreiche poetologische Regel der Fallhöhe zurück. Medea ist nicht Dienstmagd, sondern Königstochter. Das bedeutet, dass nicht die Archivalien, also die historischen Quellen, vom Kindsmord in den Oberschichten berichten, sondern die Literatur. Eine Kulturgeschichte der Literatur untersucht die Bedeutung und Funktion von Literatur im kulturellen Prozess.17 Kulturgeschichte kann als ein gemeinsames Dialogfeld differenter Disziplinen verstanden werden‚ welche ihre jeweilige Sachkompetenz mit in diesen Dialog einbringen. In der literaturwissenschaftlichen Theoriediskussion wird über eine Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur auf der Basis sozialgeschichtlicherSozialgeschichte Theoriebildung und unter Einschluss eines textualistischen KulturverständnissesKultur diskutiert, wonach die kulturellen Praktiken und sozialen Gebrauchsweisen von Literatur berücksichtigt werden.

      „Würden Sie Ihrer Tochter den Namen ‚Medea‘ geben?“18 Diese Frage wirft Olga Rinne auf und macht damit deutlich, dass Medea bis heute ein äußerst zwiespältiger Name geblieben und unser Verhältnis zu ihr nicht minder ambivalent ist.19 „Medea nigra est“,20 zitiert der aufgeklärte Lexikograf KrünitzKrünitz, Johann Georg aus der Naturgeschichte des PliniusPlinius der Ältere. Und in der Tat, Medea ist schwarz, sie ist dunkel, undurchschaubar, ein Rätsel, geheimnisvoll und furchterregend gleichermaßen. Medea ist eine kulturelle Leitfigur, ein zivilisatorisches Emblem für fehlgeleitete weibliche Leidenschaft. Medea soll nach den Lexikografen HederichHederich, Benjamin (1724) und ZedlerZedler, Johann Heinrich (1732–54) auch

      „ein Muster einer unzüchtigen verlaufenen Weibes-Person seyn, welche um ihrer Geilheit ein Gnügen zu thun, Vater, Mutter und Vaterland verlassen und verrathen, alte Gecken zu ihrer Liebe gereitzet, und gleichsam zu jungen Leuten gemacht, allein auch zuletzt andere und sich selbst in das äuserste Elend gestürtzet“21.

      Zum Vorwurf der Heimatflucht tritt der Hochverrat, der Verdacht des Teuflischen, die Angst vor der Frau als der Unheil- und Unglücksbringerin. Das Misogyne der antiken Berichte und antiken Medea-Darstellungen setzt sich so bis in die einflussreiche lexikografische Darstellung der Neuzeit hinein fort. Viele Artikel aus HederichHederich, Benjamins Lexikon haben maßgeblich das mythologische Wissen des 18. und 19. Jahrhunderts geprägt. GoetheGoethe, Johann Wolfgang, SchillerSchiller, Friedrich, KleistKleist, Heinrich von und viele andere Schriftsteller, darunter auch GrillparzerGrillparzer, Franz, haben mit diesem Lexikon gearbeitet und daraus ihr mythologisches Wissen bezogen. Es ist die Leidenschaft der Frau, welche die Autoren fasziniert und gleichermaßen irritiert. In seinem Versuch über das deutsche SingspielVersuch über das deutsche Singspiel (1775)


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