Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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der Perspektive drückt sich auch in jenem „Wissen“ aus, von dem Die Instanz spricht, das ist demnach ein Wissen, das das „Lebensbild“ des lyrischen Ichs „[z]uschauerhaft mit gönnerischem Nicken“ (E, S. 56) betrachtet. Dieses Wissen, das womöglich mit dem Spiegelbild des dicken Mannes gleichzusetzen ist, schafft Selbstbewusstsein und äußert sich in einem grenzenlosen lyrischen Sprechen und Reflektieren.

      Werfels Gedicht Das Grab der Bürgerin (vgl. E, S. 38) ist Max BrodBrod, Max gewidmet. Damit sucht der Autor den Anschluss im literarischen Feld des Prager Kreises. Auch Franz KafkaKafka, Franz kannte ja das eine und andere Gedicht, das WerfelWerfel, Franz vorgelesen hatte.

      Auch in der Ode (vgl. E, S. 79f.) rekurriert der Autor auf dieses Selbstverständnis. Der „hinfällige Mensch“ (E, S. 79) würde sich selbst gebären, heißt es einleitend in der ersten Strophe, um gleich in der zweiten Strophe die Draperie des lyrisches Ichs zu beanspruchen, das von sich selbst anschließend proklamiert: „Und mein Geist ist eine einzige / Riesenempfindung“ (E, S. 79). Es attestiert sich einen „seraphischen Gleichmut“ (E, S. 80), um abschließend festzustellen:

      „Noch bin ich Wesen

      Noch bin ich Person!

      Schon naht die schmerzliche Stunde.“ (E, S. 80)

      Damit kann die Geburt als Akt der Selbstgebärung des selbstbewussten andersdenkenden Dichters gemeint sein, denn sprachlich nimmt das Ende der Ode den Anfang wieder auf, der Kreis des Lebens ist geschlossen und doch zugleich in eine neue Perspektive aufgebrochen.

      Das Gedicht Wo ist … beklagt den Verlust der Kindheit nun mit der admirativen Interjektion ‚o‘, während noch der Kindersonntagsausflug drei Mal mit ‚oh‘ wehklagt (vgl. E, S. 15). Ist dies Versehen, Unachtsamkeit, Unwissenheit oder ist dies absichtsvoll gesetzt? Die klagende Grundstimmung wird schon durch das Heimweh evoziert:

      „Ich habe Heimweh.

      O Reste, Ueberbleibsel! o vergangene Vergangenheit!

      Wie nach der Kindheit Heimweh,

      Wie nach dem hohen Kindersessel Heimweh,

      Wie nach vergessenen Personen Heimweh.“ (E, S. 20)

      Das lyrische Ich in Der dicke Mann im Spiegel weist seine Identität „tieferschrocken“ (E, S. 22 = G, S. 19) zurück. Es will nicht glauben, dass sein Spiegelbild tatsächlich sein Spiegelbild ist, muss aber am Ende akzeptieren, dass die Kindheit vorüber ist und der erwachsene Mann, der aus dem Spiegel schaut, auch die Identität verbürgt. Er tritt sogar symbolischsymbolisch aus dem Spiegel und okkupiert das Ich, es vollzieht sich gleichsam eine symbiotische Vereinigung, die eine Differenz von Ich und Nicht-Ich nicht mehr zulässt.

      In dem Gedicht Der tote Freund beklagt das lyrische Ich drei Mal den Augenblick, das Glück und die Vergänglichkeit seiner selbst (vgl. E, S. 32). Das Kronprinzenlied (vgl. E, S. 36f.) beklagt in einem einzigen ‚oh‘ die phantasierte Traurigkeit der Eltern über den phantasierten Selbstmord. In Gottvater am Abend lässt Werfel Gott „o schmerzliches Heute!“ (E, S. 42) ausrufen, was eher eine Klage ist als ein Ausdruck der Verwunderung oder gar Bewunderung.

      Im Gedicht An den Leser heißt der erste Vers: „Mein einziger Wunsch ist, Dir, oh Mensch, verwandt zu sein!“ (G, S. 17) Im Erstdruck lautet diese Zeile:

      „Mein einziger Wunsch ist, Dir, o Mensch, verwandt zu sein!

      Bist du Neger, Akrobat, oder ruhst Du noch in tiefer Mutterhut,

      […]

      Mein Mensch, wenn ich Erinnerung singe,

      Sei nicht hart und löse Dich mit mir in Tränen auf!

      Denn ich habe alle Schicksale durchgemacht. […]

      So gehöre ich Dir und Allen!

      Wolle mir, bitte, nicht widerstehn!

      O, könnte es einmal geschehn,

      Daß wir uns, Bruder, in die Arme fallen!“ (E, S. 110)

      Auch hier wird die Interjektion verändert, in G heißt die vorletzte Zeile „Oh, könnte es einmal geschehn,“ (G, S. 17). Werfels Programm des WeltfreundsDer Weltfreund wird in diesem letzten Gedicht des Bandes deutlich, wenn er darin schreibt, „mein Spruch“ lautet: „O Mensch, ich bin Dir gut!“ (E, S. 112) Er, der Autor, ist der Welt Freund, das besagt der Titel Weltfreund. Das ist nicht der gute Mensch oder das Postulat eines neuen Menschen, sondern mehr noch, es ist eine ethische Grundhaltung des Gutseins und das schließt ein Guthandeln mit ein. Man kann dies geschichtlich auch als eine Vorkriegserfahrung bewerten, die noch an das Gute im Menschen glauben lässt. Entscheidend ist, dass das lyrische Ich, das wegen seines Bekenntnischarakters als Autor-Ich identifiziert werden kann, die gutmeinende Hinwendung zum Menschen für sich beansprucht. Mit Blick auf die Bedeutung der Interjektion erklärt sich nun, weshalb das ‚o‘ fast durchgängig im Weltfreund als ein Ausdruck der Bewunderung auftritt. Davon bleibt nach der Erfahrung zweier Weltkriege, der abenteuerlichen Flucht und der Situation im amerikanischen Exil bei WerfelWerfel, Franz schließlich nur das ‚oh‘ als Ausdruck der Klage und des Kummers übrig.

      In seinem Buch MimologikenMimologiken spricht Gérard GenetteGenette, Gérard von einem Kratylien, das den Aufenthaltsort des mimologischen Diskurses meint. Genette definiert, ein Kratylismus ist „unter anderem eine Nachahmung, in einem anderen Sinn: ein ‚nach Art des Kratylos‘, auch noch bei demjenigen, der von der Existenz des Ausgangstextes keine Ahnung hat […]“85. Dieser Rückgriff auf den platonischenPlaton Dialog des KratylosKratylos bildet auch das Gerüst für Genettes sprachgeschichtlichen Ausführungen. In dem Kapitel über Charles NodiersNodier, Charles Dictionnaire raisonné des onomatopées françaises (1808) und die Notions élémentaires de linguistique (1834), das Genette mit Onomatopoetik überschreibt, zitiert er aus Nodiers Notions: „das O, das sich unter der Feder rundet, wie sie sich im Augenblick seiner Emission runden, […] sehr rationale Zeichen, weil sie ausdrucksvoll und malerisch sind“86. Genette kommentiert: „Die Funktion des Buchstabens ist hier nicht die Mimesis außersprachlicher Gegenstände, sondern vielmehr des Stimmlauts, selbst wenn man dabei über die Darstellung eines Gegenstandes gehen muß, der einen analogen Klang hervorbringt. Der BuchstabeBuchstaben ist eine indirekte Hieroglyphe des Klangs“87. Genette zitiert weiter Nodier, dass im Französischen der Laut ‚o‘ „auf dreiundvierzig Weisen dargestellt [wird], und es ist sehr gut möglich, daß ich dabei einige vergesse“88. Das ist eine Perspektive jenseits der gängigen Linguistik. Und genau dies ist der Anknüpfungspunkt für eine Lektüre des WeltfreundsDer Weltfreund. Das Wort, welches die Bedeutung der Interjektionen ‚o‘ und ‚oh‘ zum Ausdruck bringt, enthält selbst vier Mal das ‚o‘, die Onomatopoetik. Die poetologische BedeutungBedeutung dieses Interjektionsgebrauchs bei Werfel liegt also in seiner mimetischen FunktionFunktion. Damit wird der Weltfreund in diesem Sinne zu einem kratylischen Text, der einer ganzen literaturgeschichtlichen Epoche als Matrix expressionistischenExpressionismus Sprechens dient. Und ein fernes Echo findet sich in Bodo KirchhoffsKirchhoff, Bodo autobiografischem Roman Dämmer und AufruhrDämmer und Aufruhr (2018). Als kleiner Junge habe er eine körperliche Erfahrung mit dem „Buchstaben O“ gemacht, als er neben seiner, eine Schauspielrolle memorierenden, Mutter sitzt, „das mütterlich Rückwärtige mit dem Spalt in der Mitte, darin noch immer ein Geheimnis“, sie hat das Rollenheft auf ihren Knien, „in der Hand einen kleinen grünen Bleistift zum Anstreichen ihrer Sätze, dazu Gemurmel und auch leises Lachen. Der Stift gehört zu dem Heft, als gäbe es nur den einen, […] ein Instrument, wie gemacht, um damit vorzudringen in das Geheime, dorthin, wo er herzukommen glaubt. Also erkundet er das Dunkel damit, ohne dass ihm Einhalt geboten wird. Er hat freie Hand bei seinem Tun und entdeckt, noch vor jedem Wissen um die Schrift, etwas nahezu Kreisförmiges, in das er den Stift senkt, seinen Buchstaben O.“89 Das ist ein kratylischer Ursprungsmythos, der aus männlicher Sicht das O zum ewigen Geheimnis erklärt.

      Franz Theodor CsokorCsokor, Franz Theodor Medea postbellicaMedea postbellica (1947)

      Franz Theodor CsokorsCsokor, Franz


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