Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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Dieses beschworene und besungene, oft aber auch als nicht vorhanden beklagte Gemeinschaftsgefühl wird ein konstitutives Merkmal expressionistischerExpressionismus Lyrik. Gerade angesichts der sozialen Entfremdung durch Industrialisierung, Ersten Weltkrieg und entsprechende Großstadterlebnisse mit Lärm, Verkehr, gigantischen Bauten und sozialer Kälte bekommt diese Beschwörung des Gemeinschaftsgefühls den Charakter eines letzten Aufrufs an die Vernunft des Menschen im Zeichen der Moderne.

      Aus dem Weltfreund hat Werfel in E nur neun Gedichte übernommen. Diese Auswahl empfand er offenbar als repräsentativ für seinen lyrischen Beginn und wollte sie in der Auswahl letzter Hand bewahrt wissen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende in G in dieser Reihenfolge aufgenommenen Gedichttitel: 1.) Ich, nur ich (in E unter dem Titel: Der Dichter; der Text ist als ein Motto vorangestellt; vgl. E, S. 90), 2.) An den Leser, 3.) Der dicke Mann im Spiegel, 4.) Morgengesang eines Lumpen (in E unter dem Titel: Solo des zarten Lumpen; vgl. E, S. 81), 5.) Der Getreue, 6.) Nächtliche Kahnfahrt (in G mit dem geringfügig erweiterten Titel Nächtliche Kahnfahrt und Erinnerung), 7.) Der schöne strahlende Mensch, 8.) Wanderlied, 9.) Ich habe eine gute Tat getan. Der WeltfreundDer Weltfreund ist aufgeteilt in die Gliederungsschemata, die nur schwer als Kapitel zu bezeichnen sind, Kindheit, Rührung und vermischte Gedichte (vgl. E, S. [5]-52), diese Überschrift fehlt allerdings, im Gegensatz zu den beiden anderen, im Inhaltsverzeichnis (vgl. E, S. 114), Bewegungen (vgl. E, S. [53]-73) und Erweiterung, der Weltfreund (vgl. E, S. 7[5]-113). Insgesamt enthält der Gedichtband Weltfreund 68 einzelne Gedichte.

      1946 wählt WerfelWerfel, Franz einige seiner Gedichte für den Band Gedichte aus den Jahren 1908–1945 aus, der als Privatdruck der Pazifischen Presse 1946 in Los Angeles erscheint. Werfel erleidet während der Arbeit an diesem Band einen Herztod. Seine Witwe Alma Mahler-WerfelMahler-Werfel, Alma schreibt dazu:

      „Ich übergebe diesen Band Gedichte der Öffentlichkeit mit dem tiefen Wissen, daß sie ein wesentlicher Teil des unsterblichen Werkes von Franz Werfel sind. Er hat in den letzten Monaten seines Lebens aus seinen Gedichten diejenigen ausgewählt, die ihm die schönsten dünkten, und bis zum allerletzten Augenblick an dieser Auswahl gearbeitet – immer wieder gefeilt – und neue Dichtungen für dieses Buch, das ihm sehr am Herzen lag, geschaffen.“ (G, S. 216)

      Nach dem Neudruck dieser Ausgabe letzter Hand (1946) von 1992 zitiere ich im Folgenden Werfels Gedichte. Das Gedicht Der Dichter (vgl. E, S. 90) verwendet Werfel in der Ausgabe letzter Hand (1946) als Motto, das er nun der Auswahl voranstellt. Es beginnt mit den Versen: „Ich, nur ich bin wie Glas / Durch mich schleudert die Welt ihr schäumendes Uebermaß“ (n.p. [= S. 15]). Das ist Werfels unmissverständliches autopoetologisches Postulat. Dieses postulierte „Ich, nur ich“ erinnert an die Exklusivitätsformel, die auch der junge GoetheGoethe, Johann Wolfgang in Anspruch nimmt. „Ich! Der ich mir alles bin, da ich alles nur durch mich kenne!“81, schreibt er nach einer knappen Einleitung zu Beginn seines Essays Zum Schäkespears TagZum Schäkespears Tag vom September 1771 und setzt damit eine Art Individualitätsmarke. Dieser Text gilt als einer der Initialtexte der Literatur des Sturm und DrangSturm und Drang. Dieses literarisch-autonome Selbstbewusstsein zitiert auch der junge Werfel. Explizit wird dies darüber hinaus in dem Gedicht Die Freundlichen deutlich, worin fünf Figuren auftreten, ein Liebender, ein alter Herr, die hübsche junge Dame, ein alter Dichter und der gute Geist (bestimmter und unbestimmter Artikel der Figuren nach dem Wortlaut des Gedichts); es heißt darin, und WerfelWerfel, Franz lässt diese Worte einen alten Dichter sprechen:

      „Eh ihr in die starre Kühle

      Losgelösten Daseins steigt,

      Fördert eure Selbstgefühle

      Gegenseitig euch geneigt!

      Seid ihr eignen Werts bewußt,

      Müßt ihr richtig überfließen

      Denn ihr könnt die ganze Lust

      Euch durchwandelnd erst genießen.“ (E, S. 40f.)

      Fast schon als Zitat taucht diese kulturgeschichtlichekulturgeschichtlich Individualitätsformel im Gedicht Selbstgespräch wieder auf. Dort sagt das Ich: „Ich! will!“ (E, S. 58) Kaum verwunderlich ist es, dass sich daran das Sonett Große Oper anschließt, in dem zwei Mal die Interjektion ‚o‘ als Sehnsuchtswort eines phantasierten Dirigats des lyrischen Ichs verwendet wird. Werfels Autopoetik verschafft sich auch im Gedicht Der Patriarch Gehör. Das Ich phantasiert sich nun als einen Patriarchen, der gebieten kann und dessen Worten gefolgt wird:

      „Woher und wann ich kam, o Bardenlied, doch mein Besuch

      Heilt Kranke, meine Stimme schallt, die Seenot abzuwehren.

      Göttlich erglänzt mir Stirn und Bart. Das Volk wird beide ehren,

      In fernem Angedenken segnend Tat und Spruch.“ (E, S. 71)

      Werfels Individualitätsmarke ist programmatisch, allerdings genügen nicht alle Gedichte des Weltfreunds diesem Anspruch. Man muss die Spreu der Gelegenheitsgedichte und der Gedichte im konventionellen Ton vom Weizen jener Gedichte, die den neuen Ton expressionistischerExpressionismus Selbstgewissheit beanspruchen, trennen.

      Im Gedicht Verwandlungen wird die Interjektion ‚oh’ unmissverständlich mit dem „Schmerz“ (E, S. 78) verknüpft, der die Ursache aller Gefühle und „Urgott“ (E, S. 78) sei. „Oh, dann wirf Dich in die eigene Flamme!“ (E, S. 78), klagt der Autor. Dass es sich bei diesem Schmerz ausschließlich um Seelenpein handelt, geht aus dem Gedicht selbst hervor.

      Das Gedicht Solo des zarten Lumpen, das in G den Titel trägt Morgengesang eines Lumpen (vgl. G, S. 20f.), weist nur eine kleine Textänderung gegenüber dem Erstdruck auf. In der dritten Strophe heißt es in E: „Heiraten wirst du bald, wirst Mutter werden!“ (E, S. 81), während in G zu lesen ist: „Du wirst ein Weib sein, du wirst Mutter werden“ (G, S. 20). WerfelWerfel, Franz hat also in der Ausgabe letzter Hand (G) an dieser Stelle in den Text eingegriffen, vielleicht war ihm die ursprüngliche Formulierung zu süßlich? Das lyrische Ich ist hier der vagabundierende Solist, hinter dem sich unschwer der junge Autor verbirgt.

      Die Bedeutung der admirativen Interjektion ‚o‘ geht eindeutig in diesem Ausruf der Dampferfahrt im Vorfrühling hervor: „O heldischer Kampf am Himmel!“ (E, S. 85), und „O Tanzlokale am Ufer, o Brüder, o Dampfer“ (E, S. 86), um gleich im darauf folgenden Gedicht Der schöne strahlende Mensch, das in G übernommen wurde (vgl. G, S. 20f.), durch die Wehklage der Interjektion ‚oh‘ abgelöst zu werden: „Oh Erde, Abend, Glück, oh auf der Welt sein!!“ (E, S. 87). Dieses ‚oh‘, das also in G erhalten bleibt, kombiniert mit den doppelten Ausrufezeichen, zitiert vielleicht (zumindest aus der Rückschau) ironisch die postromantische Weltschmerzlyrik.

      Mit dem Gedicht Der Weltfreund singt nimmt Werfel das Titelwort seines Debütbandes wieder auf. Insgesamt variiert er diesen Weltfreund noch drei weitere Male mit den Gedichten Der Weltfreund, hoher Vollendung zuschreitend – hier ist besonders die Verwendung des Partizip Präsens Aktiv signifikant, da es die Prozesshaftigkeit und Augenblicklichkeit der sukzessiv zu erreichenden Vollendung des Weltfreund-Dichters unterstreicht, was kulturgeschichtlichkulturgeschichtlich die Wiederaufnahme des aufgeklärten Perfektibilitätsgedankens des 18. Jahrhunderts bedeutet. Ferner in Der kriegerische Weltfreund (E, S. 103) und Der alte Weltfreund (E, S. 108).Expressionismus82 Die Gedichte dieses dritten Teils sind immerhin auch unter die Überschrift gestellt Erweiterung, der Weltfreund (vgl. E, u.p. [= S. 75]). In Der Weltfreund singt kombiniert Werfel zudem die Schmerzklage mit der Lustbewunderung, wobei die letztere siegt: „O Lust ist schön, und Schmerz, sei hochverehrt!“ (E, S. 88). Zumindest in diesem Gedicht ist die Entscheidung zwischen ‚o‘ und ‚oh‘ gefallen. Bemerkenswert ist außerdem, dass Werfel in diesem Gedichttext ein Wort gebraucht, das sich mutmaßlich aus dem Tschechischen herleitet, „Gluthvânz!“ (E, S. 88, das ‚â‘ ist im Druck durch eine lateinische Letter hervorgehoben), das der Dichter als „bedauernswert“ bezeichnet und das zumindest wiederum die Kontextualisierung mit dem Umfeld des Prager Kreises erlaubt.83

      Die


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